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ENERGIE/063: Die Herausforderung der Zeit nach dem Erdöl (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - März 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Die Herausforderung der Zeit nach dem Erdöl

Von Yves Sciama


Es gibt heutzutage nicht mehr viele Menschen, die die Bedrohungen - oder für Optimisten auch Herausforderungen - in Frage stellen, denen sich die Menschheit gegenübersieht. Die offiziellen Institutionen schließen sich nun auch den bekannten Gesellschaftskritikern an und bekräftigen, dass die derzeitige Entwicklung nicht länger vertretbar ist und dass wir ins Verderben laufen, wenn nicht endlich tief greifende Änderungen vorgenommen werden. Aber welche? Brauchen wir mehr oder weniger internationalen Handel, Marktwirtschaft, Vorschriften? Welche Technologien, welche sozialen Praktiken sollten verstärkt oder, im Gegenteil, verhindert werden? Will man das gemeinsame Projekt, das die Menschheit so dringend braucht, auf demokratische Weise auf die Beine stellen, bedarf es einer entschlossenen Debatte ohne Vorurteile und Tabus. Als bescheidenen Beitrag haben wir drei international anerkannten Persönlichkeiten aus ganz unterschiedlichen Bereichen einige für unsere gemeinsame Zukunft entscheidende Fragen gestellt. Sie haben diese Fragen völlig unabhängig voneinander beantwortet. Ihre Antworten wurden von uns zusammengestellt und bieten dem Leser eine Quelle aufschluß- und sehr facettenreicher Ideen.


RESEARCH*EU: Glauben Sie, dass sich die hohen Ölpreise durch gewisse aktuelle Umstände erklären lassen, oder werden sie anhalten?

VANDANA SHIVA: Diese Preise sind logisch und absolut nicht auf gewisse Umstände zurückzuführen. Alle unabhängigen Experten sind der Meinung, dass wir die Phase des Ölfördermaximums bereits erreicht haben oder dass sie zumindest kurz bevorsteht. Da die Ölgesellschaften peinlichst darauf achten, unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, halten sie sich über den genauen Zustand ihrer Reserven bedeckt. Inzwischen ist die Wahrheit aber ans Licht gekommen.

CLAUDE MANDIL: Es ist zwar nicht unmöglich, dass der Ölpreis bei einer Wirtschaftskrise kurzfristig kräftig nachberichtigt wird. Aber ich glaube, dass die Tendenz deutlich in Richtung hohe Erdölpreise geht, weniger aufgrund der mangelnden Vorkommen, sondern weil nicht ausreichend in die Förderung investiert wird. Der größte Teil der Erdölvorkommen befindet sich nämlich jetzt in den Händen nationaler Unternehmen (in Mexiko, Russland, im Mittleren Osten, im Iran usw.), denen Investitionen nicht wichtig sind. Wir erleben gegenwärtig ein Wiederaufleben des Ölnationalismus oder, allgemeiner formuliert, des Energienationalismus, der selbst in bestimmten Ländern Europas erkennbar ist. Nebenbei bemerkt ist die Zeit nach dem Erdöl bereits angebrochen. Wir haben ein Zeitalter betreten, in dem das Erdöl knapper, schwerer zugänglich und teurer wird.

ACHIM STEINER: Die gegenwärtig hohen Preise sind das Ergebnis des Zusammenspiels mehrerer Faktoren: Umfang der weltweiten Reserven, Weltwirtschaftswachstum, Politik der erdölproduzierenden Länder. Aber als Umweltschützer und Ökonom glaube ich, dass der Preis für fossile Brennstoffe die Kosten widerspiegeln sollte, die sie der Wirtschaft im weiteren Sinne verursachen - und wenn dem so wäre, wären die Preise sicher noch höher. Denn diese Brennstoffe erhöhen den Treibhausgasanteil in der Atmosphäre, was wiederum zu mehr extremen Naturereignissen und einem Anstieg des Meeresspiegels führt, so dass Ackerland verloren geht und Infrastrukturen zerstört werden. Ihre Verwendung führt auch zur Erhöhung des Schadstoffanteils in der Luft. Dieser ist maßgeblich für den Gesundheitszustand der Bevölkerung in den Städten verantwortlich und für den sogenannten sauren Regen, der die produktiven Ökosysteme, wie Wälder, Seen, Trichtermündungen oder Küsten, schädigt. Wir wissen, dass es noch lange fossile Brennstoffe geben wird: Handeln wir sie also zu ihrem wahren Preis. Das sollte dazu führen, dass sie so effizient wie möglich eingesetzt und alternative Energien entwickelt werden, angefangen bei Solarenergie bis hin zum Wasserstoff...


RESEARCH*EU: Glauben Sie auch wie die IEA, dass ein Ausbau der Verwendung von Kohle auf breiter Ebene unumgänglich ist? Könnten CO2-Abscheidung und -Lagerung (Carbon Capture and Storage, CCS) den katastrophalen Auswirkungen einer derartigen Entwicklung auf das Klima einigermaßen entgegenwirken?

V.S.: Ein verstärkter Einsatz von Kohle ist nur dann unvermeidbar, wenn wir weiterhin Energie verschwenden und wenn die Wirtschaft selbst dort industrielle Lösungen fördert, wo eigentlich auf sie verzichtet werden kann. In diesem Fall geht natürlich alles zur Kohle über, wenn Erdöl und Erdgas immer knapper werden. Ob die CCS-Technologie funktioniert, ist noch nicht bewiesen. Gase oder Flüssigkeiten (ebenso wie Gene!) in grossem Maßstab dort zu lagern, wo sie nichts zu suchen haben, bleibt für die Umwelt niemals folgenlos. Das würde u. a. dazu führen, dass die fossilen Brennstoffe noch länger verwendet werden, obwohl wir doch erneuerbare Energien fördern sollten - und wieder hätte die Menschheit Zeit verloren.

C.M.: Der zukünftige Ausbau der Kohleförderung ist klar abzusehen: Die Volkswirtschaften Chinas, Indiens und Nordamerikas beruhen hauptsächlich auf Kohle, die alle Vorteile vereint: günstiger Preis, reichliche Vorkommen, gute Verteilung usw. Ihr einziger Nachteil ist, dass sie zu viel CO2 abgibt. Daher gibt es nichts Wichtigeres, als die CO2-Abscheidung und -Lagerung zuwege zu bringen. Sicher ergeben sich dadurch technische und wirtschaftliche Probleme, die bisher noch nicht vollständig gelöst werden konnten, und zweifellos auch Probleme der sozialen Akzeptanz, um die sich die Regierungen bereits jetzt kümmern sollten. Es muss uns aber gelingen, da der Erde sonst schwere Tage bevorstehen. Außerdem darf man die Risiken nicht hochspielen: CO2 ist kein giftiges Produkt, sondern kommt natürlich in der Atmosphäre und im Boden vor.

A.S.: Das IPCC hat einen Sonderbericht zur CCS-Technologie herausgegeben und schätzt darin, dass zwischen 15 % und 55 % der zur Stabilisierung unserer Emissionen notwendigen Reduzierungen mit dieser Strategie erreicht werden könnten. Die Erde verfügt über eine riesige geologische Speicherkapazität, die bei einer Größenordnung von 2 000 Mrd. t Kohlendioxid liegt! Der wissenschaftliche Konsens legt den Schluss nahe, dass dieses Gas in flüssiger Form jahrtausendelang gespeichert werden kann, ohne dass es in die Atmosphäre zurückgelangt. Es müssen jedoch auch grundlegende Normen und gesicherte Verfahren ausgearbeitet werden: Die Energieerzeuger würden nämlich nicht in diese Technik investieren, wenn sie aufgrund von Entweichungsgefahren rechtlich belangt werden könnten. Am billigsten wäre es, wenn man diese Technologie Ländern wie China bereitstellen würde, damit sie sofort in neu gebaute Kraftwerke integriert werden kann und nicht erst später nachgerüstet werden muss.


RESEARCH*EU: Kann die CCS-Technologie über das System der Emissionsrechte finanziert werden? Oder allgemeiner ausgedrückt, befürworten Sie dieses System?

V.S.: Das System der Emissionsrechte ist sowohl ethisch inakzeptabel als auch wirtschaftlich ungeeignet. Es ist inakzeptabel, weil es letztendlich ein System ist, das den Verschmutzer belohnt - obwohl die internationale Gemeinschaft seit dem Gipfel von Rio das Verursacherprinzip eingeführt hat. Außerdem werden gerade alle möglichen Arten von widernatürlichen Vorkehrungen im Rahmen dieser Emissionsrechte getroffen, insbesondere der sogenannte Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung ("Clean Development Mechanism", CDM). Unter dem Deckmantel dieses Systems werden in China und Indien unglaublich viele umweltverschmutzende Tätigkeiten ausgeführt und man beglückwünscht sich dazu, ihren Verschmutzungsgrad um 10% gesenkt zu haben. Dabei werden aber völlig die Optionen außer Acht gelassen, die 100%ig sauber sind! In Indien können sogenannte Schwammeisenstahlwerke über CDM finanziert werden, obgleich sie aus ökologischer und sozialer Sicht verheerend sind. Außerdem ist das System der Emissionsrechte auch deshalb völlig ungeeignet, weil es auf dem industriellen Paradigma beruht. Dadurch kann es die Bedürfnisse der traditionellen Systeme nicht berücksichtigen, die auf erneuerbaren Energien basieren - es ignoriert folglich vollkommen die Bedürfnisse der Armen der Erde.

C.M.: Um CCS zu entwickeln, müssen dem in die Atmosphäre abgegebenen Kohlenstoff Kosten zugeordnet werden, damit es wirtschaftlicher wird, ihn einzulagern. Diese Kosten können durch eine Abgabe oder eine Rechtsvorschrift oder aber ein gebührenpflichtiges Emissionsrecht verursacht werden. Wobei mir die letzte Möglichkeit als die beste erscheint, denn sie ermöglicht die kostengünstige Umsetzung der Lösungen. Ich bin, was die Zukunft angeht, eher optimistisch: In Europa wurden sehr interessante Erfahrungen gemacht. Diese wurden zwar kritisiert, aber Europa diente auch als Versuchskaninchen; es wird daher sicher Verbesserungen geben und ich habe festgestellt, dass sich immer mehr Länder dafür interessieren. Man kann also in den kommenden Jahren einen starken Ausbau dieses Systems erwarten, selbst wenn es niemals universell einsetzbar oder perfekt sein wird und auch wenn es an besondere Umstände in bestimmten Ländern und Industriezweigen angepasst werden muss.

A.S.: Ein gut durchdachter Markt für Emissionsrechte könnte die Lagerung von Kohlenstoff fördern und zum effizienteren Einsatz von Kohle im Allgemeinen führen. Es wird Aufgabe der Politiker sein, zu entscheiden, ob ein derartiges System und eventuell besondere Erleichterungen für arme Länder eingerichtet werden. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass in vielen Ländern das Hauptproblem darin besteht, die Landbevölkerung trotz fehlender Energienetze mit Strom zu versorgen - und hier können sich Lösungen wie beispielsweise Sonnen- oder Windenergie als effektiv und kostengünstig erweisen.


RESEARCH*EU: Was ist von Biokraftstoffen zu halten, die so viel von sich reden machen?

V.S.: Der größte Teil der Armen der Welt verwendet Biomasse als Energiequelle - in dieser Auslegung ist der Begriff Biokraftstoffe kein Problem. Das Problem ist die Umwandlung der Pflanzen durch industrielle Verfahren in Ethanol und Biodiesel: Erstens, weil immer mehr Studien zeigen, dass die Produktion dieser Agrartreibstoffe mehr Energie verbraucht als sie einspart. Zweitens, und das ist der wichtigste Punkt, weil man bei dem Versuch, den Bedarf einer voll und ganz auf fossile Energie ausgerichteten Wirtschaft durch Zweckentfremdung von Nahrung und landwirtschaftlichen Flächen zu erfüllen, die Armen in eine enorme Krise stürzt. In Indien sieht ein jüngst verabschiedeter Regierungsplan vor, 11 Mio. Hektar Jatropha für die Produktion von Agrartreibstoffen anzubauen. Die Pflanzungen erfolgen zumeist auf Gemeinschaftsland, von dem die Bauern manchmal sogar mit Gewalt verjagt wurden. In der Praxis werden die Bedürfnisse der Armen mit Füßen getreten, damit die Reichen weiter in ihren Autos fahren können.

C.M.: Die IEA vertritt bereits seit Langem die Meinung, dass viele Kraftstoffe, die auf den Markt gebracht werden, in Wirklichkeit mehr Schaden anrichten als sie nützen. Die Idee, dass man, wenn man Biokraftstoffe verwenden will, diese auch auf seinem eigenen Territorium herstellen muss, ist absurd: Die kostenspezifischen und klimatischen Bedingungen in Europa machen diese Kraftstoffe zu teuer und zu CO2-emissionsintensiv. Ich befürchte, dass die Ziele der Europäischen Union auf nachhaltige Art und Weise nur schwer zu erreichen sind... Im Grunde ist es zweifellos das Beste, das Ethanol so lange aus Brasilien zu importieren, wo es unter besseren Bedingungen und billiger hergestellt wird, bis die zweite Generation von Kraftstoffen auf Holz- oder Pflanzenbasis auf den Markt kommt.

A.S.: Es müssen unbedingt Nachhaltigkeitskriterien ausgearbeitet und auf die Produktion von Biokraftstoffen angewandt werden. Es wäre ungerecht, wenn für die Einhaltung neuer europäischer oder nordamerikanischer Normen tropische Regenwälder abgeholzt werden, um dort Ethanol oder Biodiesel zu produzieren. Oder wenn landwirtschaftliche Flächen zweckentfremdet würden. Außerdem ist ein Bumerang-Effekt unvermeidlich, sollte es nicht gelingen, die Verbraucher vom umweltverträglichen Charakter dieser Produktion zu überzeugen. Trotzdem könnten Biokraftstoffe teilweise zum Klimaschutz beitragen und gleichzeitig den Bauern in Industrie- und Entwicklungsländern neue Einkommensquellen erschließen. Brasilien versichert, dass es seine Ethanolproduktion ohne zusätzliche Abholzungen steigern kann. Dieses Land konnte in der Tat trotz der angestiegenen Nachfrage nach Biokraftstoffen die Entwaldung in drei oder vier Jahren um 50% senken. Es ist also möglich.


RESEARCH*EU: Das Energiesystem der Schwellenländer erfährt gegenwärtig eine schnelle Entwicklung. Besteht die Chance, dass sie unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit erfolgt?

V.S.: Die Kräfte, die die Entwicklung der Energiewirtschaft in unseren Ländern [Indien usw. - Anm. d. Red.] in Richtung nicht-nachhaltiger Energien lenken, sind dieselben, die auch in den Industrieländern für eine vollständige Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen gesorgt haben. Diese Kräfte, insbesondere das Agribusiness oder die Automobilindustrie, erkennen jetzt die Möglichkeit einer Entwicklung ihrer Märkte in Ländern wie z. B. Indien. Bei uns wird zum Beispiel ein neues "Volksauto" angekündigt, das 2 500 US-Dollar kosten soll. Bei diesem Preis allerdings ist es nicht für das Volk: Denn nur knapp 5% der Inder werden es sich leisten können! Und das Werk, in dem es hergestellt wird, befindet sich genauso wie das Stahlwerk, das es beliefert, auf dem Land von Bauern, die teilweise sogar durch Gewaltanwendung enteignet wurden. Der Hafen, aus dem die Ersatzteile kommen, dringt in einen Mangrovenwald vor, der die Bevölkerung auf natürliche Weise vor Wirbelstürmen schützt. Ein anderes Beispiel: In Indien gehen wie auch in Europa und den USA alle Subventionen an die industrielle Landwirtschaft, die zehnmal mehr Energie verbraucht als der ökologische Landbau. 95% der Inder wollen dieses Energiesystem nicht, sie wollen einfach nur leben - was aber nur mit nachhaltigen Systemen möglich ist.

C.M.: In China ist eine sehr starke Bereitschaft zu erkennen, dieses Problem zu berücksichtigen. Ich glaube, dass dieses Land gewillt ist, große Anstrengungen bei der Entwicklung erneuerbarer Energien, von CCS und Kernenergie zu unternehmen - auch wenn alles zum Teil von den Verhandlungen der nächsten zwei Jahre abhängt. China ergreift bereits Maßnahmen für die Energieeffizienz: In diesem Land ist beispielsweise die Marktdurchdringung mit Energiesparlampen weltweit am größten. Bei den Kraftfahrzeugen basieren die Normen auf den europäischen Normen von vor zwei Jahren. Auf diesem Gebiet sind die Chinesen den Amerikanern um Längen voraus! Für die anderen Schwellenländer wird das sicher schwieriger; denn ihre Politik ist chaotischer als die Chinas. Wir müssen aber trotzdem hoffen, denn wenn wir scheitern, könnte die globale Erwärmung größere Ausmaße annehmen, als dies vom IPCC vorhergesagt wird, und horrende Anpassungskosten verursachen.

A.S.: Es gibt positive Anzeichen. China wird oft kritisiert, weil es ein Kohlekraftwerk nach dem anderen baut, aber oftmals werden dabei alte Installationen durch effizientere ersetzt. Südafrika und Brasilien verwenden jetzt Indikatoren für Nachhaltigkeit, und zwei der weltweit größten Unternehmen für erneuerbare Energien befinden sich in China und Indien. Aber natürlich muss der Technologietransfer in die Entwicklungsländer beschleunigt werden. Am Rande sei bemerkt, dass der Fahrplan von Bali, der als Grundlage für zukünftige Klimaverhandlungen dienen wird, ausdrücklich darauf Bezug nimmt. Und außerdem muss die Forschung beschleunigt werden: Während der letzten Ölkrise, Ende der 70er Jahre, wurde 1 Mrd. US-Dollar in die Solarforschung investiert - wodurch der Wirkungsgrad der Fotovoltaik um 50% erhöht werden konnte!


RESEARCH*EU: Kann uns Ihrer Meinung nach die Kernkraft bei einer erfolgreichen Energiewende helfen?

V.S.: Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, dass seit der Entdeckung der globalen Erderwärmung sämtliche Energien, die kein CO2 abgeben, "nachhaltig" geworden sind. Das gilt sicherlich nicht für die Kernenergie, da sie gefährlich ist und riesige Mengen Giftmüll produziert. Selbst Wasserkraft ist nicht immer nachhaltig: Es gibt in Indien eine starke Volksbewegung gegen die großen Staudämme, die - wie der Drei-Schluchten-Staudamm in China - die Flüsse zerstören, Erdrutsche und ein industrielles Risiko verursachen. 50 Millionen Inder wurden wegen der Staudämme umgesiedelt! In einem Land wie Indien sind kapitalintensive Energien nicht sehr geeignet: Wir müssen die lokalen Systeme erneuerbarer Energien, tierische Energie, Biomasse und Biogas, die bereits damals von Ghandi in großem Maßstab gefördert wurden, regenerieren.

C.M.: Die Atomenergie ist absolut unverzichtbar. Es ist mir unverständlich, wie man ernsthaft eine nachhaltige Entwicklung anstreben kann, ohne dabei die Kernenergie in den weltweiten Energiemix einzubeziehen. Leider könnte dieser Anteil in den nächsten 20 Jahren sinken, da viele Atomkraftwerke aus Altersgründen abgeschaltet und nicht mehr alle ersetzt werden. Es scheint mir jedoch in gewisser Weise widersprüchlich, wenn man wie Deutschland sowohl die CO2-Emissionen senken, nicht allzu sehr vom russischen Erdgas abhängig sein und gleichzeitig aus der Atomkraft aussteigen will! Ich glaube hingegen, dass man die Entwicklung der Atomenergie nicht in Ländern fördern sollte, die keine kompetente und vollkommen unabhängige Sicherheitsbehörde besitzen. Damit meine ich, dass sie in der Lage sein muss, ein gefährliches Kernkraftwerk auch gegen den Willen des Staatschefs zu schließen!

A.S.: Das bleibt abzuwarten. Atomkraft bringt die Gefahr proliferationsrelevanter nuklearer Tätigkeiten und terroristischer Aktivitäten und bereits sichtbare geopolitische Konflikte mit sich. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es bei Berücksichtigung der Kosten für den Bau von Kernkraftwerken, für ihre Demontage und für die Lagerung des Atommülls nicht sicher, ob die Kernenergie langfristig nicht mehr kostet als massive Investitionen in erneuerbare Energien.


RESEARCH*EU: Lässt sich eine nachhaltige Entwicklung erzielen, ohne dass wir zumindest in den reichen Ländern unseren Verbrauch senken, ja sogar ohne den Wachstumsbegriff in Frage zu stellen? Ist unser Wirtschaftssystem zu einer derartigen Entwicklung fähig?

V.S.: Ich glaube nicht, dass die Marktwirtschaft in der Lage ist, uns ohne eine ganze Reihe politischer Vorschriften und ohne die Unterstützung der nicht-intensiven Energieproduktionssysteme eine Zukunft zu geben. Wenn der Übergang in die Welt von morgen auf demokratische Weise, durch Diskussionen, Planung und Aufklärung erfolgt, kann dabei am Ende eine gerechtere Gesellschaft mit einem höheren Wohlstandsniveau entstehen. Wenn aber umgekehrt eine mächtige Elite weiterhin nicht-nachhaltige Wege erzwingt, um ein zukunftsloses System aufrechtzuerhalten, und dabei den Armen ihren Anteil an den Ressourcen verweigert, wird es zu einer Erosion und schließlich zur Zerstörung der Demokratie, zum Anstieg von Gewalt und einem wahren sozialen Zerfall kommen. Dem dominanten, zentralisierten Modell, das von einer Handvoll großer Unternehmen geleitet und durch Monokultur und Einförmigkeit geprägt ist, müssen wir ein Modell entgegensetzen, das auf Dezentralisierung und Diversität beruht. Hierfür benötigen wir aber auch einen ethischen Wandel. Was bedeutet es, sein Leben uneingeschränkt zu leben? Der Markt weiß auf diese Frage keine Antwort, darauf muss die Gesellschaft antworten.

C.M.: Es steht fest, dass wir tief greifende Veränderungen vornehmen müssen. Unter anderem bei unserer Energienutzung, wo wir glücklicherweise noch lange nicht alle Möglichkeiten zur Steigerung der Effizienz ausgenutzt haben. Auch im Transportsektor sind einige Umwälzungen notwendig: vielleicht Elektrofahrzeuge, vielleicht eine andere Form, den Individualtransport in Kombination mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu planen... Insbesondere muss aber der Zusammenhang zwischen Städtebauproblemen und Energieeffizienz neu überdacht werden. Zum Wachstum würde ich sagen, dass wir uns jetzt in unseren Ländern mit einer sehr niedrigen Rate zwischen 1 % und 3 % zufriedengeben müssen: Es ist klar, dass wird keine Wachstumsraten wie in der Nachkriegszeit mehr erreichen werden. Aber ich wüsste nicht, wie man den Schwellenländern erklären sollte, dass sie ihr Wachstum beschränken sollen, während das Pro-Kopf-Vermögen dort nur ein Fünftel bzw. ein Zehntel dessen der westlichen Ländern beträgt. Wahrscheinlich muss die Art und Weise geändert werden, mit der das Wachstum berechnet wird, um seine negativen Aspekte besser zu berücksichtigen, aber ich glaube, dass das Streben nach mehr Besitz, mehr Wohlstand, besserer Gesundheitsversorgung und Bildung noch lange anhalten wird. Und das lässt sich auch mit viel geringerem Energieverbrauch erfüllen.

A.S.: Das Problem besteht nicht darin, dass wir unsere wirtschaftliche Tätigkeit verringern, sondern dass wir unsere Ressourcen intelligenter einsetzen müssen. Von der Fischerei bis zur Energieerzeugung wurde bis jetzt bei unserer Entwicklung offensichtlich Raubbau mit den Ressourcen betrieben, der sicherlich nichts mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Aber es gibt positive Fortschritte. In einem kürzlich erschienenen Bericht des Umweltprogramms der Vereinigten Nationen (UNEP) wird geschätzt, dass die Investitionen in nachhaltige Energien, wie z. B. Windkraft und Sonnenenergie, künftig 100 Mrd. US-Dollar pro Jahr, d. h. 18 % der Gesamtinvestitionen in Energie, erreichen werden. Der Sektor der Finanzdienstleistungen zeigt ebenfalls wachsendes Interesse an Unternehmen, die sich für nachhaltige Entwicklung einsetzen. Mehr als 230 institutionelle Investoren stützen sich mit etwa 10 000 Mrd. US-Dollar auf die von Kofi Annan 2006 eingeführten "Principles for Responsible Investment". Dadurch wird das deutliche Signal an die Märkte gesendet, dass soziale Überlegungen, Umweltschutz und verantwortungsvolles Handeln die Hauptaspekte für Wirtschaft und Investitionen werden müssen. Anders ausgedrückt, die Art und Weise, wie wir Geschäfte machen, ist dabei, sich zu ändern - Grund hierfür ist zum Teil auch, dass die Märkte und Verbraucher einen derartigen Wandel fordern.


Vandana Shiva, 56 Jahre, ist Doktor der Physik und Wissenschaftsphilosophie. Die aus Indien stammende Schriftstellerin, Umweltschützerin und Feministin ist Vorsitzende einer globalisierungskritischen Bewegung auf internationaler Ebene, deren Engagement für die Natur und die Unterdrückten mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Sie leitet die Organisation Navdanya, die sich für eine umweltfreundliche Landwirtschaft einsetzt und sich bemüht, das traditionelle landwirtschaftliche Wissen neu aufleben zu lassen.

Claude Mandil, 66 Jahre, ist Ingenieur und machte seinen Abschluss an der renommierten École Polytechnique Française. Er leitete das Amt für geologische Forschungen und Bergbau (Bureau des Recherches Géologiques et Minières, BRGM), das französische Erdölinstitut (Institut Français du Pétrole, IFP) und war stellvertretender Generaldirektor bei Gaz de France. Er hat sich erst kürzlich von seinem Amt als Direktor der Internationalen Energieagentur (IEA) zurückgezogen, in dem er vier Jahre lang aktiv war. Daher hat er unsere Fragen in eigenem Namen beantwortet.

Achim Steiner, 47 Jahre, studierte Philosophie, Wirtschaft und Politikwissenschaften an der Universität Oxford und an der Harvard Business School. Er war Generalsekretär der 'World Commission on Dams' und leitete fünf Jahre lang die IUCN (International Union for Conservation of Nature), eine Umweltschutzorganisation, die auf dem Gebiet der Biodiversität weltweit als Maßstab dient. Seit Juni 2006 ist er Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms (UNEP).


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Weltweite Senkung der CO2-Emissionen im Jahr 2030 durch Ersatz der fossilen Energien und Energieeinsparungen.
Das Referenzszenario der Internationalen Energieagentur rechnet damit, dass der weltweite Primärenergiebedarf von 2005 bis 2030 um 50 % ansteigen wird, was einer jährlichen Wachstumsrate von durchschnittlich 1,8 % entspricht. Im Szenario der alternativen Politik steigt die weltweite Primärenergienachfrage von 2005 bis 2030 um 1,3 % pro Jahr - 0,5 Prozentpunkte weniger als im Referenzszenario. In einem Szenario mit starkem Wirtschaftswachstum, das auf der Annahme einer dynamischeren wirtschaftlichen Entwicklung in China und Indien basiert (durchschnittlich 1,5 Prozentpunkte mehr pro Jahr als im Referenzszenario), würde die Energienachfrage 2030 in diesen Ländern insgesamt mehr als 21 % betragen. Wie in dem Diagramm ersichtlich, macht die Effizienz beim Strom- und Kraftstoffendverbrauch zwei Drittel der im Jahre 2030 möglichen Reduktionen aus.


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Quelle:
research*eu Nr. Sonderausgabe - März 2008, Seite 4-8
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2007
Herausgeber: Referat Information und Kommunikation der
GD Forschung der Europäischen Kommission
Chefredakteur: Michel Claessens
Redaktion: ML DG 1201, Boîte postale 2201, L-1022 Luxembourg
Telefon: 0032-2/295 99 71, Fax: 0032-2/295 82 20
E-Mail: research-eu@ec.europa.eu
Internet: http://ec.europa.eu./research/research-eu

research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2008