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INTERVIEW/009: "Freiheit statt Angst" - Treffpunkt Brüssel, Sylvester Heller (SB)


Interview mit Sylvester Heller am 18. September 2011 in Brüssel


Sylvester Heller ist Pressesprecher und Mitglied im Bundesvorstand der österreichischen Piratenpartei. Der in Wien lebende Graphikdesigner und freischaffende Künstler Heller engagiert sich bei den Piraten für die Themen Umwelt, Energie, Nahrung, Verkehr und Konsumentenschutz. Außerdem ist er maßgeblich verantwortlich für strukturelle Themen und Programmerstellung. Auf internationaler Ebene vertritt er die Partei im Rahmen der PPI-Konferenzen ("Pirate Parties International" - internationaler Zusammenschluß aller Piratenparteien). In dieser Funktion nahm er in Brüssel an einem Wochenende des Aktionsbündnisses "Freiheit statt Angst" vom 17. bis 19. September teil.

BUBL: Sylvester Heller - Foto: © 2011 by Schattenblick

Sylvester Heller
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Hat dich der Einzug der Berliner Piratenpartei ins Abgeordnetenhaus überrascht?

Sylvester Heller: So ein Wahlergebnis haben wir nicht erwartet. Wir haben uns gedacht, wenn wir reinkommen, ist das gut, aber jetzt ist das ganz knapp unterhalb der höchsten Prognose, die jeder für Spinnerei gehalten hat. Das ist ein toller Tag für uns.

SB: Ihr habt viereinhalb mal mehr Stimmen erhalten als die FDP, die schließlich eine staatstragende Partei ist. Seht ihr euch demnächst im Bundestag?

SH: Ich weiß nicht, ob wir die FDP da noch sehen werden, aber schauen wir einmal. Wir sind zufrieden mit denen, die wir da treffen. Hauptsache, wir sind mit dabei.

SB: Könntest du dich und die Piratenpartei einmal vorstellen?

SH: Wir sind 2006 in Schweden gegründet worden als Reaktion auf das Verbot von Pirate Bay. Das ist eine Tauschbörse gewesen. Da wir damals schon als Internetpiraten bezeichnet wurden, haben wir uns gesagt, gut, das paßt, und die Piraten haben auch lustige Sachen erfunden wie die Sozialversicherung und überhaupt die Demokratie. Wahlrecht gab es immer schon bei ihnen, und deswegen paßt das ganz gut zu uns. Unsere Hauptprogrammpunkte sind der Kampf gegen die ausufernde Überwachung, wir stehen für Transparenz in der Politik und vor allem für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung. In Berlin [2], wo das in die Partei eingebracht und am eifrigsten betrieben wurde, haben wir gesehen, daß Liquid democracy sehr gut ankommt, weil man als Parteimitglied über alle Programmpunkte mitentscheiden kann. Zwar wurde immer behauptet, daß das die internen Prozesse verlangsamen würde und ohnehin nicht funktionieren könne. Wir haben aber bewiesen, daß es funktioniert. Deswegen trauen uns die Leute zu, daß wir auch andere Dinge umsetzen können.

SB: Füllt ihr eine Lücke auf, die andere Parteien aufweisen, oder seid ihr einfach ein Phänomen? Wie seht ihr euch selbst?

SH: Es ist sicherlich richtig, daß wir Themen ansprechen, an die sich die anderen nicht herantrauen, von denen sie teilweise auch keine Ahnung haben, weil sie eben in ihren eigenen Strukturen gefangen sind. Im Moment sind wir ganz klar ein Phänomen, aber das heißt nicht, daß es nicht von Dauer ist. Weil wir immer wieder deutlich machen, daß wir die Ansprüche, die wir stellen, auch erfüllen können, trauen uns die Leute wirklich zu, daß wir das auch konsequent weiterführen. Wir müssen jetzt beweisen, daß wir das auch tun, und das werden wir tun.

SB: Es gibt immer mehr Parteien, die diese Themen aufzugreifen versuchen, meistens hinter einer Brille hervor, die alles andere als zivil und bürgerfreundlich ist. Wie bewertet ihr diese Versuche?

SH: Es ist zwar schön, daß diese Themen jetzt auch bei den anderen Parteien Beachtung finden. Nur sehen wir da eine ziemliche Planlosigkeit. Es ist ein Umgang wie mit einer fremden Sache. Für uns sind das moderne Dinge, mit denen wir aufgewachsen sind, für die wir natürlich ein viel größeres Verständnis besitzen als die Parteien, die bis jetzt in ihrem Glaspalast an der Bevölkerung und Entwicklung vorbeigelebt und gar nicht bemerkt haben, wie schnell sich die Welt verändert. Wir kommen aus der Veränderung, und deswegen können wir damit ganz anders umgehen als die übrigen Parteien. Wir haben sehr viele Digital natives dabei, aber auch Leute, die älter sind und in der IT-Branche arbeiten. Das ist nichts Neues. Computer gibt es schon länger.

SB: Auf den verschiedenen Aktionstreffen am heutigen Tag wurde in erschreckender Weise aufgezeigt, wie weit die elektronischen Überwachungsmöglichkeiten inzwischen entwickelt sind und Menschen in ihren fundamentalen Rechten beschneiden. Wie wird sich das deiner Meinung nach weiterentwickeln?

SH: Immer mehr Menschen erkennen diese Problematik und geben uns als Partei, die sich damit am meisten auseinandersetzt, auch das Vertrauen. Da wird jetzt ein ziemlich rauher Gegenwind für die herrschen, die immer noch glauben, daß totale Überwachung Sinn macht, und Bürgerrechte beschneiden wollen. Die Bürger wollen sich das nicht mehr gefallen lassen.

SB: Dann seid ihr Bilderbuch-Enthusiasten, denn auf der einen Seite arbeitet ihr aus eigenem Antrieb heraus, viele haben andere Berufe und machen das trotzdem. Andererseits könnte man behaupten, daß ihr von Politik eigentlich nur wenig Ahnung habt. Könnte es nicht sein, daß ihr für die heiklen Probleme und wichtigen Themen, die damit verknüpft sind, vielleicht gar nicht gerüstet seid?

SH: Das ist eben das Geheimnis an Liquid democracy, daß zu allen Themen Anträge gestellt werden können. Die kommen natürlich meistens von Leuten, die sich da auskennen. Wenn jetzt Menschen, die zu einem Thema wirklich Ahnung haben, die Erfahrung machen, daß sie auch mitgestalten können und nicht wie bei den anderen Parteien erst ewig in irgendwelchen vermoderten Strukturen herumkriechen müssen, dann kommen diese Menschen, die wirklich neue und gute Ideen haben, zu uns, weil sie das bei uns viel schneller und effektiver umsetzen können als bei Parteien, die eine Agenda haben, hinter der die Industrie steht. Weil bei uns von außen mitentschieden wird und alles offen geschieht, kann es so etwas bei uns nicht geben.

SB: Welche Leute passen zu euch?

SH: Zu uns paßt jeder, der mit der alten Politik nicht mehr zufrieden ist. Man sieht auch, daß aus allen Lagern Menschen zu uns kommen, weil wir eben neue Ansätze bringen.

SB: Auch ehemalige FDPler?

SH: Das weiß ich jetzt nicht, aber sicher einige. Die FDP hat sich immer als Fortschrittspartei verkauft. Nur zeigt der Ansatz, "wir müssen die Steuern für die Reichen senken", daß das keine moderne Politik ist. So gesehen gibt es natürlich auch FDP-Wähler, die erkennen, daß wir wirklich zukunftsfähige Konzepte haben, und vielleicht deshalb zu uns wechseln.

SB: Wenn zum Beispiel die Business Software Alliance [3] an euch heranträte und sagte: Macht mal Politik für uns, wir unterstützen euch. Was würdet ihr tun?

SH: Das würde nicht funktionieren und erlaubt auch unsere Parteistruktur nicht, weil bei uns Spenden ohnehin offengelegt werden müssen und ohne Befragung der Mitglieder nichts passieren kann. Wir haben nicht in dem Sinne Entscheidungsträger in der Partei, die von oben herunterregieren und solche Vorgänge beeinflussen könnten. Man könnte höchstens an einzelne Personen herantreten, aber auch das bringt nichts, weil bei den Piraten jeder nur eine Stimme hat, und deswegen ist Einflußnahme bei uns so gut wie ausgeschlossen.

SB: Nun habt ihr auch Mandatsträger aufgestellt. Wie steht ihr generell zu Listen, daß Kandidaten darüber Positionen bekommen?

SH: Ich weiß nicht, wie das andere Piratenparteien halten. Für uns in Österreich kann ich sagen, daß wir für Jobs Ausschreibungen machen, daß also nicht irgend jemand, nur weil er auf einer Liste steht oder schon lange dabei ist, den Posten kriegt, sondern er bekommt den Posten, wenn er dafür geeignet ist und eine Mehrheit sagt: Wir wollen, daß er das macht. Aber das wird nicht vorgeschrieben.

SB: Wie ist der augenblickliche Status der Piraten in Österreich?

SH: In letzter Zeit hatten wir einige personelle und auch organisatorische Probleme, aber jetzt ist ein Neustart gemacht mit viel Unterstützung aus der deutschen und Schweizer Piratenpartei sowie von den Piraten ohne Grenzen. Wir sind jetzt dabei, unsere Infrastruktur gemeinsam wieder aufzubauen und gewinnen gerade durch die letzten positiven Ereignisse sehr viele neue Mitglieder. Wir hatten letztens allein bei Facebook 500 Freundschaftsanfragen an einem Tag. Weil wir jetzt eben auch medial stärker in Erscheinung treten, interessieren sich mehr Leute für uns, zumal man uns bis jetzt in den österreichischen Medien ziemlich verschwiegen oder über uns teilweise nicht sehr glücklich berichtet hat. Deswegen ist es gut, daß mittlerweile viele Medien zu uns kommen und die Menschen so einen besseren Einblick kriegen oder sich überhaupt dafür interessieren, was bei uns passiert.

SB: Wie siehst du die weitere Zukunft für euch?

SH: Wir bereiten gerade den EU-Wahlkampf vor, der jede Menge Vorlaufzeit braucht, und haben mit dem Verband der deutschsprachigen Piratenpartei, das heißt D.A.CH (BRD, Österreich, Schweiz) einen gemeinsamen Wahlauftritt verabredet, weil sich die Zusammenarbeit bewährt hat. Das ist ein großes Ziel für die Zukunft und betrifft natürlich auch alle Wahlen, die dazwischenliegen. Ansonsten bauen wir unser Programm ständig weiter aus mit der Möglichkeit für jeden, bei uns mitzumachen.

SB: Was bedeutet dieses Event hier für dich persönlich und für die Piraten?

SH: Es gibt uns die hervorragende Möglichkeit, erstens Kontakte zu knüpfen und auch zu sehen, wie sich die Wünsche und Pläne von NGOs gestalten, die im selben Themenfeld wie wir unterwegs sind, und zum anderen herauszufinden, wie wir uns gegenseitig unterstützen können, vor allem hier in Brüssel, wo eben die Entscheidungsträger sitzen. Es ist auch für die Piraten wichtig, solche Plätze kennenzulernen, weil wir vielleicht demnächst einen Abgeordneten hierher schicken.

SB: Und für dich persönlich?

SH: Für mich persönlich geht es darum, die Piratenpartei so erfolgreich wie möglich zu machen und auch bei uns das Liquid-Democracy-Tool auf die Beine zu stellen und wieder voll einsatzfähig zu werden. Das ist das erste Hauptziel und das nächste für mich, daß wir bei den kommenden Wahlen gut abschneiden.

SB: Hast du noch eine Botschaft für Deutschland?

S: Ja, "Piraten!".

SB: Sylvester, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnoten:

[1] http://wiki.piratenpartei.at/Bundesvorstand

[2] http://www.wahlen-berlin.de/wahlen/BE2011/ergebnis/karten/zweitstimmen/ErgebnisUeberblick.asp?sel1=1052&sel2=0651

[3] http://www.bsa.org

Sylvester Heller auf dem Place d'Albertine - Foto: © 2011 by Schattenblick

Sylvester Heller
Foto: © 2011 by Schattenblick

2. November 2011