Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → REDAKTION


PARTEIEN/400: London - mit wachsender Fahrt in den gesellschaftlichen Crash ... (SB)


London - mit wachsender Fahrt in den gesellschaftlichen Crash ...


In Großbritannien wütet das neuartige Corona-Virus weiterhin besonders heftig. Den jüngsten offiziellen Zahlen zufolge haben sich dort 165.221 Menschen mit dem Covid-19-Erreger infiziert; die Zahl der Todesopfer der Lungenkrankeit liegt bei 26.097. Unabhängige Experten halten die Mortalitätsstatistik aus London für zu niedrig, weil viele Corona-Todesfälle in der eigenen Wohnung oder im Altenheim nicht amtlich registriert werden. Nach Auswertung aller verfügbaren Daten schätzt die Financial Times die Zahl der Todesopfer der Lungenkrankheit im Vereinigten Königreich auf mehr als 46.000. Man geht davon aus, daß Großbritannien demnächst Italien - aktuell 27.682 Corona-Tote - überholen und zum europäischen Land mit den meisten Verstorbenen infolge einer Infektion mit SARS-Cov2 wird. Vor dem Vereinigten Königreich dürften dann nur die USA - derzeit 62.175 Tote und 1.068.650 Infizierte - liegen.

Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, welche die Regierung in Großbritannien mindestens eine Woche später als in den Nachbarstaaten verhängt hat, haben eine schwere Wirtschaftskrise nach sich gezogen. Die ökonomische Aktivität ist um mehr als 35 Prozent zurückgegangen; das National Institute of Economic and Social Research (NIESR) geht für 2020 von einem Schrumpfen des Bruttoinlandprodukts von 7,5 Prozent und bis Ende des Jahres von einer Arbeitslosenquote von mehr als 10 Prozent aus. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Management von British Airways hat am 29. April die Entlassung von 12.000 Beschäftigten - einem Drittel der Belegschaft - angekündigt.

In Politik und Medien Großbritanniens ist die Suche nach den Schuldigen für die nationale Katastrophe längst in vollem Gange mit Gesundheitsminister Matt Hancock in der Rolle des potentiellen Sündenbocks. Die Demission des glücklosen, für seine hölzernen Auftritte bekannten Hancock erscheint angesichts der unübersehbaren Mängel im britischen Gesundheitssytem nur noch eine Frage der Zeit zu sein, allen voran das massive Fehlen an Schutzkleidung und Atemschutzmasken für Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, von denen mindestens 100 gestorben sind. Hancock gilt als politisch beschädigt, seit sich sein Versprechen, bis Ende April täglich landesweit 100.000 Corona-Tests durchführen zu lassen, als hohl erwiesen hat. Zuletzt lag die Testrate für Großbritannien bei etwas mehr als 50.000 am Tag. Der Todesstoß für die politische Karriere Hancocks dürfte die Enthüllung der BBC in der am 28. April ausgestrahlten Sendung "Has the government failed the NHS?" (National Health Service - Anm. d. SB-Red.) gewesen sein, daß die Behauptung des Ministers, die Regierung habe dem an der Covid-19-Front kämpfenden Krankenhauspersonal inzwischen mehr als eine Milliarde Stück Schutzkleidung zur Verfügung gestellt, ein Schwindel war. Die Hälfte des Materials bestand aus Gummihandschuhen, die nicht wie üblich paarweise, sondern einzeln gezählt wurden, um auf eine imposant klingende Zahl zu kommen.

Doch selbst wenn Hancock demnächst den Wölfen zum Fraß geworfen wird, sind die eigentlichen Schuldigen der ganzen Misere, Premierminister Boris Johnson und sein Chefberater Dominic Cummings, noch lange nicht aus dem Schneider. Beobachter gehen davon aus, daß das inkompetente Agieren der konservativen Regierung in der Anfangsphase der Corona-Krise Gegenstand der Arbeit einer großen parlamentarischen Untersuchungskommission wird. Anwälte der Angehörigen von Covid-19-Verstorbenen unter dem medizinischen Personal bereiten Zivilklagen wegen Versagens im Amt und Verstoßes gegen die Sorgfaltspflicht vor. Ob Johnson und Cummings die Aufarbeitung des Ausbruchs der Epidemie in Großbritannien politisch überleben ist fraglich, denn die Liste ihrer bereits jetzt bekannten Fehlgriffe und Versäumnisse ist lang.

Vernichtend ist der Bericht, den die Sunday Times am 19. April unter dem Stichwort "Coronavirus: 38 days when Britain sleepwalked into disaster" veröffentlicht hat. Daraus geht hervor, daß zwischen Ende Januar und Anfang März Johnson fünf Sitzungen des Krisenkabinetts COBRA zum Thema der heraufziehenden Pandemie, bei denen der Premierminister normalerweise den Vorsitz innehat und nur wegen ganz besonderer Umstände fehlen darf, schlicht aus Bequemlichkeit ferngeblieben ist. Statt dessen hat der 55jährige geschiedene Tory-Vorsitzende die fraglichen Wochenenden im luxuriösen Gästehaus der Regierung, dem Landschloß Chevening House in der Grafschaft Kent, mit seiner 32jährigen Verlobten Carrie Symonds verbracht. Im Bericht der Sunday Times wird ein Mitarbeiter Johnsons mit den Worten zitiert:

Wenn der Premierminister nicht da ist, dann kann man nicht mehr von Kriegsrat reden. Bei Boris stellte es sich heraus, daß er den Vorsitz der Beratungen anderen überlassen hat. Er wollte halt auf seine Ausflüge aufs Land nicht verzichten. Arbeiten am Wochenende kam für ihn nicht in Frage. Es war, als habe man es als Vorgesetzten mit einem altmodischen Kommunalverwaltungschef aus der Zeit vor 20 Jahren zu tun. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Krisenplanung einfach nicht sein Ding war.

Auch Cummings hat sich Eigenmächtigkeiten erlaubt, für die in der britischen Regierungsgeschichte jedes Beispiel fehlt. Von Cummings, der als genialer Stratege hinter der Kampagne für den Austritt Großbritanniens aus der EU 2016 sowie den grandiosen Sieg der Tories bei den Unterhauswahlen im vergangenen Dezember gilt, heißt es, er habe sich zu Beginn der Corona-Krise für die Herdenimmunität ausgesprochen und den Tod "einiger Rentner" als akzeptablen Preis bezeichnet. In Großbritannien besteht seit mehr als zehn Jahren eine Einrichtung namens Scientific Advisory Group for Emergencies. Die Beratungen der SAGE-Gruppe, die aus weltweit renommierten Akademikern, Ministern und ausgewählten Industriekapitänen besteht, soll frei von jeder parteipolitischen Beeinflussung sein. Deswegen dürfen Ministerialbeamte oder Regierungsberater den Sitzungen nur beiwohnen, wenn sie im Hintergrund bleiben und sich nicht in die laufende Diskussion einmischen.

Doch Cummings, der sich schon länger für das hellste Licht am Londoner Firmament hält, setzt sich über die bisherigen Regeln hinweg. Wie der Guardian am 24. April enthüllt hat, ist Cummings seit Anfang des Jahres nicht nur bei jeder SAGE-Sitzung dabeigewesen, sondern hat selbst regelmäßig das Wort ergriffen und die Beratungen in die von ihm gewünschte Richtung gelenkt. Bei den Autonomie-Regierungen in Belfast, Cardiff und Edinburgh hat die Enthüllung Empörung ausgelöst, da die jeweiligen Leiter der nordirischen, walisischen und schottischen Gesundheitsbehörden bei SAGE-Sitzungen zum Schweigen verdonnert sind und, wenn sie Fragen haben, diese 24 Stunden im Voraus schriftlich einreichen müssen.

Hinzu kommt, daß Cummings nicht der einziger Special Adviser bei den SAGE-Beratungen ist. An seiner Seite saß der Datenwissenschaftler Ben Warner, der Cummings seit dem Brexit und der Unterhauswahl in Sachen Demoskopie sowie Ausforschung und Beeinflussung der Bürger beraten hat. Interessant an Warner ist zudem, daß die Firma seines Bruders Marc namens Faculty und das Unternehmen Palantir des US-Milliardärs und Donald-Trump-Wahlkampfspenders Peter Thiel seit Anfang des Jahres einen lukrativen Auftrag erhalten haben, die Patientendaten des NHS mittels künstlicher Intelligenz auszuwerten, um der Corona-Krise Herr zu werden. Ein Schelm, der hier an Vetternwirtschaft oder die Verwertung von Daten des staatlichen Gesundheitssystems und dessen Patienten zur Profitmaximierung dubioser KI-Unternehmen denkt.

Ein besonderer Aspekt der Corona-Krise in Großbritannien, der für erhebliche Kontroversen gesorgt hat und weiterhin sorgen wird, ist das Versäumnis Londons, sich im Februar und März an einer konzertierten Aktion der EU zur Sicherung und zum Kauf größerer Mengen Schutzkleidung sowie Atemgeräte zu beteiligen. Über den Grund, warum sich London an der Initiative, die sicherlich das Leben nicht weniger Briten gerettet hätte, nicht beteiligte, haben sich in den letzten Tagen Gesundheitsminister Hancock und seine Beamten in heillose Widersprüche verwickelt. Die erste Schutzbehauptung, die entsprechende Einladung zur Teilnahme habe man in London zu spät erhalten, haben die Vertreter der EU in Brüssel rasch widerlegt. Es steht der begründete Verdacht im Raum, daß die Johnson-Regierung, die am 31. Januar den formellen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und die eigene Rolle bei dessen Vollendung groß gefeiert hat, aus ideologischen Gründen bei der pan-europäischen Aktion nicht dabei sein wollte, denn diese hätte der eigenen Vision vom "Global Britain", das wieder allein die restliche Welt erzittern läßt, widersprochen. Durch die Corona-Krise haben sich die Allmachtsphantasien der EU-feindlichen Brexiteers um Johnson und Cummings als pennälerhaftes Wunschdenken entpuppt.

30. April 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang