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INTERVIEW/030: Sparfalle Griechenland - Die doppelte Last ... Anke Kleinemeier im Gespräch (SB)


Der sozialen Krise eine Stimme geben

Interview am 10. April 2014 in Hamburg-St. Pauli



Dr. med. Anke Kleinemeier ist Ärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und praktiziert in einer Gemeinschaftspraxis in Hamburg-Bahrenfeld. Als Teilnehmerin einer Delegation der Hamburger Griechenland Solidaritätsgruppe des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ) berichtete sie in einer Veranstaltung [1] unter dem Titel "Sparkurs kann tödlich sein" über den desolaten Zustand des griechischen Gesundheitswesens und die bedrängte Lage von Flüchtlingen. Im Anschluß beantwortete Anke Kleinemeier dem Schattenblick einige Fragen.

Auf dem Podium vor Projektionswand - Foto: © 2014 by Schattenblick

Anke Kleinemeier beim Vortrag, sitzend: Christian Haasen, Agis Agorastos, Helga Neugebauer
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Kleinemeier, Frauen und Mütter werden durch humanitäre Krisen häufig am härtesten getroffen. Konnten Sie dies auch in Griechenland feststellen?

Anke Kleinemeier: Ich hatte engen Kontakt zu einer Mutter mit drei kleinen Kindern, der in Piräus Strom und Wasser abgestellt wurden und die dadurch in eine prekäre Situation gekommen ist. Sie konnte ihre Kinder nicht adäquat versorgen und mußte daher auf die Hilfe ihrer Familienangehörigen zurückgreifen. Laut dem Lancet-Artikel [2] ist die perinatale Sterblichkeit in Griechenland im letzten Jahr deutlich gestiegen. Ich hatte ebenfalls Kontakt zur größten Entbindungsklinik des Landes und konnte so erfahren, daß die Frauen die Entbindung selber bezahlen und Migrantinnen sogar das Doppelte entrichten müssen. Es gibt zwei bekannte Fälle, wo den Müttern ihre Neugeborenen vorenthalten wurden, mit der Drohung, sie solange nicht zurückzubekommen, bis die Rechnung bezahlt sei. Aufgrund einer breiten Protestbewegung durch die solidarischen Praxen konnte verhindert werden, daß die Drohung umgesetzt wurde. Möglicherweise wird dies auch davor schützen, daß es nochmal zu solchen erpresserischen Maßnahmen seitens der Krankenhausträger kommt.

SB: Gibt es in Griechenland eine Versorgung durch Hebammen, die notfalls auf kostengünstigere Weise einspringen könnten?

AK: In Griechenland ist die Situation so ähnlich, wie ich sie aus Lateinamerika kenne, nämlich daß die Hebammen in der Regel zum Entbinden in die Kliniken gehen. Jedenfalls gibt es in Griechenland keine freiberuflichen Hebammen, wie wir es aus Deutschland kennen. Ein Geburtshelfer hat mir erzählt, daß früher viele Frauen, auch wenn sie versichert waren, mit ihrem privaten Gynäkologen oder der Gynäkologin zur Entbindung in die Krankenhäuser gegangen sind. Das nimmt jetzt natürlich massiv ab, weil sich das kaum noch jemand leisten kann. Die Frauen gehen in die Krankenhäuser, wo dann in Kooperation zwischen den Gynäkologen bzw. Gynäkologinnen und den angestellten Hebammen die Entbindung vorgenommen wird. Weil kein freiberufliches Hebammensystem existiert, gibt es übrigens auch keine nennenswerte Stillrate. Die Frauen stillen tragischerweise früh ab und benutzen Milchpulver, was in der momentanen Situation natürlich doppelt grotesk ist.

SB: Trifft es zu, daß in Griechenland heute eine Zweiklassenmedizin besteht?

AK: In Griechenland gibt es eine Elite, die privat zahlt und sich eine umfassende medizinische Versorgung leisten kann. Die Krankenversicherten hingegen müßten so hohe Zuzahlungen erbringen, daß sie mit ihren geringen Gehältern oder Renten ihre Gesundheitskosten nicht bestreiten können. Und diejenigen, die nicht mehr versichert sind, werden ohnehin nicht mehr versorgt, weil sie alles selber bezahlen müßten, was schon deshalb nicht geht, da sie aus dem Lohnsystem herausgefallen oder als Migrantinnen und Migranten dazugekommen sind. Das heißt, in Griechenland gibt es ganz klar eine Zweiklassenmedizin zwischen denjenigen, die sich die medizinische Behandlung schlichtweg privat kaufen, und denjenigen, die nur noch das rudimentär existierende öffentliche System wahrnehmen können. Die Gruppe der Nichtversicherten taucht in der Gesundheitspflege gar nicht auf, weil sie weder den Zugang zur staatlichen Versorgung noch das Geld für die private Versorgung hat.

SB: Und wo kaufen die Leute die privaten Gesundheitsleistungen?

AK: Früher war es so, daß die Ärzte, die im öffentlichen System angestellt waren, nebenher noch Praxen betrieben. Von denen sind zunehmend Leute auf den rein privaten Sektor umgestiegen, weil sie entweder ihre staatliche Einstellung verloren oder sich eine lukrative Privatpraxis aufgebaut haben. Es gibt aber auch eine hohe Abwanderung von griechischen Ärztinnen und Ärzten zum Beispiel nach Deutschland, weil sie keine Privatpraxis aufbauen wollten oder konnten.

SB: Wäre es nicht möglich, eine Basisversorgung für die Bevölkerung zu etablieren, um der Not wenigstens die Spitze zu nehmen?

AK: Wenn Griechenland ein steuerfinanziertes statt eines krankenkassenfinanzierten Systems hätte, wäre der Staat zu hundert Prozent in der Schuld, die Versorgung im Gesundheitssektor zu gewährleisten. So aber zieht der Staat seinen Geldanteil heraus, und die Versicherungen haben zu wenig Input, um es umzusetzen.

SB: Wie erklären Sie sich, daß die Bundesregierung in Anbetracht der humanitären Situation nicht darauf drängt, die finanzielle Basis der Gesundheitsversorgung in Griechenland umzustellen?

AK: Weil der deutschen Regierung die Gesundheit der Griechen völlig egal ist und sie ein Sparprogramm im öffentlichen Bereich durchsetzen will. Ob bei Bildung, Gesundheit oder Verkehr gespart wird, ist der Regierung hier bei uns gleichgültig. Die Regierungen der reichen europäischen Länder wollen, daß mit den Troika-Geldern die Banken gestützt werden, damit das ganze System, in dem auch das deutsche Finanzkapital drinhängt, nicht zusammenbricht, wenn die griechischen Banken wirklich bankrott gingen. Das hätte sicherlich auch für die eine oder andere deutsche Bank Konsequenzen. Deswegen denken die führenden europäischen Staaten nur an ihre eigene wirtschaftliche Sicherheit und fordern, daß das Geld für die Tilgung der griechischen Schulden aus dem öffentlichen Sektor kommt. Was mit der Bevölkerung passiert, ist ihnen offensichtlich völlig egal.

SB: Andererseits befürwortet die Bundesregierung humanitäre Interventionen in Ländern, deren Bevölkerungen staatlicher Gewalt ausgesetzt sind. Wie kann es sein, daß die BRD in einer so offensichtlichen Notlage, wie sie in Griechenland herrscht, die humanitären Gesichtspunkte über Bord wirft?

AK: Weil das deutsche System davon profitiert. Wenn jetzt ein Krieg zwischen Griechenland und einem Nachbarland ausbräche, und es für die deutsche Regierung opportun wäre, Rüstungsgüter in die Krisenregion zu exportieren, dann würde sie auch das befürworten. Es geht immer um die eigenen wirtschaftlichen Interessen. Da wird keineswegs EU-mäßig als Gemeinschaft gedacht, sondern nationalstaatlich im Sinne der eigenen Industrie und deren Profite. Es geht nicht darum, daß die Versorgung der Bevölkerungen innerhalb der EU auf einen vernünftigen Sockel gestellt wird, was bei einer Gemeinschaft normal wäre, um einen gleichen Standard an Bildung, Gesundheit und öffentlicher Infrastruktur zu erreichen.

SB: Die Bundesregierung geht gegenüber der eigenen Bevölkerung zumindest die Verpflichtung ein, eine egalitäre Gesundheitsversorgung sicherzustellen.

AK: Es scheint so zu sein, weil unser Versicherungssystem durch die eingezahlten Gelder noch stabil ist. Aber wenn wir hier in Deutschland eine hohe Arbeitslosigkeit hätten und im Topf unseres Versicherungssystems zu wenig Geld wäre, würde das Versprechen schnell platzen. Das geht im Augenblick nur, weil der monetäre Input die Lasten trägt.

SB: Halten Sie es tatsächlich für möglich, daß in Deutschland bei einer entsprechenden ökonomischen Voraussetzung ähnliche Zustände wie in Griechenland herrschen könnten?

AK: Das wäre der amtierenden deutschen Regierung, glaube ich, genauso egal wie der Regierung in Griechenland.

SB: Frau Kleinemeier, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] BERICHT/014: Sparfalle Griechenland - Genötigt, vertrieben, ausgeliefert (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0014.html

[2] http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(13)62291-6/fulltext#article_upsell

23. April 2014