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INTERVIEW/006: Abu Muntasir zum Phänomen des "Islamismus" (SB)


Interview mit Abu Muntasir am 28. Juni in Dublin


Abu Muntasir ist Leiter der von ihm 1984 mitbegründeten Wohltätigkeitsorganisation Jam'iat Ihyaa' Minhaaj Al-Sunnah (JIMAS), die in Großbritannien Minderbemittelten hilft, grundlegende Aufklärung in Sachen Islam betreibt und für eine Verständigung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen eintritt. Abu Muntasir ist deshalb in seiner ostenglischen Heimatstadt Ipswich ein angesehener Gesprächspartner der Bildungs- und Polizeibehörden, der Kirchen und anderer Organisationen. Der 1959 als Mohammed Manwar Ali geborene Islamgelehrte hat sich in den achtziger und neunziger Jahren beim Kampf gegen die Sowjetarmee in Afghanistan sowie der bosnischen Muslime im früheren Jugoslawien engagiert, steht inzwischen seinen damaligen Aktivitäten kritisch gegenüber. Auf dem Summit Against Violent Extremism (SAVE) in Dublin fiel Abu Muntasir durch seine Forderung, es müßten in erster Linie die sozialen Mißstände angepackt werden, wolle man das Problem des "gewaltätigen Extremismus" lösen, positiv auf. Mit Abu Muntasir sprach der Schattenblick am 28. Juni.

Abu Muntasir - Foto: © 2011 by Schattenblick

Abu Muntasir
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Abu Muntasir, Sie sagten vorhin, Sie seien 1959 geboren worden. War das in England?

AM: Nein, im heutigen Bangladesch, das damals zu Pakistan gehörte. Unsere Familie pendelte sozusagen zwischen Großbritannien und dem damaligen Ostpakistan einige Jahre hin und her. Das letzte Mal reisten wir 1975 ein. Seitdem bin ich in England seßhaft. Ich bin größtenteils in East London aufgewachsen.

SB: Und was machten Sie nach der Schule?

AM: Ich ging zur Polytechnic in Kingston-upon-Thames in Surrey, wo ich meinen Bachelorgrad in Informatik absolvierte. Danach arbeitete ich für eine Computerfirma, während ich nebenbei den Master in Informatik machte. Nach dem Abschluß des Studiums habe ich einen Master in Islamische Studien und Arabisch angehängt.

SB: Hat sich Ihr Interesse an Islamische Studien während Ihrer Zeit an der Fachhochschule entwickelt?

AM: Ich war schon im Kindesalter ein praktizierender Muslim und immer religiös veranlagt, doch erst als ich mit zwanzig Jahren der Islamic Society an der Polytechnic in Kingston-upon-Thames beitrat, habe ich mich für eine aktivere Rolle entschieden.

SB: Das dürfte sich damals kaum vom Beitritt zu irgendeiner beliebigen Studentenvereinigung an der Universität unterschieden haben, aber irgendwann wurde daraus der Einsatz für die islamische Sache. Wie kam es dazu?

AM: Kurz nachdem ich an der Universität anfing, kam es im Iran zur Islamischen Revolution, die das Verständnis des Islams grundlegend veränderte. Standen bis dahin der Glaube und die Theologie im Vordergrund, so begannen sich viele Muslime für die Frage der Rolle des Islams in Bezug auf die Gesellschaft und die staatliche Ordnung zu interessieren. Bereits an der Schule hatte mich die Lage der Palästinenser dermaßen berührt, daß ich überlegte, der PLO beizutreten. Auslöser war der Vorstoß der Israelis 1978 in den Südlibanon. Ich weiß noch, wie mich zwei Jahre zuvor die Bilder von der Belagerung des palästinensischen Lagers Tel al-Zaatar im Libanon schockiert hatten. Später in der Islamic Society erhielt meine religiöse Zuwendung zum Islam eine politisch-ideologische Komponente.

Zwei Anführer der Islamic Society an der Universität haben seinerzeit großen Einfluß auf mich ausgeübt. Der eine, ein Mitglied der Moslembruderschaft aus Kuwait, war Wahabbit und vertrat eine strenge wie zugleich konfrontative Auslegung des Korans. Der andere, ein britischer Muslim, war apolitisch, trat aber als Mitglied von Tablighi Jamat für eine strikte Befolgung der islamischen Grundlehren im gesellschaftlichen Alltag ein. Damals gingen wir für Khomeini auf die Straße und demonstrierten gegen den Schah. Ende 1979 kam es zum sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, was uns ebenfalls in Aufruhr versetzte. 1980 habe ich das Hauptquartier der Federation of Students of Islamic Society (FOSIS) im Londoner Stadtteil Kilburn besucht und meine erste Spende gemacht. Später habe ich dort einigen Vorträgen von Mudschaheddin-Kommandeuren über die Kämpfe gegen die Streitkräfte der Sowjetunion und der mit Moskau verbündeten kommunistischen Regierung in Kabul beigewohnt. Es dauerte nicht sehr lange, da war ich voll und ganz in die Sache involviert.

SB: Das heißt, Sie sind als Freiwilliger nach Afghanistan gegangen und haben dort mitgekämpft?

AM: So ist es. Ich habe an allen möglichen Formen der militärischen Auseinandersetzung teilgenommen, bei denen sowohl mit Gewehren als auch mit schwerer Artillerie gekämpft wurde.

SB: Unter wessen Kommando oder als Teil welcher Gruppe haben Sie gekämpft?

AM: Um die Frage zu beantworten, muß man den Rekrutierungsprozeß erläutern, der mit einem vielschichtigen Ausleseverfahren einherging. Man wurde zunächst auf seine Vertrauenswürdigkeit überprüft. Deswegen mußte ich in die Niederlande fahren. Die Verbindung lief über eine Person in Deutschland, die ein Bekannter von mir in Medina kennengelernt hatte. Die Organisation, der ich mich anschloß, hieß Jamaat al Dawa al Quran wa Sunna, was die Gruppe, die zum Koran und zur Sunna einlädt, bedeutet. Sunna heißt hier prophetische Handlungsweise oder Praxis. Die Person, die damals die Leitung der Gruppe innehatte und später in Pakistan einem Attentat zum Opfer fiel, hieß Scheich Jamil al-Rahman, ein Afghane aus der Provinz Kunar, bei dem vermutet wurde, daß er seine Finanzierung von der Regierung Saudi-Arabiens erhielt. Ich habe mich dieser Gruppierung deshalb angeschlossen, weil sie in Afghanistan der Fraktion der Ahl-i Hadith am nächsten stand. Alle anderen waren herkömmliche Hanafiten wie zum Beispiel Gulbuddin Hekmatyar und seine Kämpfer.

SB: Wie lange haben Sie in Afghanistan gekämpft?

AM: Ich war immer wieder dort. Das erste Mal bin ich hingereist, um den ganzen Ablauf, die Ausbildung et cetera, kennenzulernen. Danach kehrte ich nach England zurück und fing an, junge Männer für den Einsatz in Afghanistan anzuwerben und sie dorthin zu schicken. Ich glaube, wir waren die erste Gruppe in England, die Muslime für den Einsatz als Freiwillige im Afghanistankrieg rekrutierten.

SB: Und die britische Regierung hatte keine Probleme damit?

AM: Ganz im Gegenteil. Die britischen Behörden haben uns ermutigt und zum Teil unterstützt. Daß das Ganze irgend etwas mit Terrorismus zu tun haben könnte, wäre uns damals nicht im Traum eingefallen.

SB: 1989 zogen die letzten sowjetischen Truppen aus Afghanistan ab. Die Truppen der Regierung von Mohammed Nadschibullah in Kabul kämpften danach drei Jahre lang allein gegen die Mudschaheddin. Haben Sie oder Ihre Kameraden sich damals an dem zuletzt erfolgreichen Umsturz der Nadschibullah-Regierung beteiligt?

AM: In der Zwischenzeit erhielten die Mudschaheddin Hilfe von arabischen Freiwilligen aus Algerien sowie anderen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens. Wir waren anfangs vielleicht Pioniere gewesen, aber danach nicht mehr die einzigen ausländischen Kämpfer. Als die Sowjets schließlich abzogen, waren wir bereits dabei, unsere Aktivitäten vor Ort zurückzufahren. Danach haben wir Leute nur zu militärischen Ausbildungszwecken, nicht mehr zum Kämpfen, in die afghanisch-pakistanische Grenzregion geschickt. Selbst als ich nach Kaschmir ging, um es mit den Indern aufzunehmen -

SB: Sie haben auch in Kaschmir gekämpft?

AM: Na klar, wir konnten nicht einfach die Waffen niederlegen. Der Kampf mußte weitergehen. (lacht)

SB: (lacht) Verstehe. Und mit welcher Gruppe waren Sie dort unterwegs?

AM: Laschkar-e-Taiba, die Gruppe um Hafiz Muhammed Saeed.

SB: Jene Organisation, von der die Regierung in Washington in letzter Zeit behauptet, sie stelle eine ebenso große Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA dar wie Al Kaida.

AM: Vielleicht ist da etwas dran, vielleicht ist es nur Gerede oder vielleicht eine Mischung aus beidem.

SB: Man weiß es als Außenstehender einfach nicht.

Podiumdiskussion 7 zum Thema 'Countering Violent Extremism with Positive Activism': Tahir Wadood Malik, Pakistan Survivors Network, Frank Meeink, Leiter des Projekts Harmony through Hockey in den USA, Jared Cohen, Konferenzleiter, Abu Muntasir von JIMAS, Rudy Corpuz jun. von United Playaz in den USA und Imam Muhammad Sani Isa vom Interfaith Mediation Centre in Nigeria - Foto: © 2011 by Schattenblick

Podiumdiskussion 7 zum Thema "Countering Violent Extremism with
Positive Activism": Tahir Wadood Malik, Pakistan Survivors Network,
Frank Meeink, Leiter des Projekts Harmony through Hockey in den USA,
Jared Cohen, Konferenzleiter, Abu Muntasir von JIMAS, Rudy Corpuz jun.
von United Playaz in den USA und Imam Muhammad Sani Isa vom Interfaith
Mediation Centre in Nigeria
Foto: © 2011 by Schattenblick

AM: Jedenfalls, als ich vorhin auf der Konferenz mit Major Tahir Wadood Malik vom Pakistan Terrorism Survivors Network sprach, habe ich ihm gesagt, daß ich sein Land erst dann wieder betreten werde, wenn dort die ganzen terroristischen Ausbildungslager geschlossen worden sind. Ich habe für ihre Betreiber und deren Anhänger keinerlei Sympathien mehr.

SB: Und das ungeachtet der schweren Unterdrückung, der die muslimische Mehrheitsbevölkerung in Jammu and Kashmir seit Jahrzehnten seitens der indischen Zentralregierung ausgesetzt ist und die für viele Menschen dort und in Pakistan den Griff zur Waffe rechtfertigt?

AM: Auf der Welt gibt es viel Unterdrückung, der nicht nur Muslime ausgesetzt sind, sondern die auch von ihnen ausgeht. Viele Muslime werden zum Beispiel von den eigenen muslimischen Regierungen unterdrückt. Doch es muß einen Weg zur Beendigung dieser Unterdrückung geben, der konstruktiv ist, denn wie Noman Benotman von der britisch-islamischen Stiftung Quilliam heute morgen auf einer Podiumsdiskussion erklärte, hat die Gewalt die Lage im indischen Teil von Kaschmir nach 20 Jahren Dschihad nicht verbessert, sondern eher verschlimmert.

SB: Sind Sie zu dieser Erkenntnis gelangt, noch während Sie im Untergrund in Kaschmir kämpften?

AM: Nein. Übrigens habe ich mich auch in Birma auf Seiten der Rohingya engagiert, eine ethnisch-religiöse Minderheit, die in der grenznahen Region zu Chittagong in Bangladesch angesiedelt ist.

SB: Das sind auch Muslime, nehme ich an.

AM: Richtig. Sie werden grausam unterdrückt. Ich könnte Schreckensgeschichten darüber erzählen, da würde jeder sofort aufspringen und sagen, daß man etwas dagegen unternehmen müsse. Doch ist Gewalt die Antwort? Sich mit der birmesichen Armee anzulegen, ist das der beste Weg? Was ließe sich damit erreichen? Das sind zunächst technisch-funktionale Überlegungen. Es kommen moralisch-islamische hinzu. Ist das die beste Methode und ist es im Sinne Gottes, das Problem auf diese Weise anzupacken? Könnte man in der Entscheidung, zur Waffe zu greifen, einem Irrtum unterliegen? Hat man die Lage richtig eingeschätzt? Lassen sich Ziel und Mittel in Deckung bringen? Wird man in seiner Handlungsweise den höchsten ethischen Prinzipien gerecht? Schließlich sollte der Dschihad ein Dienst an Gott sein, ein Akt, mittels dessen man die Gnade Gottes erlangt, Heil findet und ins Paradies kommt. Daher darf er nichts Korruptes an sich haben oder mit Sünde einhergehen. Es gibt also viele Aspekte, die bei einer solchen Frage zu berücksichtigen sind.

SB: Was ist mit dem Konflikt in den neunziger Jahren auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien? Waren Sie auch darin verwickelt?

AM: Ja, ich habe aber nicht direkt an den Kämpfen in Bosnien-Herzegowina teilgenommen. Ich habe lediglich Leute für den Kampf an der Seite der bosnischen Muslime rekrutiert und sie zu ihnen geschickt. Ich habe auch Männer zum Kämpfen nach Tschetschenien entsandt.

SB: In Tschetschenien wurde gegen die Aufständischen der Vorwurf des Terrorismus massiv erhoben. Dort wie auch in Bosnien-Herzegowina wurden die muslimischen Kämpfer von ihren Gegnern bezichtigt, sich militärisch unehrenhaft verhalten zu haben. Ich denke in diesem Zusammenhang zum Beispiel an Bilder, die nicht in den westlichen, dafür jedoch in den jugoslawischen Medien erschienen sind und in denen ausländische Mudschaheddin zu sehen waren, die lachend und triumphierend die abgetrennten Köpfe ermordeter serbischer Kriegsgefangenen in die Kamera hielten. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen? Decken sie sich mit Ihren Erfahrungen in Afghanistan und Kaschmir oder sind die muslimischen Kämpfer in Tschetschenien und Bosnien-Herzegowina besonders blutig zu Werke gegangen?

AM: So etwas habe ich mit den eigenen Augen nie gesehen. Aber wenn sich solche Vorwürfe ständig wiederholen und durch Zeugenaussagen gestützt werden, dann wird es schwer, sie zu bestreiten. Ich erzähle Ihnen eine kleine Anekdote. Ich war zum Beispiel in einem Lager in Muridke unweit von Lahore, wo die Laschkar-e-Taiba allen gegenteiligen Beteuerungen der pakistanischen Regierung und des ISI zum Trotz ihr Hauptquartier haben. Dort hat man uns beigebracht, wie man aus Zucker, Mehl und anderen Mitteln des alltäglichen Hausgebrauchs Bomben baut. Da hat mich eines Tages ein Kerl angesprochen: "Du gehst wohl zurück nach Großbritannien, um den Dschihad dorthin zu tragen, was?" Ich bin aus allen Wolken gefallen. "Nein. Das hatte ich eigentlich nicht vor", antwortete ich und fragte: "Wovon redest du überhaupt?"

Auch wenn meine Vorstellung und die meiner Kampfgefährten in Großbritannien vom Dschihad zunächst etwas naiv gewesen ist, so haben wir uns doch an der klassischen Lehre orientiert, daß er eine ehrenhafte Handlung sei und nichts Terroristisches an sich habe. Weil der Dschihad in der Realität anders aussah, wurde ich desillusioniert und habe mich immer mehr davon distanziert, bis ich schließlich aus Abscheu dem Ganzen den Rücken kehrte. Ich kann also die Art von Greueltaten, von denen Sie sprechen, nicht bezeugen und kenne sie nur vom Hörensagen. Doch allein die vielen Angriffe und Anschläge, die Zivilisten das Leben kosteten und heute noch kosten, deutet meines Erachtens auf die manipulative Rolle korrupter, rücksichtsloser Kräfte wie des pakistanischen Geheimdienstes ISI und ausländischer Mächte hin, wie auch immer ihre Motive gelagert sein mögen.

Darüber hinaus hat sich mein Verständnis des Islams über die Jahre vertieft. Im Zuge dessen hat sich auch meine Bewertung der eigenen Rolle in diesen Konflikten wie auch die Antwort auf die Frage, wie ich Gott am besten dienen kann, gewandelt. Ich stelle fest, daß es nicht darum gehen kann, dem Dschihad abzuschwören und Liebe und Frieden zu predigen, denn ein reiner Pazifist zu sein, kommt für keinen Muslim, der die Lehren Mohammeds wirklich befolgt, ernsthaft in Betracht. Es muß vielmehr darum gehen, wie die Prinzipien des Islams im Kontext heutiger Gesellschaften am besten verwirklicht werden können und wie man ein gerechtes Leben zu Ehren Gottes führen kann.

SB: Wie sieht Ihre berufliche Laufbahn aus?

AM: Ich habe lange Zeit als Informatiker bei British Telecom gearbeitet. Seit einigen Jahren leite ich die von mir gegründete islamische Stiftung JIMAS.

SB: Heute auf der Konferenz haben einige muslimische Teilnehmer unter Verweis auf die historischen Umbrüche der letzten Monate in der arabischen Welt den Standpunkt vertreten, daß der Islamismus à la Al Kaida ideologisch ausgedient habe, militärisch auf dem Rückzug sei und kaum noch Anziehungskraft besitze. Dieser derzeit gängigen Einschätzung wird jedoch von einigen Experten widersprochen. Michael Scheuer, der ehemalige Leiter der CIA-Abteilung, die mit der Jagd nach Osama Bin Laden befaßt war, behauptet zum Beispiel ganz im Gegenteil, daß die langfristige Strategie von Al Kaida vollends aufgehe, weil sie dafür gesorgt habe, daß sich die USA und ihre NATO-Verbündeten in immer mehr Kriegen in der islamischen Welt verstricken - siehe Afghanistan, Irak, Jemen, Libyen, Pakistan und Somalia - und dabei wirtschaftlich ausbluten. Wie ist Ihre Meinung dazu?

AM: Zunächst bin ich Osama Bin Laden persönlich niemals begegnet. Das, was ich über ihn weiß, habe ich wie jeder andere auch aus der Zeitung erfahren. Es ist wirklich schwer zu sagen, ob die Islamisten auf dem Vormarsch sind oder nicht. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen mit diesen Leuten in Bangladesch, Birma, Kaschmir und Pakistan habe ich den Eindruck, daß sie sich nicht auf der Siegerstraße befinden. Da sind Probleme der Politik, der Rivalität zwischen Nationalstaaten und der Unterdrückung von Minderheiten, bei denen ich als Islamgelehrter völlig ungeeignet wäre, irgendwelche Lösungen zu präsentieren.

SB: Weil Ihr Hauptbetätigungsfeld heute auf der spirituellen, theologischen Ebene liegt?

AM: Ganz genau. Mein Interesse in Bezug auf solche Konflikte beschränkt sich heute darauf, junge Männer davor zu bewahren, sich in irgendwelche Abenteuer zu stürzen, die Leid über andere Menschen bringen und Ihnen selbst den Kopf kosten.

SB: Und dabei den Islam bloß als Vorwand benutzen.

Abu Muntasir bei der Podiumsdiskussion - Foto: © 2011 by Schattenblick

Abu Muntasir
Foto: © 2011 by Schattenblick
AM: Das haben viele getan und den Islam nicht nur falsch ausgelegt, sondern seinem Ansehen in der Welt geschadet. Gleichwohl muß ich unterstreichen, daß ich während meiner Zeit in dschihadistischen Kreisen nicht ein einziges Mal auf jemanden gestoßen bin, der Böses im Sinn hatte. Manchmal haben sie Böses - ich würde vielleicht sogar das Wort satanisch benutzen - getan, aber das ist niemals ihre Absicht gewesen. Sie haben moralisch verwerfliche Taten begangen, weil sie sie als Mittel verstanden, um schlimmere Mißstände zu beheben - um gegen Ungerechtigkeit vorzugehen oder fremdländische Besatzungstruppen zu bekämpfen oder zu besiegen, wie im Falle der USA oder Israels. Begründet wurde dies häufig mit Fehldeutungen dessen, was Gott im Islam von ihnen verlangte oder ihnen versprach und welche Bedingungen er ihnen auferlegte. Hinzu kommen Mythenbildung in Bezug auf die frühere "goldene" Ära des Islams und ein falsches Verständnis der heutigen Welt der Muslime rund um den Globus - ganz so, als bestünde die Umma (die Gesamtheit aller Muslime - Anm. d. SB-Red.) aus lauter Frommen und Heiligen, was bei weitem nicht der Fall ist. Viele Dschihadisten werden mit falschen Versprechen geködert. Begünstigt wird dies dadurch, daß viele junge Muslime unter Identitätskrisen und kultureller Entfremdung leiden. Sie wollen sich in die Gesellschaft einbringen und sie positiv verändern, doch werden Ihnen häufig die Möglichkeiten dazu vorenthalten.

Deswegen stehe ich Konferenzen wie diese von Google und dem Council on Foreign Relations etwas skeptisch gegenüber. Ich kann Kriegserfahrungen austauschen, mich zu Tränen rühren lassen und mich mit anderen solidarisieren, was mir aber bei solchen Diskussion um das Thema des "politischen Extremismus" häufig fehlt, ist die Anerkennung des Problems bzw. überhaupt der Existenz des Staatsterrorismus. Darüber will keiner reden. Schließlich ist es nicht ungefährlich und zudem sehr schwierig, das Dickicht der Geheimdienste zu durchschauen. Man kann schwerlich leugnen, daß es Unterdrückung und Ungerechtigkeit überall in der Welt gibt. Zwar sind die Muslime beileibe nicht die einzigen, die darunter zu leiden haben. Doch in vielen muslimischen Gesellschaften fehlt es an Möglichkeiten, auf friedlichem Wege eine politische Veränderung zu bewirken, denn die autoritären Regierungen der islamischen Welt mißtrauen dem Volkswillen.

SB: 2007 erschien auf der Website der britischen Tageszeitung Guardian ein Gastkommentar zum Buch "The Islamist" von Ed Husain, der aus Großbritannien stammt, heute für den Council on Foreign Relations arbeitet und zu den Organisatoren der Konferenz hier in Dublin gehört. Taji Mustafa, der Verfasser des Kommentars, der im Exekutivkomitee der in Großbritannien und anderen Staaten umstrittenen islamischen Vereinigung Hizb ut-Tahrir sitzt, hat Husain bezichtigt, politisch aktive Moslems zu diffamieren, und dazu wichtige Gegenargumente angeführt. Er vertrat den Standpunkt, daß der Einsatz für die Errichtung eines Kalifats im Nahen Osten wie auch für die Einführung der Scharia vollkommen legitime politische Ziele sind. Nun, das Kalifat müßte nicht zwingend ein Gottesstaat, sondern könnte nach Art der Europäischen Union ein multinationales Gebilde sein, mittels dessen man wirtschaftliche Kräfte freisetzen und unter Berufung auf die gemeinsamen Wurzeln wie zum Beispiel die arabische Sprache eine kulturelle Renaissance lostreten könnte. Doch inwieweit sich die Scharia mit dem säkulären Staat westlichen Zuschnitts verträgt, ist unklar. Wie sehen Sie das? Vertragen sich Kalifat und Scharia überhaupt mit dem demokratischen Diskurs?

MA: Bei der Scharia ist das größte Problem die Definition. Meint man die reine, verpflichtende, unwidersprechliche Botschaft Gottes, wie sie Mohammed, Friede sei mit ihm, im 7. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung offenbart wurde, oder meint man sie zusammen mit der ganzen Rechtsprechung, die sich seitdem angesammelt hat und, leider muß ich sagen, in letzter Zeit stagniert ist. Also besteht die Scharia nur aus Koran und Sunna oder aus Koran, Sunna und Gelehrtenmeinung? Wenn letzteres gilt, sollen auch abweichende Gelehrtenmeinungen berücksichtigt werden - wie etwa aus dem Schiitentum? Warum auch nicht? Und aus welchem Zeitabschnitt sollen die Gelehrtenmeinungen stammen - nur aus der klassischen Ära oder sollen Juristen, die für eine Anpassung der islamischen Rechtsprechung an die moderne Welt eintreten, auch zu Wort kommen dürfen? Des weiteren sähe die Scharia für Großbritannien ganz anders aus als für Japan oder Indien, denn auch die kulturellen Gegebenheiten müssen in Rechnung gestellt werden.

Erforderlich ist auch eine kritische und objektive Untersuchung der Geschichte bestimmter Aspekte der islamischen Rechtsprechung nicht nur auf ihre Nützlichkeit, sondern auch auf ihre Gültigkeit hin. Handabhacken bei Diebstahl oder Todesstrafe bei bestimmten Vergehen wie Homosexualität oder Apostasie - muß das wirklich sein? Ist das zeitgemäß? Wie könnte die ursprüngliche Absicht des Propheten in der heutigen Welt verwirklicht werden? Ich denke, wenn man sich ernsthaft und mit reinem Herzen an diese heiklen Fragen herantraut - und mehr verlangt Gott nicht -, wird man zu fortschrittlichen und zufriedenstellenden Ergebnissen kommen. Die Scharia muß meines Erachtens komplett überdacht werden, völlig unabhängig von der Frage ihrer Eignung für eine säkulare Gesellschaft.

Nehmen wir das Postulat des Kalifats. Es muß keine Arabische Union sein. Man könnte ein Kalifat in Ägypten oder Bangladesch oder an jedem beliebigen Ort, wo es eine muslimische Mehrheitsbevölkerung gibt, ausrufen. Aber was würde das bedeuten? Etwa die Rückkehr zu einer Gesetzgebung wie vor 600 Jahren? Oder doch die Anpassung an die moderne Welt? Würde ein solches Kalifat auch die Verpflichtung, sich zu vergrößern und auf andere Teile der Welt auszubreiten, mit sich bringen? Und wenn ja, wie sollte dies vor sich gehen - etwa mit Waffengewalt oder allein durch Missionierung und Bekehrung der Menschen zum Islam? Und was passiert, wenn im Kalifat abweichende Meinungen von denen der politisch und religiös Verantwortlichen auftreten? Wie geht man damit um?

Theoretisch gesehen ist die Forderung nach der Scharia vollkommen legitim. Wie die Demokratie oder die pluralistische Gesellschaft dieser Forderung gerecht wird, liegt aber an uns, und zwar nicht nur an Muslimen, Christen, Atheisten, Säkularisten et cetera, sondern an allen Bürgern des Staates. Es gibt aber grundlegende Standards wie etwa die Menschenrechte, die unantastbar bleiben müssen. Wir sprachen vorhin vom Dschihad. Bedeutet er, daß man die Genfer Konventionen oder die Menschenrechtskonvention ignoriert? Nicht unbedingt. Schließlich erfüllen viele "westliche" Arrangements ureigenste Prinzipien des Islams bzw. decken sich vollkommen mit den Zielen der Scharia - Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit den Minderbemittelten gegenüber, Schutz des Lebens, ein Grundrecht auf Essen, Kleidung und Wohnung. Das müssen einfach viel mehr Menschen begreifen. Eigentlich hat die islamische Rechtsprechung so viel zur menschlichen Zivilisation im rechtsstaatlichen Sinne beigetragen, daß ich keinen Widerspruch zwischen Scharia und säkularer Moderne sehe. Natürlich gibt es für den Muslim religiöse Gebote wie zum Beispiel das fünfmalige Beten am Tag, doch das moderne, säkulare Recht auf Religionsfreiheit garantiert ihm die Möglichkeit, diesen Pflichten nachzukommen.

Die Errungschaften der westlichen Zivilgesellschaft sind nicht von heute auf morgen entstanden. Es war ein langer Weg dahin. Man braucht sich nur die Verheerungen des dreißigjährigen Krieges zwischen Katholiken und Protestanten vor Augen zu führen. Aufgrund meiner eigenen Überlegungen, persönlichen Erfahrungen und langjährigen Studien bin ich der Meinung - und ich hoffe sehr, daß dies nicht mißverstanden oder aus dem Zusammenhang gerissen wird -, daß die muslimische Zivilisation der europäischen drei- bis fünfhundert Jahre hinterherhinkt. Das heißt nicht, daß wir eine Reformation und eine Aufklärung wie die Europäer durchschreiten müssen, um zur Moderne zu gelangen. Warum sollen wir dieselben Fehler machen oder den gleichen Preis bezahlen? Die Europäer haben ihn für die Menschheit bereits bezahlt; das genügt. Wir können von ihnen lernen.

Das auf dem Antiextremismusgipfel gemaltes Graffiti 'Passion' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Das auf dem Antiextremismusgipfel gemaltes Graffiti "Passion"
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Häufig wird eine Parallele zwischen den protestantischen Puritanern und den Salafisten im Islam gezogen.

AM: Es gibt auch Ähnlichkeiten in der Strenge der Lehre, im Wunsch nach der Abschaffung oder Beseitigung alles Überflüssigen, um zur Urquelle der Religion zurückzugelangen. Also keine Reliquien, keine Geburtstagfeier -

SB: Kein Spaß.

AM: Genau. Aber als menschliche Wesen streben wir mit Herz und Seele nach dem Sinn im Leben und zur Nähe an Gott. Die Mittel dafür sind Kultur und Brauchtum sowie, darauf basierend, die jeweilige Religion. Religion ist ein Teil der Kultur, doch wer predigt sie und bringt sie unter die Leute? Menschen, die aufgrund des kulturellem Fortschritts aufgeschlossen sind, können unterschiedliche Meinungen akzeptieren und anerkennen. In Gesellschaften dagegen, in denen kaum jemand lesen oder schreiben kann, sieht es anders aus. Da lassen sich die Menschen leicht von ihren religiösen Anführern sagen, was Gott von ihnen erwartet oder verlangt. Auf dieses Phänomen trifft man in weiten Teilen der islamischen Welt, in denen Rückständigkeit herrscht und das allgemeine Bildungsniveau niedrig liegt. Die Menschen in solchen Gemeinschaften haben nicht wie ich zum Beispiel die Gelegenheit gehabt, christliche Autoren wie den Kirchenvater Augustinus zu lesen und von seinen Gedanken und Einsichten zu profitieren. Ich greife gern auf solche Schriften zurück und stelle immer wieder eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen Christentum und Islam in den menschlichen Grundfragen fest. Worin sich die zwei großen monotheistischen Religionen unterscheiden ist die Frage der Einheit Gottes, aber dennoch ist es immer noch derselbe Gott, den Christen und Muslime verehren.

SB: Selbst die frühen Christen haben in ihrer Lehre große Teile der klassischen griechischen Philosophie übernommen.

AM: Ganz klar. Deshalb habe ich große Probleme damit, wenn junge Mitglieder von Gruppen wie Hizb ut-Tahrir, Al-Muhajiroun oder Muslims Against Crusaders in Großbritannien lautstark die Errichtung eines Scharia-Staates fordern. Denn sie haben die Sache intellektuell nicht zu Ende gedacht. Sie verwenden diese Forderung in erster Linie wie eine Flagge, als ein Identifikationsmerkmal. Da stellt sich die Frage: Wer führt diese Menschen an und wessen Bedürfnisse sollen durch diese Forderung und ihre eventuelle Umsetzung erfüllt werden? Die islamische Gemeinde in Großbritannien zum Beispiel hat das Problem, daß man es jungen Hitzköpfen, die in den heiligen Schriften wenig bewandert sind, aber gern auf der Straße demonstrieren, in den Medien auftreten und andere niederbrüllen, erlaubt hat, das allgemeine Bild des Moslems zu prägen - und das negativ.

Viele Muslime sind apolitisch und haben deshalb nie alternative Vorschläge zur Behebung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Mißstände formuliert. Dennoch reicht es nicht aus, einfach die Regierung zu stürzen und einen islamischen Gottesstaat auszurufen. Die eigentliche Frage müßte lauten, wie sind Heil und Gottes Gnade durch den Einsatz für die Menschen in der eigenen Gemeinde zu erzielen. Und würde man sich nur einmal umschauen, käme man schnell auf Antworten. Im Koran heißt es: "Er ist kein Moslem, der sich satt ißt, während sein Nachbar Hunger leidet". Die Aussage ist eindeutig und nicht mißzuverstehen. Diese jungen Radikalen kennen ihre Nachbarn nicht, sehen über die Armut und Not im eigenen Land hinweg und wollen statt dessen in Afghanistan kämpfen und eventuell sterben. Was hat das mit Islam zu tun?

Ich will die Bedeutung von Dschihad nicht leugnen. Er hat seinen Platz. Wir sind keine Pazifisten. Aber eine israelische Mutter empfindet beim Anblick ihres getöteten Kindes den gleichen Schmerz wie eine palästinensische. Ich denke, wir haben die Würde des Menschen und was es überhaupt bedeutet, ein Mensch zu sein, aus den Augen verloren. Wir vergessen in einem Konflikt oder politischen Streit leicht, daß es Menschen auf der anderen Seite gibt, die ebenfalls Grund zur Klage haben. Wir nehmen nicht wahr, wie wir anderen Schaden zufügen und selbst zur Entstehung von Problemen beitragen. Statt dessen betrachten wir uns als die einzigen Opfer. In der islamischen Welt ist diese Opfermentalität weit verbreitet. Das hat handfeste, unbestreitbare Gründe, die in der Unterstützung des Westens für die autoritären Regierungen in Nordafrika, im Nahen Osten und in Süd- und Zentralasien liegen. Doch als Islamgelehrter bin ich dazu angehalten, die Menschen dazu zu ermahnen oder zu ermutigen, sich auf eine verantwortungsvolle Weise zu verhalten, damit sie nachher schuldlos vor Gott treten können.

Was, bitte sehr, ist daran schuldlos, nach der Waffe zu greifen und sich nach Libyen aufzumachen, um sich dort an der Erhebung gegen Muammar Gaddhafi zu beteiligen? Trage ich damit nicht zum Kampf Muslim gegen Muslim bei? Lasse ich mich nicht als politisches Bauernopfer von ausländischen Mächten manipulieren? Wäre es nicht schuldloser, in England zu bleiben und für ein rasches Ende der Kämpfe und, wenn einem danach ist, für den Sieg der Gerechten über die Ungerechten zu beten? Wenn ich wirklich Leid lindern wollte, wäre es nicht sinnvoller, ich engagiere mich in einer der mehr als 100.000 eingetragenen karitativen Vereinigungen in Großbritannien, um Gott zu gefallen und anderen zu helfen? Die Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals (RSPCA) zum Beispiel sammelt jedes Jahr zahlreiche von ihren Besitzern verstoßene Hunde ein und kann bestimmt jede Unterstützung gebrauchen.

SB: Aber es heißt doch, Hunde genießen kein großes Ansehen in der islamischen oder arabischen Welt.

AM: Ich beziehe mich hierbei auf ein Hadith im Koran, in dem Mohammed schildert, wie eine Frau ins Paradies gelangt ist, weil sie einen Hund vor dem Verdursten gerettet hatte, während eine andere Frau in der Hölle landete, weil sie eine Katze verhungern ließ. Es reicht nicht aus, den Koran im politischen Streit zu zitieren oder auf ihn zu verweisen, man muß ihn im Alltag in die Tat umsetzen. Die Botschaft Gottes ist einfach zu verstehen und auch einfach umzusetzen, die Menschen sind es, die sie verkompliziert haben.

SB: Abu Muntasir, danke sehr für das ausführliche Gespräch.

Der Blick auf das südliche Liffey-Ufer mit seinen neuen Prachtbauten vom Dubliner Congress Centre aus gesehen - Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Blick auf das südliche Liffey-Ufer mit seinen neuen Prachtbauten vom
Dubliner Congress Centre aus gesehen
Foto: © 2011 by Schattenblick


23. Juli 2011