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AUSSENHANDEL/208: Brücke statt Barriere, Südeuropa und Nordafrika können voneinander profitieren (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. Februar 2012

Handel: Brücke statt Barriere - Südeuropa und Nordafrika können voneinander profitieren

ein Gastbeitrag von Robin Niblett und Claire Spencer*


London, 7. Februar (IPS/IDN**) - Zu Anfang 2012 sieht sich Europa gleich mit zwei Krisen konfrontiert. Neben der fortgesetzten Instabilität der Eurozone besteht das Risiko, dass die arabischen Aufstände implodieren könnten, sollten sich die wirtschaftlichen Hoffnungen der Menschen nicht erfüllen.

Die Entscheidungsträger der Europäischen Union richten ihr Augenmerk auf die erste Krise: auf die Zukunft des Euro. Doch täten sie gut daran, sich die Verbindung zwischen den beiden Krisen zu vergegenwärtigen. Das Mittelmeer trennt das reiche Europa vom armen Nordafrika in einer Zeit, in der eine Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen zur Lösung beider Krisen beitragen könnte.

Ein entscheidender Teil des Euro-Problems ist die Sorge auf den Kapital- und Finanzmärkten, dass die EU in einen global wettbewerbsfähigen Norden und einem nicht wettbewerbsfähigen Süden auseinander fallen könnte. Welchen kurz- oder langfristigen Lösungsvorschlägen die EU auch zustimmen wird - die südeuropäischen Länder Griechenland, Italien, Portugal und Spanien werden in der Zwangsjacke der Eurozone um eine größere Wettbewerbsfähigkeit kämpfen müssen. Den Euro aufzugeben wäre für alle viel zu riskant. Wohin sollen diese Länder blicken, um in Zukunft wachsen zu können?

Ein Teil der Antwort ist bei den Staaten selbst zu finden. Doch stellt sich die Frage, wie schnell sich ein Wachstum durch eine Deregulierung der lokalen Arbeitsmärkte, Privatisierung von Staatsunternehmen, Reform des Bildungs- und Wohlstandsstaates und Verbesserung der staatlichen Verwaltung erreichen lassen. In Anbetracht der vielen Wettbewerbsvorteile, die sich nordeuropäische EU-Länder wie Deutschland und die Niederlande im letzten Jahrzehnt verschaffen konnten, müssen die südeuropäischen Länder schon mit mehr aufwarten.

Plan B könnte so aussehen, dass Nordafrika zu einem Außengebiet der europäischen Wirtschaftszone gemacht würde. Südeuropäische EU-Staaten mit strukturellen Wettbewerbsnachteilen könnten ihre Wettbewerbsfähigkeit ausbauen und zum Tor für den Handel mit und für Investitionen in Nordafrika werden, das wiederum mit einem Lohnniedrigsektor in der Weiterverarbeitung und Landwirtschaft aufwarten kann.


Schnelles Wachstum

Zum Beispiel könnten international konkurrenzfähige spanische, italienische und französische Agrounternehmen davon profitieren, die Agrarexporte Marokkos und Tunesiens in eine längere Kette des gegenseitigen Nutzens einzubeziehen. Griechenland, Italien und Spanien könnten ferner als Kanäle für eine besser integrierte europäische Nord-Süd-Infrastruktur von Transport- und Energieverbindungen dienen. Mit Hilfe von EU-Auslandsdirektinvestitionen in die Region Nordafrika ließen sich diese Verbindungen herstellen.

Die Erfahrungen, die die EU mit der Integration der zentraleuropäischen Staaten seit den 1990er Jahren gemacht hat, zeigen, dass mit Phantasie und Eigeninteresse beiden Seiten des einst geteilten Europas geholfen werden kann. Deutschland hat von der Nachbarschaft und der Öffnung seiner Märkte für Zentral- und Osteuropa profitiert. Ließe sich eine solche Dynamik im Mittelmeerraum auch nur ansatzweise erzeugen, wären die Auswirkungen enorm. Man braucht sich nur die rasante Zunahme an US-Investitionen in Mexiko nach Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens von 1994 absehen.

Ein solcher Schritt wäre ein entscheidender Bruch mit der Vergangenheit. 2010 hatte der EU-Handel mit den Mittelmeeranrainern außer der Türkei lediglich einen Anteil von knapp fünf Prozent seines gesamten Außenhandels ausgemacht. Allein der Handel mit der Türkei und seinen 79 Millionen Bürgern betrug 3,6 Prozent, der EU-Handel mit Ägypten und seinen 85 Millionen Bürgern hingegen weniger als ein Viertel dieses Prozentsatzes (0,8 Prozent).

Ein Grund dafür ist, dass die wirtschaftliche und politische Stabilität der Türkei seit den turbulenten und inflationären 1980er Jahren die Ausbildung einer breiten unternehmerischen Klasse erlaubte, die trotz ihrer oftmals bescheidenen Herkunft dennoch die Gelegenheit zu nutzen verstand, sich dem europäischen Wirtschaftsraum anzuschließen und sich somit in die Weltwirtschaft zu integrieren.


Geringer Handel

Die nordafrikanischen und arabischen Mittelmeerländer kämpfen noch immer um eine Diversifizierung und Ausweitung ihres Wirtschaftssektors fernab von Privilegien und Protektionismus. Dies hat dazu geführt, dass die EU in andere aufstrebende Märkte investierte. Die europäischen Auslandsdirektinvestitionen (FDIs) in Nordafrika lagen Ende 2009 bei 47 Milliarden Euro oder 1,5 Prozent der FDIs aller 27 EU-Länder. In Asien hingegen beliefen sie sich auf 413 Milliarden Euro oder 12,7 Prozent und in Zentralamerika einschließlich Mexiko auf 297 Milliarden Euro oder 9,1 Prozent.

Die Gefahr besteht nun, dass sich diese Zahlen weiter verschlechtern. Denn die politische Instabilität in Nordafrika schafft neue Unsicherheit, und die wirtschaftliche Talfahrt in Europa beeinträchtigt den regionalen Handel. Aus strategischen und wirtschaftlichen Gründen sollte die EU erneut über das nachhaltige Potenzial des Mittelmeerraums als regenerierte Produktions- und Handelszone nachdenken. Und das nicht nur weil der Niedergang der Wirtschaftswachstumsraten in Nordafrika für Europa zu einem ernsten Problem werden könnten, sondern weil die EU selbst über Mittel und Wege nachdenken muss, wie sie ihr eigenes Wachstumspotenzial wiedererlangt.

Europa sieht sich mit dem Wettbewerb der asiatischen und lateinamerikanischen Märkte konfrontiert, die scheinbar die besten exportbasierten Lösungen für das Wachstumsdefizit der Eurozone anbieten. Auf lange Sicht jedoch wird sich die Wettbewerbsfähigkeit dieser aufstrebenden Märkte, die auf jungen und zunehmend produktiven Arbeitskräften beruht, negativ auf die alternden und urbanisierten Sozialmarktsysteme der EU auswirken.

Die EU Kommission und der Europäische Außenaktionsdienst haben eine Partnerschaft für Demokratie und geteilten Wohlstand im südlichen Mittelmeerraum ins Leben gerufen, die Initiativen zur Verringerung oder Abschaffung von EU-Zöllen auf einige nordafrikanische Agrarerzeugnisse, zur Förderung industrieller Kooperativen zugunsten von Investitionen und zur Sondierung neuer transmediterraner Transport- und Energienetzwerke beinhalten.

Die Europäische Investitionsbank erweitert ihren Kreditrahmen für die Mittelmeerländer im Zeitraum 2011 bis 2013 um ein Drittel, während die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Geschäfte in der (mediterranen) Region stärker als bisher fördert.


Europäische Schwächen

Allerdings werden die EU-Angebote nicht von dem Gedanken getragen, dass ein gemeinsamer Ansatz beide Seiten gleichermaßen wirtschaftlich nach vorne bringt. Sie sind noch viel zu sehr der Sprache des Wohlwollens verhaftet, die die Belange der armen südlichen Nachbarn nicht berücksichtigt. Es fehlt der Sinn dafür, dass die vorgeschlagenen Initiativen sehr wohl dazu beitragen könnten, die strategische Anfälligkeit Europas für einen strukturellen Verlust der eigenen Wettbewerbsfähigkeit in der eigenen Peripherie auszugleichen.

Somit besteht die Gefahr, dass diese neuen EU-Initiativen zusammen mit anderen wie dem Barcelona-Prozess von 1995 und der Union für das Mittelmeer von 2008 bestimmten wirtschaftlichen Interessen zum Opfer fallen. In den südlichen EU-Staaten werden es die Agrarproduzenten und Teile der Textilindustrie angesichts einer drastischen Öffnung der Märkte schwer haben. Die Unternehmen in Nordafrika, die eine Übernahme ihrer eigenen geschützten Märkte durch EU-Firmen fürchten, werden ihre eigenen Hindernisse aufbauen.

Doch inzwischen hat sich der Kontext verändert. Wenn in Spanien die Jugendarbeitslosigkeit ebenso hoch ist wie in Nordmarokko und wenn die allgemeinen Arbeitslosenraten in Spanien, Griechenland und Portugal die der meisten nordafrikanischen Länder übersteigen (auch wenn ein großer Teil der Beschäftigung der Region informell, unsicher und schlecht bezahlt ist), müssen unbedingt Alternativen gefunden werden. Angesichts der Gefahr, dass Spanien und Italien 2012 in eine Rezession abrutschen, ist die Dringlichkeit, langfristige Antworten auf die Krise zu finden, offensichtlich.

Im eigenen Sicherheits- und Wohlstandsinteresse und im Interesse Nordafrikas und anderer arabischer Nachbarn sollte die EU Südeuropa darin unterstützen, seinen Blick wieder in Richtung Süden zu lenken und die zwei Krisen bewältigen, die sie derzeit als eine abhandelt. (Ende/IPS/kb/2012)

* Robin Niblett ist Direktor von 'Chatham House', Claire Spencer Leiterin des Nahost- und Nordafrika-Programms der in London ansässigen Denkfabrik.

** Der von 'Global Cooperation Council' und 'Globalom Media' erstellte IDN-InDepthNews ist Partner von IPS-Deutschland unter dem Dach von GlobalNewsHub.Net


Links:
http://www.chathamhouse.org/publications/twt/archive/view/181837
http://www.indepthnews.info/index.php/global-issues/715-bridge-southern-europe-and-the-mediterranean

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 7. Februar 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2012