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PARTEIEN/404: Brexit - am Horizont die bösen Folgen ... (SB)


Brexit - am Horizont die bösen Folgen ...


Bei den Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU über ihre künftigen Beziehungen laufen die Gespräche miserabel. Nach einer vierten Runde der coronabedingt per Telekonferenz geführten Gespräche erklärte am 5. Juni der französische EU-Chefunterhändler Michel Barnier, es seien weiterhin keine nennenswerten Fortschritte zu verzeichnen. Hauptverantwortliche für den Stillstand sind die harten Brexiteers in der Regierung Boris Johnsons, die einen weitreichenden Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt verlangen, sich aber gleichzeitig weigern, sich zur Einhaltung von dessen Regeln zu verpflichten. Dadurch droht der sogenannte No-Deal-Brexit, der auf beiden Seiten des Ärmelkanals sowie der Irischen See verheerende wirtschaftliche Folgen hätte, am 1. Januar 2020 Wirklichkeit zu werden.

Formal verließ das Vereinigte Königreich am 31. Januar die EU. Die Übergangsphase, in der die Briten weiterhin die EU-Bestimmungen zu befolgen haben und London und Brüssel sich auf die Form der künftigen Beziehungen einigen sollten, läuft am 31. Dezember aus. Bei der Ratifizierung seines mit der EU ausgehandelten Brexit-Abkommens Mitte Januar durch das britische Parlament hat Johnson zusätzlich ein Gesetz verabschieden lassen, das eine Verlängerung der Übergangsphase und damit den Zeitrahmen für die extrem komplizierten Verhandlungen mit der EU ausdrücklich verbietet. Johnson verteidigte damals das Gesetz gegen Kritik namhafter Wirtschaftsexperten mit dem Verweis auf das Versprechen "Get Brexit done", mit dem seine konservative Partei noch bei den Unterhauswahlen im Dezember eine satte Mehrheit von 80 Sitzen erzielen konnte.

Nach Meinung britischer und europäischer Juristen macht gerade dieses Gesetz es nun unmöglich, nach dem 30. Juni eine Fortsetzung der Gespräche zu vereinbaren, selbst wenn beide Seiten dies wollten. Zudem haben der britische Chefunterhändler David Frost sowie Vizepremierminister Michael Gove jede Anregung, die Bewältigung der Corona-Virus-Pandemie, von der Großbritannien schwerer als jedes andere europäische Land betroffen ist, verlange geradezu nach einer Verlängerung des Zeitrahmens für die Verhandlungen zwischen Brüssel und London, als Defätismus und Zeitschinderei regelrecht abgetan. Das Festhalten am harten Brexit - und sei es zum Preis eines katastrophalen No Deal - erklärt, warum sich Johnson Ende Mai kategorisch geweigert hat, seinen Chefberater Dominic Cummings nach Bekanntwerden dessen krasser Verstöße gegen die Lockdown-Bestimmungen gegen Covid-19 zu entlassen. Cummings gilt als Chefideologe der harten Brexiteers, der "Global Britain" zum Hauptverbündeten eines rechtsreaktionären Amerikas nach Art Donald Trumps und Steve Bannons machen möchte.

Inzwischen macht sich bei Politik und Medien im Vereinigten Königreich die Erkenntnis breit, welche bereits im Mai der irische EU-Handelskommissar Phil Hogan als erster verkündet hat. Die Johnson-Regierung will offenbar die Corona-Krise nutzen, um die Verhandlungen mit der EU über die künftigen Beziehungen platzen zu lassen und im kommenden Jahr die daraus resultierenden ökonomischen Einbrüche als weitere Auswirkungen der Maßnahmen zu Bekämpfung der Covid-19-Seuche deklarieren zu können. Einen entsprechenden Beitrag zu diesem Thema veröffentlichte am 3. Juni in der Zeitung Guardian Mujtaba Rahman, Leiter der Europa-Abteilung beim Beratungsunternehmen Eurasia Group unter der Überschrift "The pandemic is being used as cover for a no-deal Brexit".

Das falsche Spiel Londons gegenüber Brüssel und das offensichtliche Bestreben der Johnson-Administration, die Frage einer möglichen Verlängerung der Verhandlungen endgültig vom Tisch zu haben, bevor Deutschland am 1. Juni den halbjährigen EU-Ratsvorsitz übernimmt, lassen inzwischen diverse Alarmglocken schrillen. Nach Angaben des irischen Außenministers Simon Coveney geht die Regierung in Dublin inzwischen vom No-Deal-Brexit aus und trifft bereits die notwendigen Vorkehrungen. Am 3. Juni hat Andrew Baily, der neue Chef der Bank of England, alle Finanzinstitute im Vereinigte Königreich angewiesen, sich auf ein Scheitern der Verhandlungen Londons mit der EU und die Verhängung neuer Zölle und Bestimmungen ab 2020 vorzubereiten. In Nordirland sind die Unternehmer in großer Sorge, daß die Region in ein zolltechnisches Niemandsland zwischen Großbritannien und der EU geraten könnte. Darum hat das Parlament in Belfast vor wenigen Tagen mehrheitlich - jedoch ohne die Zustimmung der unionistischen Parteien - für eine Verlängerung der Übergangsphase votiert. Doch die Chancen, daß sich Johnson bei seinem geplanten Treffen Ende des Monats mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf dieses Szenario einläßt, sind gering bis nicht existent.

Was dabei alles auf dem Spiel steht, läßt sich anhand weniger Zahlen veranschaulichen. Dem Bericht einer Expertengruppe an der amerikanischen Harvard University zufolge, aus dem am 17. Mai Wirtschaftskorrespondent William Keegan in der britischen Sonntagszeitung Observer zitierte, besteht der Außenhandel Großbritanniens zu 43 Prozent mit der EU und nur zu 15 Prozent mit den USA. Ein Freihandelsabkommen mit den USA verbesserte daher die Außenhandelsbilanz Großbritanniens lediglich um 3,4 Milliarden Pfund, ein Wegbrechen des Zugangs britischer Produzenten und Dienstleistungsunternehmen zum europäischen Binnenmarkt brächte dagegen einen Rückgang der Exporte um bis zu 112 Milliarden Pfund. Hinzu kommen Hinweise, wonach die geplante Öffnung des britischen Markts für billige Lebensmittel aus den USA das Aus für die meisten britischen Bauernhöfe und landwirtschaftlichen Betriebe bedeuten könnte. Gerade gegen letztere Entwicklung formiert sich bei den Tory-Hinterbänklern im Unterhaus an der Themse Widerstand. Doch dafür könnte es zu spät sein.

6. Juni 2020


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