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INTERVIEW/045: Irlands neuer Widerstand - Aufstand der Dachlosen ...    Rory Hearne im Gespräch (SB)


Interview mit Rory Hearne, Dublin, 10. Januar 2017


In Irland herrscht trotz guter Wirtschaftsdaten extreme Wohnungsnot. Wer abends durch die Innenstadt von Dublin geht, kann die vielen Obdachlosen, die in irgendwelchen Ladeneingängen zu schlafen versuchen, nicht übersehen. Gleichzeitig gibt es viele Aktivisten, welche nicht nur im Winter in Dublin und anderen Städten nachts unterwegs sind, um die obdachlosen Mitbürger mit Schlafsäcken, Essen, heißen Getränken, sauberer Unterwäsche und Medikamenten zu versorgen. Doch irgendwann hat auch karitative Zuwendung ihr Ende. Am 16. Dezember haben Freiwillige der Gruppe Home Sweet Home, unterstützt vom Gewerktschaftsführer Brendan Ogle, dem Filmregisseur Jim Sheridan und den Musikern Glen Hansard, Damien Dempsey und Hozier, das Apollo House im Herzen Dublins besetzt, um über Weihnachten rund 80 Obdachlose von der Straße zu holen und ein Zeichen des Protests gegen die menschenfeindliche Politik der eigenen Regierung zu setzen. Am 10. Januar sprach der Schattenblick in Dublin mit dem politischen Ökonomen Dr. Rory Hearne von der linksalternativen Denkfabrik TASC, der sich in den letzten Jahren als Publizist und Aktivist gegen soziale Ungerechtigkeit einen Namen gemacht hat, über den Wohnungsmangel in Irland und die Bedeutung der Apollo-House-Aktion.


Rory Hearne im Porträt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Rory Hearne
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick: Doktor Hearne, könnten Sie uns vielleicht erklären, wie es dazu kommen konnte, daß Irland, das beim Platzen der Immobilienblase 2008 einen enormen Überhang an Wohnraum hatte, seit einigen Jahren unter enormer Wohnungs- und Obdachlosigkeit leidet?

Rory Hearne: Meines Erachtens liegt die eigentliche Urquelle der aktuellen Krise in der einseitigen Ausrichtung des Staats auf ein privatwirtschaftliches, spekulatives Modell des Wohnungsbaus. Wir befinden uns heute in einer Situation, die dadurch entstanden ist, daß während der Boomjahre des sogenannten Keltischen Tigers ein Großteil der Bautätigkeit im Wohnungssektor mittels Steuervergünstigungen angestoßen worden war. Nicht wenige dieser Fiskalanreize waren von den Lokalbehörden aufgelegt worden und daher regional-spezifisch. Zum Zwecke der Ankurbelung der Wirtschaft und der Schaffung der Vollbeschäftigung wurden unzählige Wohnviertel in Landstrichen errichtet, wo die Bevölkerungszahlen eine entsprechende Nachfrage einfach nicht hergaben. Daher lagen später nicht umsonst die meisten leerstehenden Wohnsiedlungen, die sogenannten ghost estates, in Regionen, die von vornherein niedrig bevölkert und nicht in der Nähe der großen urbanen Zentren wie Dublin, Cork oder Galway waren. Der Grund für die unzähligen unbesetzten Häuser nach dem Platzen der Immobilienblase ist also, daß diese einerseits zum Zwecke des schnellen Geldes, das die verschiedenen Steuerabschreibemodelle versprochen hatten, und andererseits völlig ungeachtet der fehlenden Nachfrage nach Wohnraum vielfach in ländlichen Gebieten errichtet worden waren.

Das Ganze fußt auf einem weit fundamentaleren Problem. Seit mehr als 30 Jahren verfolgt Irland im Bereich Wohnungsbau ein Wirtschaftsmodell, das sich an dasjenige Großbritanniens orientiert. Wie dort nach der Vorgabe der Regierung Margaret Thatchers ab 1979 sind die staatlichen Bestände an Sozialwohnungen privatisiert und an Unternehmen oder die Bewohner verkauft worden. Gleichzeitig zog sich der Staat weitgehend aus dem sozialen Wohnungsbau zurück und überließ die Schaffung neuen Wohnraums dem privaten Sektor. Dies führte dazu, daß während der Endphase der Immobilienblase in Irland der Anteil des staatlich organisierten sozialen Wohnungsbaus nur einen winzig kleinen Prozentanteil des errichteten Wohnraums darstellte.

Die Republik Irland hat sich also voll und ganz der neoliberalen Wirtschaftsideologie, wonach die Privatwirtschaft am effektivsten die Bedürfnisse der Menschen, in diesem Fall die Nachfrage nach Wohnraum, decken könne, verschrieben. Deshalb hat die Zentralregierung in Dublin jahrelang verzichtet, wie sonst auf dem europäischen Festland, sich um eine Mietpreisbindung zu kümmern und übermäßige Mietsteigerungen zu verhindern. Die explodierenden Mieten haben während des Baubooms wiederum für einen horrenden Preisanstieg auf dem Wohnungsmarkt gesorgt. Des weiteren hat die irische Zentralbank in Absprache mit der Regierung der ausufernden Kreditvergabe durch die einheimischen Banken tatenlos zugesehen. Man darf auch nicht die Rolle der europäischen, speziell der deutschen und französischen, Banken außer acht lassen, die auf der Suche nach hohen Renditen und dank der Niedrigzinspolitik der EZB ebenfalls die Immobilienblase in Irland mit riesigen Mengen billigen Geldes zusätzlich anheizten.

Nach dem für alle Beteiligten schmerzhaften Zusammensturz des finanztechnischen Kartenhauses haben wir in Irland mehrere Jahre schwerer Austeritätspolitik erlebt. Die Regierung hat quasi über Nacht die Schulden aller irischen Banken und großen Bauunternehmen verstaatlicht und sie den einfachen Steuerzahlern aufgebürdet. Gleichzeitig ist durch den eingetretenen, mehrjährigen Stillstand im Bausektor die wichtigste Steuerquelle des Staats zum Versiegen gekommen. Durch diese beiden Faktoren geriet Irland an den Rand des staatlichen Bankrotts und mußte sich Ende Dezember 2010 um Finanzhilfe an die Troika aus EU-Kommission, IWF und EZB wenden, die dafür ihrerseits schwere Kürzungen der staatlichen Ausgaben, Privatisierung staatlicher Betriebe und Vermögenswerte sowie drastische Steuer- und Gebührenerhöhungen zur Bedingung für das Rettungspaket machten.

Infolge dessen ist das staatliche Engagement beim sozialen Wohnungsbau, der in Irland von der Zentralregierung und nicht auf der regionalen Ebene gesteuert wird, vollkommen weggebrochen. Die staatlichen Investitionen in jenem Sektor sind von einer Milliarde Euro jährlich vor dem Crash danach fast auf null gesunken. Wurden noch vor der Finanzkrise in Irland jährlich zwischen 3000 und 4000 neue Sozialwohnungen gebaut, ist die Zahl 2015 auf 75 geschrumpft. 2016 waren es ganze 117 Wohneinheiten. Also ist es zu einem massiven Rückgang des sozialen Wohnungsbaus infolge der von der Regierung verfolgten Austeritätspolitik gekommen.


Außenansicht des trostlosen, neunstöckigen Bürogebäudes aus den 60er Jahren - Foto: © 2017 by Schattenblick

Apollo House an der Dubliner Tara Street
Foto: © 2017 by Schattenblick

Gleichzeitig löste der Crash auch einen dramatischen Anstieg der Zahl von Menschen, die in Zahlungsschwierigkeiten mit ihren Häuserdarlehen geraten sind, aus. Etwa 100.000 Haushalte in Irland - im europäischen Vergleich ein enormer Prozentsatz - sind aufgrund Arbeitsplatzverlust, strengerer Regeln seitens der Banken bei der Kreditvergabe sowie einer allgemeinen Erhöhung der Zinsen in Zahlungsrückstand geraten. Nicht wenige von ihnen mußten ihre Häuser räumen und an die Banken zurückgeben, wodurch sie wiederum auf der Straße standen und ein neues Dach über den Kopf suchten. Für diese Menschen, vielfach sozialhilfebedürftig, sollte aus Sicht der Regierung der private Mietwohnungsmarkt die Rettung sein. Es wurden Programme aufgelegt wie die Rental Accomodation Scheme (RAS) und die Housing Assistant Payment (HAP), die dazu gedacht waren, Menschen mit niedrigen Einkommen Miethilfzuschüsse zu gewährleisten. Dadurch ist extrem viel Geld, das in den Bau von Sozialwohnungen besser hätte investiert werden können, in die Taschen der Eigentümer von Mietwohnungen und Hotels geflossen. Weil Menschen, die früher eine staatliche Sozialwohnung zugewiesen bekommen hätten, in den privaten Wohnungsmarkt gedrängt wurden, sind dort natürlich die Mieten regelrecht explodiert. Ein weiterer Faktor waren die vielen jungen Menschen, darunter Ehepaare, die vielleicht vor dem Crash mittels eines Darlehens ein Eigenheim zwecks Familiengründung gekauft hätten und denen aufgrund restriktiver Kreditvergabe und/oder ihres niedrigen Lohns diese Möglichkeit plötzlich versperrt war. Sie drängten auch auf den privaten Wohnungsmarkt und trieben die Mieten noch weiter in die Höhe. Bezeichnenderweise hat es die irische Regierung während dieser Phase etwa zwischen 2008 und 2013 vollkommen versäumt, für eine Mietpreisbindung wie etwa in Deutschland, um die Mieten unter der Kontrolle zu halten, zu sorgen. Erst 2014 sah man sich endlich gezwungen, die Mietpreisbindung einzuführen.

Es waren also mehrere Faktoren, der Crash, die Austeritätspolitik und eine neoliberale Wirtschaftsorientierung, welche zur aktuellen Krise im Wohnungssektor geführt haben. Wenig hilfreich war auch die Art und Weise, wie die Regierung das Problem der umfangreichen, kreditbelasteten Immobilien der pleite gegangenen Banken und Bauunternehmen zu bewältigen versuchte. Sie hat im Dezember 2009 eine Bad Bank namens National Assets Management Agency (NAMA) kreiert, welche die toxischen Vermögenswerte der rettungsbedürftigen Finanzinstitute und deren größten Kunden in der Bauindustrie übernahm.

2010 hat NAMA von Irlands Banken Darlehen und verschiedene Außenstände, die einen ursprünglichen Buchungswert von 70 Milliarden Euro aufwiesen, für 35 Milliarden Euro gekauft. Im Auftrag der Regierung sollte NAMA durch den Verkauf dieser Immobilien für den Staat die ausgegebenen 35 Milliarden Euro wieder hereinholen. Der Verkauf der Vermögenswerte begann 2011, hat aber erst 2014 durch den Auftritt der sogenannten Geierfonds auf dem irischen Immobilienmarkt richtig an Fahrt zugenommen. Jene Finanzhäuser wie Blackstone, Cerberus und Lone Star, die vor allem aus den USA kommen, haben gerade in den letzten drei Jahren in Irland Abertausende Wohnungen, Läden, Fabriken und leerstehende Grundstücke zu Spottpreisen gekauft. Das Erscheinen solcher Geldhäuser hat die Nachfrage nach Wohnraum, die in Irland aufgrund der hierzulande im europäischen Vergleich hohen Geburtenrate ohnehin stark ausgeprägt ist, zusätzlich angeregt.

Im Großraum Dublin und der umliegenden Grafschaften Meath, Kildare und Wicklow ist die Nachfrage nach Wohnungen am stärksten. Gleichzeitig findet man allein in der Stadt Dublin rund 30.000 leerstehende Wohnungen. Fragt man sich, wie das angehen kann, dann kommt man als Antwort auf den prinzipiellen Ansatz der irischen Politik und Wirtschaft, Wohnraum als Handelsgut, das Vermögende horten und mit ihm Spekulationsgeschäfte treiben können, statt das Wohnen als Menschenrecht, dessen Einlösung für ein gesundes Gesellschaftswesen nötig ist, zu behandeln. Jener Ansatz hat in den neunziger und nuller Jahren zu einem wahren Tsunami beim Wohnungsbau geführt - nicht, um Menschen ein Dach über den Kopf zu verschaffen, sondern primär als Geldanlage. Viele Leute haben Zweitwohnungen gebaut bzw. gekauft, um sie zu vermieten, ihr eigenes Einkommen damit zu erhöhen bzw. von den Einnahmen leben zu können. Ausländisches Kapital hat, wie vorhin erwähnt, das Phänomen befeuert.


Menschenandrang und Transparente vor dem Eingang zum Parkhaus des Apollo House - Foto: © 2017 by Schattenblick

Home-Sweet-Home-Aktivisten brechen am 3. Januar zum Marsch auf das Finanzministerium auf
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Gestern abend ist beim staatlichen Fernsehsender RTÉ zur besten Sendezeit die Dokumentation "The Great Irish Sell Off" über den Aufkauf unzähliger Immobilien in Irland durch institutionelle Großinvestoren aus Übersee ausgestrahlt worden und hat eine lebhafte öffentliche Debatte zu diesem Thema ausgelöst. Ist es aus Ihrer Sicht in diesem Zusammenhang überhaupt sinnvoll, wie es die Dokumentationsmacher taten, zwischen Geierfonds und den Real-Estate-Investment-Trusts zu unterscheiden?

RH: Nun, der Unterschied zwischen beiden Unternehmensformen ist nicht unwichtig. Geierfonds sind hauptsächlich an Profitmaximierung in kürzester Zeit interessiert. Wenn irgendwo eine Flaute im Markt herrscht - typischerweise in Krisenländern - tauchen sie auf, kaufen belastete Vermögenswerte billig auf, halten diese, bis die Preise wieder ansteigen, und stoßen sie dann mit einem fetten Gewinn ab. Im Gegensatz dazu werden die Real-Estate-Investment-Trusts, auch REITs genannt, als Anleger gesehen, die langfristige Interessen verfolgen und nicht auf dieselbe schnelle und hohe Rendite wie die Geierfonds aus sind.

Zweifelsohne sind die Geierfonds, die zahlreiche Immobilien und Liegenschaften in Irland aufgekauft haben, ein Problem. Das zeigen die Zahlen von NAMA, die seit ihrer Gründung Grundstücke hält, auf denen bis zu 20.000 Wohnhäuser gebaut werden könnten, doch dort sind bisher lediglich fünf Prozent dieser Wohnungen entstanden. Es ist offensichtlich, daß die Interessen, die jene Parzellen aufgekauft haben, sie horten und damit Spekulationsgeschäfte betreiben - was wiederum die aktuelle Krise anheizt. Gleichwohl spielen auch die REITs eine Rolle bei der Verschärfung der Krise auf dem irischen Wohnungsmarkt. Einige Kommentatoren halten solche Institutionen für positive Akteure. Ich dagegen sehe ihr Engagement in Irland kritischer. Sie locken große Kapitalinteressen in den irischen Wohnungs- und Immobilienmarkt hinein mit dem Ziel ordentlicher Renditen.

Ein Beispiel dafür ist die Firma Kennedy Wilson Holdings, die vor kurzem zusammen mit anderen REITs bei der Dubliner Regierung gegen die geplante Einführung einer Mietpreisbindung vorgesprochen hat und sich, sobald sie unvermeidlich war, dafür stark machte, daß sie nicht weniger als vier Prozent betragen würde. Des weiteren werden die REITs von Vermögenden als Anlagemöglichkeit genutzt, mittels derer man Steuern sparen bzw. vermeiden kann. Unsere Regierung glaubt, daß die Lösung beider Probleme, das des Verkaufs der NAMA-Immobilien sowie des Wohnungsmangels, durch die verstärkte Aktivität internationaler Kapitalinteressen im irischen Markt zu erzielen ist. Ich halte das für einen neoliberalen Trugschluß. Statt das Platzen der Immobilienblase und die Bankenkrise als Beweis für das Scheitern einer neoliberalen Wirtschaftspolitik anzuerkennen und die Gelegenheit zu ergreifen, etwas anderes als das Modell des keltischen Tigers zu entwickeln, werden die gleichen Fehler einfach wiederholt. Dabei wäre die Schaffung von NAMA die ideale Chance, über eine ganze andere, eigenständigere Wohnungsbaupolitik und über die Schaffung von Siedlungen nachzudenken, bei denen es eine optimale Mischung aus für den Normalsterblichen bezahlbaren Privathäusern und Sozialwohnungen gibt.

Als sich in den letzten Jahren die irische Wirtschaft langsam erholte, hätte man den Verkauf der NAMA-Immobilien nicht mehr, wie ursprünglich geplant, forcieren müssen, sondern sie auch sinnvoll zur Entspannung des Wohnungsmarktes steuern können. Das haben die Behörden in Dublin aber mutwillig versäumt und statt dessen stur die große Versteigerung weiter betrieben und dem internationalen spekulativen Großkapital den roten Teppich ausgerollt. Ich halte diesen Ansatz der irischen Regierung, wonach man ein staatliches Engagement bei der Schaffung von Wohnraum partout vermeiden und diese wichtige gesellschaftliche Aufgabe privaten Kapitalinteressen überlassen sollte, für grundverkehrt und kurzsichtig. Im Gegensatz zur irischen Politelite halte ich Wohnen für ein Grundrecht und Wohnraum für keine Handelsware.

Das Problem war, daß die Regierung die Bereinigung des Immobilienmarkts und den raschen Verkauf der Immobilien und sonstigen Vermögenswerte der irischen Banken und Bauunternehmen als den einzigen Weg sah, die inländische Konjunktur wiederzubeleben und international Vertrauen für die irische Volkswirtschaft zu erzeugen. Deswegen hat Dublin nichts unternommen, als ausländisches Kapital gleich nach Beginn der wirtschaftlichen Belebung nach Irland hineingeflossen ist. Im Gegenteil, sie hat diese Entwicklung durch verschiedene Steueranreize angekurbelt. Auf diese Weise sollte sich Irland den internationalen Märkten als Musterschüler präsentieren, der die Verwerfungen im Immobiliensektor zügig behoben habe und bei dem ausländische Investoren ihr Geld wieder gewinnbringend anlegen könnten. Was die Regierung aber nicht erkennen wollte und wovor einige Experten, ich eingeschlossen, gewarnt haben, war, daß die sogenannte Erholung sozial völlig unausgewogen war, einzig den Wohlhabenden zugute kam, während sie den Armen und sozial Benachteiligten weitere Belastungen aufbürdete.


Protestler samt Transparenten mit Apollo House im Hintergrund - Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Demonstrationszug formiert sich in der Tara Street
Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Preis dafür, die Geierfonds ins Land zu holen, ist die soziale Verwüstung: Mieten und Grundstückspreise schießen erneut in die Höhe, die Wohnungsnot nimmt wieder zu, Obdachlosigkeit und überschuldete Haushalte in einem noch niemals dagewesenen Ausmaß. Die Regierung Irlands hat sich meiner Meinung nach für den falschen Weg entschieden. Statt sich um die Bedürfnisse der eigenen Bürger, vornehmlich der schwächeren Schichten, zu kümmern, hat sie alles daran gesetzt, sich dem internationalen Großkapital, vertreten durch EZB, EU-Kommission, IWF und Wall Street, zu unterwerfen. Der aktuelle Wohnungsmangel ist ein Ergebnis dieser Fixierung auf das Ziel der Reduzierung der Staatsschulden und der Verbesserung der irischen Bonität. Die aktuelle Wirtschaftserholung in Irland ist nicht nachhaltig, denn sie fußt auf einer Wohnungskrise, die sich noch drastisch zu verschlechtern droht.

SB: Wie schätzen Sie den Ausgang der Besetzung von Apollo House ein? Offenbar hat die Kampagne und die große öffentliche Resonanz darauf die Regierung in die Defensive gebracht. Könnte der Erfolg der Aktion den Auftakt zu einer Änderung der bisherigen Wohnungsbaupolitik markieren?

RH: Der Wohnungsmarkt und die damit verbundenen Problemen sind seit dem Crash zu einem der wichtigsten politischen Themen geworden. Wie bereits gesagt, weist Irland im europäischen Vergleich den höchsten Prozentsatz an Haushalten aus, die bei der Bank mit ihrem Darlehen für das Eigenheim in schweren Rückstand gerieten. Dafür ist in Irland im Vergleich zu den anderen EU-Staaten wie zum Beispiel Spanien die Zahl der Zwangsräumungen und der Wiederinbesitznahmen von Wohnungen einigermaßen niedrig geblieben - jedenfalls bisher. Dies ging zunächst auf eine Gesetzgebung zurück, welche die Wiederinbesitznahme von Wohnungen durch die Banken schwierig machte. Erst durch den vom Parlament verabschiedeten Land and Conveyancing Reform Act 2013 wurde der Schutz der Wohnungsinsassen gelockert und die Räumungsmöglichkeiten der Finanzinstitute gestärkt. Gleichwohl gab es bei der Regierung den Wunsch, Zwangsräumungen im großen Stil zu vermeiden, weil dies Erinnerungen an die bekannten historischen Missetaten englischer Großgrundbesitzer im 19. Jahrhundert geweckt hätte und politisch nicht durchzustehen gewesen wäre. Massenräumungen von Familien aus ihren Eigenheimen hätten in Irland zu schweren Ausschreitungen und eventuell einer Revolution geführt, so jedenfalls das Kalkül der Politik.

Langsam aber sicher nimmt jedoch die Zahl der Wiederinbesitznahmen zu. Im vergangenem Jahr wurden in der Republik Irland mehr als eintausend Familien von den Gläubigern auf die Straße gesetzt. Aktuell sind in Irland etwa 35.000 Haushalte mit den Ratenzahlungen für ihre Wohnungen mehr als zwei Jahre im Rückstand. All dieser Menschen sind durch die Zwangsräumung in den kommenden Monaten akut gedroht. Wie ich bereits erläutert habe, verschärft die wirtschaftliche Erholung durch steigende Miet- und Grundstückspreise diese unheilvolle Entwicklung. Die stabsplanmäßige Besetzung von Apollo House ist der bisherige Höhepunkt eines zunehmenden Aktivismus gegen Obdachlosigkeit und Wohnungsmangel, der sich in den letzten Jahren zunächst auf der kommunalen, regionalen Ebene bemerkbar gemacht hatte. Verschiedene Selbsthilfegruppen und Organisationen sind entstanden, die Familien, denen die Zwangsräumung droht, im Kampf gegen die Gläubiger und deren Handlanger unterstützen, sie juristisch beraten und ihnen manchmal sogar vor Gericht beistehen. Es hat auch eine Reihe von Fällen gegeben, wo Aktivisten öffentliche Proteste durchgeführt und somit durch physische Anwesenheit Zwangsräumungen verhindert haben. Gruppen wie Housing Action Now und The Irish Housing Network, die Obdachlose betreuen und versuchen, sie von der Straße zu holen, haben sich inzwischen überregional organisiert. Die Besetzung von Apollo House, das seit 2010 leer steht und demnächst abgerissen werden soll, war daher nicht nur eine Maßnahme zur Linderung der Obdachlosigkeit in Dublin, sondern auch ein wichtiger symbolischer Akt.


Der Protestzug zieht an der Kreuzung Nassau Street/Kildare Street vorbei - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Demonstranten sind im Regierungsviertel angekommen
Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Zunahme der Obdachlosenzahlen hängt unmittelbar mit dem fehlenden Mieterschutz im privaten Mietwohnungssektor zusammen. Nach dem Gesetz können Vermieter ihre Mieter relativ problemlos kündigen und loswerden. Vor dem Hintergrund steigender Preise muten in letzter Zeit immer mehr Grundherren ihren Mietern saftige Mieterhöhungen zu. Wenn letztere diese nicht leisten können, werden sie gekündigt und die Wohnung an zahlungskräftigere Kunden vermietet. Die Zahlen sind erschreckend. In Dublin allein hat sich im vergangenem Jahr im Vergleich zu 2015 die Anzahl der Kinder in Notunterkünften auf mehr als 2000 glatt verdoppelt. Vor Weihnachten hat das Bild von 3000 Menschen, die vor einer karitativen Einrichtung in Dublin um Essenspakete Schlange standen, die irische Öffentlichkeit schockiert.

In den ersten Jahren nach Beginn der Krise waren die meisten Menschen in Irland wie betäubt. Die vielen Zwangsmaßnahmen der Troika zur angeblichen Gesundung der Wirtschaft und der Staatsfinanzen haben sie widerspruchslos hingenommen - von den Hunderttausenden einmal abgesehen, die in die USA, nach Großbritannien, Australien oder Neuseeland ausgewandert sind. Erst die Einführung von Wassergebühren, welche die meisten als ungerechte Steuer und ersten Schritt in Richtung Privatisierung der irischen Wasserressourcen empfanden, hat den Geist des irischen Widerstands wieder geweckt.

Die Kampagne um Apollo House ist aus den Wasserprotesten und dem Aktivismus angesichts der humanitären Krise auf dem irischen Wohnungsmarkt entstanden. Es kamen Aktivisten, Gewerkschaftler, Künstler und Intellektuellen zusammen, welche Obdachlosigkeit und Wohnungsmangel nicht mehr widerspruchslos zu akzeptieren bereit sind, die Zeit für ein großes Zeichen dagegen gekommen sahen und entsprechend gehandelt haben. Die Besetzung einer Immobilie der staatlichen Einrichtung NAMA war naheliegend und hatte enorme Symbolkraft. NAMA verfügt über 6000 leerstehende Wohnungen, zahlreiche Bürokomplexe und ausreichend Grundfläche zum Bau von 20.000 Wohnungen. Statt ihre Ressourcen einzusetzen, um den Bedarf an bezahlbarem Wohnraum zu decken und die Wohnungsnot zu beheben, verscherbelt NAMA ihre Liegenschaften zu Billigpreisen an ausländische Investoren. Jenes Verhalten wollten die Aktivisten mit der Besetzung von Apollo House an den Pranger stellen.

Die massive und positive öffentliche Resonanz auf die Aktion zeigt, daß die große Mehrheit der Menschen in Irland den Umgang der Regierung und NAMA mit dem Problem Wohnungsnot für absolut unzureichend hält, um es milde auszudrücken. Die öffentliche Unterstützung für eine Aktion, die formell gesehen illegal war, hat die Aktivisten selbst positiv überrascht und die Regierungskoalition aus national-konservativer Fine Gael und parteiunabhängigen Abgeordneten in politisches Bedrängnis gebracht. Jüngste Umfragen zeigen eine deutliche Mehrheit auf der Seite der Apollo-House-Besetzer, die weitere solche Aktionen für gerechtfertigt hält, um die Obdachlosen von der Straße zu holen. Hier spielen die irische Geschichte sowie Emotionen sicherlich eine Rolle.

Gleichzeitig sind aber viele Menschen durch die Wohnungskrise betroffen und sei es nur indirekt, weil sie Freunde oder Verwandte kennen, die ihre Häuser verloren haben oder zu verlieren in Gefahr sind. Viele junge Erwachsene wohnen noch bei ihren Eltern, weil sie Niedriglohnbezieher sind und sich keine eigene Wohnung leisten können geschweige denn ein Darlehen von der Bank für ein Eigenheim bekommen würden. Noch mehr Menschen macht es traurig, jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit oder wieder auf dem Heimweg die vielen Obdachlosen überall in den Innenstädten mit ihren Schlafsäcken und paar Habseligkeiten sehen zu müssen.

Ein Drittel der irischen Bevölkerung gilt inzwischen offiziell als arm oder durch Armut bedroht, was eine Verdopplung des Prozentsatzes vor der Finanzkrise ist. Die meisten Menschen haben keine finanzielle Rücklagen. Verlören sie den Arbeitsplatz, wären sie innerhalb von zwei bis drei Monaten selbst durch Obdachlosigkeit gefährdet. Daher rührt die große öffentliche Zustimmung, welche die Apollo-House-Aktion der Gruppe Home Sweet Home hervorgerufen hat. Es hat eine enorme Welle der Solidarität gegeben. Tausende freiwillige Helfer haben sich gemeldet. Aufgrund der großen Unterstützung wenige Tage vor Weihnachten, dem Fest der Liebe und der Familie, kam die Regierung in Handlungszwang und mußte sich auf die Forderungen der Aktivisten einlassen. Der erzielte Kompromiß sah die Räumung von Apollo House im Einklang mit einem entsprechenden Urteil des High Court bis zum 11. Januar vor. Dafür haben im Gegenzug der zuständige Minister Simon Coveney und Dublin City Council nach langen Verhandlungen mit Vertretern von Home Sweet Home neue Unterbringungsmöglichkeiten für jene Obdachlosen, die in Apollo House vorübergehend eingezogen waren, geschaffen und konkrete Maßnahmen zur Linderung der Wohnungsnot in der Hauptstadt bis Juli in Aussicht gestellt. Bis dahin sollen keine Familien mit Kindern in Notunterkünften leben, sondern eine eigene Wohnung bezogen haben.

Ich denke, daß die Apollo-Haus-Aktion eine wichtige Etappe im sozialen Kampf in Irland markiert. Sie hat gezeigt, daß die einfachen Bürger durch Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung selbst für eine Lösung gesellschaftlicher Probleme sorgen bzw. die Politik unter enormen öffentlichen Druck und zum Handeln zwingen können.


Umringt von Polizei und Presse halten Aktivisten Reden auf den Stufen des irischen Finanzministeriums - Foto: © 2017 by Schattenblick

Apollo-House-Besetzer reichen Petition mit der Forderung der Nutzung der NAMA-Immobilien zur Behebung der Wohnungsnot beim Finanzministerium ein
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Also gehen Sie davon aus, daß das Beispiel Apollo House im ganzen Land Schule machen wird?

RH: Ja, das tue ich. Die öffentliche Resonanz hat gezeigt, daß es eine breite Unterstützung in der Gesellschaft für eine radikale Kursänderung in der Wohnungspolitik Richtung Recht auf Wohnen gibt. Die Aktivisten, die Gewerkschaften und die Künstler wollen den Schwung von Apollo House nutzen, um weitere Aktionen zu starten. Angesichts der vielen drohenden Zwangsräumungen ist mit einem Erstarken der Bewegung gegen Wohnungsnot und Obdachlosigkeit fest zu rechnen. Gelingt die Vernetzung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Freiwilligenorganisationen, sehe ich keinen Grund, warum die Bewegung gegen Wohnungsmangel nicht zu einer politischen Kraft wird, an der in Irland künftig niemand mehr vorbeikommt.

SB: Der Kampf um soziale Gerechtigkeit müßte sich demnächst auch auf die Krise im irischen Gesundheitswesen erstrecken. Zum Jahreswechsel ist es zum wiederholten Mal aufgrund einer Grippewelle zu skandalösen Zuständen in den irischen Krankenhäusern mit langen Wartezeiten für Patienten und Fluren voller erkrankten Menschen auf Stühlen oder in irgendwelchen Feldbetten gekommen.

RH: Dem kann ich nur zustimmen. Die katastrophale Lage im irischen Gesundheitssystem ist genauso wie im Wohnungssektor die Folge einer langjährigen neoliberalen Wirtschaftspolitik, bei der staatliche Einrichtungen und Institutionen kaputtgespart wurden, um den Weg für den Auftritt privater Kapitalinteressen in den verschiedenen Sektoren zu ebnen. Die öffentliche Kritik an den schlechten Zuständen in den Krankenhäusern ist massiv und reißt nicht ab. Mit den unterbezahlten und überarbeiteten Krankenschwestern und Ärzten hat man viel Mitleid - und mit den Kranken in den Wartesälen und Fluren erst recht. Von daher kann ich mir eine Ausweitung des sozialen Kampfs gegen die Mißstände in diesem Bereich auch gut vorstellen.

SB: Ist es nicht so, daß im Zuge der Wasserproteste der Prozentsatz der Bevölkerung in Irland, die auf die Straße demonstrieren ging und sich aktiv am politischen Geschehen beteiligte, der höchste in Europa geworden ist?

RH: So ist es. Nach Jahren der Apathie und der Schockstarre nach dem Crash ist der Widerstandsgeist der Iren wieder aufgewacht. Die Bewegung in Irland gegen die Einführung von Wasserzählern mit regelmäßigen Umzügen unter Beteiligung jeweils von mehr als 100.000 Menschen war auf die Bevölkerung gerechnet die größte Protestwelle, welche die EU seit Beginn der Finanzkrise gesehen hat. Parallel dazu gab es eine sehr starke Mobilisierung in der Fläche. Überall, in den Dörfern auf dem Lande sowie in den Siedlungen der Städte, schossen kleine Aktivistengruppen aus dem Boden, welche sich der Installierung der Wasserzähler durch private Bautrupps widersetzten und sich auch durch die Anwesenheit der Polizei oder Verhaftungen nicht einschüchtern ließen.

Wie ich in der Vergangenheit geschrieben habe, hat die sozial unausgewogene Austeritätspolitik der Regierung seit dem Crash die Augen sehr vieler Menschen geöffnet und zu einer Radikalisierung weiter Teile der Gesellschaft geführt. Die Bürger Irlands haben begriffen, daß sich die Politiker für die Belange der einfachen Menschen nicht interessieren, es sei denn, es stehen unmittelbar Parlamentswahlen an. Aufgrund dieser Erkenntnis ist eine neue Protestkultur entstanden, so wie man sie in der irischen Republik seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Der gesellschaftliche Konflikt spitzt sich zu. Die Mehrheit der Iren will eine soziale gerechte Gesellschaft, während sich die politische Elite der Durchsetzung eines Systems der radikalen freien Marktwirtschaft verpflichtet hat. Der Zusammenprall ist also vorprogrammiert.

SB: Recht vielen Dank, Rory Hearne, für das Interview.


Transparent listet erscheckende Zahlen zur Wohnungsnot in Irland auf - Foto: © 2017 by Schattenblick

Irlands Schande
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bisherige Beiträge zur irischen Protestwelle im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → REPORT:

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17. Januar 2017


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