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PARTEIEN/394: Brexit - Gedanken zur Unterhauswahl ... (SB)


Brexit - Gedanken zur Unterhauswahl ...


Neun Tage vor der Unterhauswahl im Vereinigten Königreich sind sich die Demoskopen uneins. Die eine Gruppe sieht die Konservativen mit 43 Prozent Wählerzuspruch deutlich vor der oppositionellen Labour Party mit rund 30 Prozent und Premierminister Boris Johnson damit auf dem Weg zu einer ordentlichen Parlamentsmehrheit von rund 60 der insgesamt 650 Sitze, mit der er den versprochenen EU-Austritt endlich durchboxen kann. Die andere Gruppe verweist auf die ungewöhnlich hohe Zahl der neuen Wählerregistrierungen, in der Mehrzahl junge Leute, und glaubt daher, daß die Sozialdemokraten langsam aber stetig aufholen. Ob deshalb nach dem Urnengang am 12. Dezember Labour-Chef Jeremy Corbyn eine Minderheitsregierung mit den Stimmen der schottischen Nationalisten und eventuell der Grünen bilden könnte, muß sich zeigen.

Fest steht jedenfalls, daß sich im Wahlkampf der von den meisten Medien als altbackener Politgreis, der am liebsten Gemüse in seinem Schrebergarten züchtet, belächelte Corbyn bisher deutlich über Wert verkaufen konnte. Aus dem ersten Fernsehduell am 19. November ging Corbyn nach Meinung der meisten Kommentatoren als Sieger hervor, weil er sachlich geblieben war und Johnson, der nicht viel mehr als sein Dauerversprechen "Brexit endlich erledigen" von sich gab, das Herumschwadronieren überließ. Mit ihrem Wahlmanifest kehren die Sozialdemokraten der Austeritätspolitik den Rücken, die seit der Bildung einer Regierungskoalition der Konservativen mit den Liberaldemokraten 2010 massive Löcher in das soziale Netz des Vereinigten Königreichs gerissen hat. Labour will unter anderem Bahnwesen und Wasserversorgung wieder verstaatlichen, Studiengebühren abschaffen und jeden Haushalt mit einer kostenlosen Breitbandverbindung ins Internet versehen.

Überschattet wurde die Bekanntgabe von Labours Wahlmanifest am 26. November durch einen aufsehenerregenden Leitartikel am Vortag in der Times of London, in dem Ephraim Mirvis, der Oberrabbiner von Großbritannien, das Szenario einer Corbyn-Regierung mit einem Aus für das britische Judentum gleichsetzte. Die hysterische Breitseite des bekennenden Tory Mirvis gegen Corbyn stellt den bisherigen Höhepunkt einer beispiellosen Kampagne der Freunde Israels gegen einen britischen Berufspolitiker dar. Die Zionisten laufen gegen die Vorstellung eines Premierminister Corbyn in 10 Downing Street deshalb Sturm, weil sich die Galionsfigur der sozialdemokratischen Linken seit mehr als 30 Jahren für das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat stark macht und gegen westliche Militärinterventionen im Nahen Osten ausspricht. Aus nämlichen Grund und weil er den Einsatz von Atomwaffen prinzipiell ablehnt, hat es seit dem überraschenden Aufstieg Corbyns zum Labour-Chef vor drei Jahren offene Putsch-Drohungen seitens der britischen Generalität für den Fall einer von ihm geführten Regierung gegeben.

Vor wenigen Monaten hat sogar Donald Trumps Außenminister Mike Pompeo öffentlich die Idee amerikanischer Gegenmaßnahmen ventiliert, um den Einzug Corbyns in 10 Downing Street zu verhindern. Der Umstand, daß es daraufhin keinen großen Aufschrei der Empörung über den angedrohten Eingriff der USA in die britischen Demokratie gab, spricht Bände. In diesem Zusammenhang ist auch die "Enthüllung" des Daily Telegraph vom 3. Dezember zu sehen, derzufolge die Geheimdokumente, die Corbyn vor einer Woche der Öffentlichkeit präsentierte und die belegen, daß London längst mit Washington die Verhandlungen über den Ausverkauf des staatlichen britischen Gesundheitssystems an amerikanische Großkonzerne in der Zeit nach dem Brexit eröffnet hat, aus dubiosen "russischen" Quellen stammen. Somit wird Corbyn quasi zum Handlanger von Wladimir Putin hochstilisiert.

Die hyperkritische Haltung der Konzernmedien Corbyn gegenüber steht im krassen Widerspruch zu der schonenden Behandlung, die dem Luftikus Johnson trotz oder gerade wegen seiner Lügen zuteil wird. Der ehemalige Bürgmeister von London kann den größten Unsinn wie etwa sein Versprechen, 40 neue Krankenhäuser zu bauen und 50.000 Krankenschwestern einzustellen, von sich geben, doch weil er dies mit der Haltung eines zum Regieren geborenen Halbadligen tut, lassen ihm die Berichterstatter, an vorderster Stelle Laura Kuenssberg, die politische Chefkorrespondentin der BBC, nicht nur alles durchgehen, sondern twittern die irreführenden Sprechblasen des Premierministers in die digitale Sphäre weiter. Die BBC hat Johnson zuliebe sogar beim eigenen Onlineportal sowie bei YouTube die Stelle seines Auftritts in der Diskussionssendung Question Time zensiert, wo er behauptete, niemals gelogen zu haben, und das Studiopublikum daraufhin spontan in schallendes Gelächter ausbrach. Als daraufhin in den sozialen Medien eine Protestwelle einsetzte, mußte sich die BBC-Redaktionsleitung öffentlich entschuldigen und die Tonspur wieder um die fehlende Heiterkeit ergänzen.

Auch an anderer Stelle beugt sich die BBC dem Willen der Konservativen. Ihr wichtigster, weil scharfzüngigster Politmoderator ist Andrew Neill, der ehemalige Chefredakteur der Sunday Times. Die BBC hat Corbyn und Nicola Sturgeon zu getrennten, halbstündigen "Verhören" mit Neill mittels der Garantie überredet, daß sich auch Johnson der schmerzhaften Prozedur unterzieht. Aus beiden Fernsehinterviews zur besten abendlichen Sendezeit gingen die Vorsitzenden von Labour und der SNP mit Blessuren davon. Wie nicht anders zu erwarten hat Johnson seinen Teil der Abmachung - sofern es überhaupt eine gab - nicht eingehalten. Deswegen hat die BBC zunächst die Leitlinie herausgegeben, die Anstalt werde keine Interviews mehr mit dem Tory-Vorsitzendenr ausstrahlen, bis sich dieser den Fragen Andrew Neills stellt.

Doch dann kam es am 29. November im Herzen Londons zum Amoklauf des polizeibekannten Islamisten Usman Khan, der zwei Menschen erstechen konnte, bevor die Polizei ihn erschoß. Wegen des "öffentlichen Interesses" der britischen Bürger, die Stellungnahme ihres Premierministers zu dem schockierenden "Terroranschlag" zu hören, hat die BBC das Interviewverbot für Johnson doch noch aufgehoben und ihm gestattet, am Sonntagmittag eine Stunde lang die Andrew Marr Show in eine Wahlkampfplattform zu verwandeln. Gegen den ausdrücklichen Wunsch der Familien der beiden Opfer, daß der Tod ihrer Angehörigen nicht zu Wahlkampfzwecken instrumentalisiert werde, hat Johnson genau dies getan. Ohne jegliche Scham versuchte er die Labour-Partei, die seit 2010 in der Opposition ist, dafür verantwortlich zu machen, daß der 2012 wegen Vorbereitung eines "Terroranschlags" verurteilte Khan 2018 vorzeitig auf Kaution freigelassen worden war. Johnson verstieg sich sogar zu der Behauptung, ein Wahlsieg der Sozialdemokraten wäre eine akute Bedrohung der nationalen Sicherheit Großbritanniens, denn Corbyn wolle den Inlandsgeheimdienst MI5 abschaffen - was absoluter Nonsens ist. Leider gibt es in Großbritannien Millionen von Menschen, die diesen Humbug bereitwillig und ohne allzuviel Nachdenken glauben werden.

3. Dezember 2019


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