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VERKEHR/041: Der Mittlere Korridor und der Krieg (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 16. September 2022
german-foreign-policy.com

Der Mittlere Korridor und der Krieg

Pläne zum Ausbau eines Verkehrskorridors (Mittlerer Korridor) aus Europa nach China heizen die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan an.


ANKARA/BERLIN - Der geplante Ausbau eines Verkehrskorridors aus Europa nach China im Interesse der EU heizt die Spannungen zwischen Aserbaidschan und Armenien an und war womöglich ein Motiv für den Überfall aserbaidschanischer Truppen auf Armenien zu Wochenbeginn. Bei der Transportroute handelt es sich um den "Zangezur-Korridor", der aus Aserbaidschan über armenisches Territorium in Richtung Westen führt. Die Strecke wäre die kürzeste und kostengünstigste Verbindung aus der Türkei zum Kaspischen Meer. Aserbaidschan leitet das Recht, den Korridor nutzen zu dürfen, aus dem Waffenstillstandsabkommen nach dem Krieg zwischen ihm und Armenien im Herbst 2020 ab. Dies ist allerdings umstritten. In Aserbaidschan heißt es nun, der jüngste Überfall auf Armenien habe auch der Durchsetzung des Zangezur-Korridors gegolten. Der Konflikt um die Transportroute betrifft auch die EU, die sich zur Zeit bemüht, eine Alternative zur Hauptroute der Neuen Seidenstraße aus China nach Europa aufzutun; diese führt über Russland. Wichtigste Alternative ist der Mittlere Korridor, der aus China über Kasachstan, das Kaspische Meer und den Südkaukasus in die Türkei führt. Er quert Aserbaidschan.

Eine Alternative zu Russland

Der sogenannte Mittlere Korridor für Transporte zwischen China und Europa ist in jüngster Zeit auf erheblich gesteigertes Interesse gestoßen. Ursache ist, dass die bislang überwiegend genutzte Nordroute über russisches und belarussisches Territorium verläuft; mit dem Ukraine-Krieg ist das zum Problem geworden. Die Transporte über die Nordroute sind nicht völlig zum Erliegen gekommen, aber deutlich geschrumpft; bereits im Juni war von einem Rückgang von 40 Prozent oder mehr die Rede.[1] Als Mittlerer Korridor wird die Route aus China nach Kasachstan, dann über das Kaspische Meer nach Aserbaidschan sowie weiter durch Georgien bis in die Türkei bezeichnet. Containerzüge benötigen für die Strecke gewöhnlich 13 bis 14 Tage - deutlich weniger als die gut vier Wochen, die der Seetransport von der chinesischen Ostküste durch den Indischen Ozean sowie den Suezkanal bis nach Istanbul braucht.[2] Bisher wurden mehr als 90 Prozent der Fracht über die Nordroute transportiert. Über den Mittleren Korridor liefen im Jahr 2021 lediglich 535.000 Tonnen. Im laufenden Jahr ist das Volumen nach Angaben der Organisation TITR (Trans-Caspian International Transport Route) schon erheblich in die Höhe geschnellt; die TITR rechnet mit einem Jahresvolumen von 3,2 Millionen Tonnen.[3]

Über das Kaspische Meer

Mittlerweile befasst sich auch die EU in wachsendem Maß mit dem Mittleren Korridor. Dies gilt nicht nur für den Gütertransport per Zug bzw. Container, sondern zunehmend auch für den Erdöltransport. Kasachstan ist fünftgrößter Erdöllieferant der EU, bisher aber bei seinem Export weitgehend auf das Pipelinesystem Russlands angewiesen. Auch dies erweist sich wegen des Ukraine-Krieges bzw. des westlichen Wirtschaftskriegs gegen Russland als ernste Schwierigkeit; schon mehrmals ist es zu Unterbrechungen bei der Lieferung kasachischen Erdöls gekommen. In Brüssel wird nun diskutiert, größere Mengen kasachischen Erdöls über das Kaspische Meer nach Aserbaidschan zu liefern, von wo aus es per Pipeline in Richtung Mittelmeer geleitet werden könnte.[4] Dazu müsste Kasachstans Infrastruktur ausgebaut werden, was allerdings jenseits des Ölsektors ohnehin geplant ist, um die Kapazitäten des Mittleren Korridors, beispielsweise in den kasachischen Häfen am Kaspischen Meer, zu vergrößern. In Brüssel heißt es, für den Ausbau des Mittleren Korridors könnten Beträge aus dem 300 Milliarden Euro schweren Infrastrukturprogramm Global Gateway genutzt werden, das die EU aufgelegt hat, um gegen Chinas Neue Seidenstraße zu konkurrieren.[5]

Der Zangezur-Korridor

Für den Ausbau des Mittleren Korridors ist in Aserbaidschan und der Türkei seit geraumer Zeit die Nutzung des Zangezur-Korridors im Gespräch.[6] Dabei handelt es sich um eine Route, die aus Aserbaidschan über armenisches Territorium - entlang der armenisch-iranischen Grenze - in Aserbaidschans westlich gelegene Exklave Nachitschewan führt. Nachitschewan wiederum grenzt unmittelbar an die Türkei. Der Zangezur-Korridor besitzt gegenüber der bislang genutzten Strecke über Georgien den Vorteil, dass er kürzer ist, was die Kosten für den Bau sowie die Nutzung zusätzlicher Straßen und Eisenbahnschienen reduziert.[7] Aus türkischer Sicht gilt darüber hinaus als vorteilhaft, dass der Transport ans Kaspische Meer zu einer Angelegenheit alleine zwischen der Türkei und Aserbaidschan würde. Aserbaidschan ist der Türkei eng verbunden: Beide Länder haben alte historische Bindungen; die aserbaidschanische Sprache weist darüber hinaus starke Ähnlichkeiten mit der türkischen Sprache auf. Nationalisten in beiden Ländern verwenden für das Verhältnis zwischen Aserbaidschan und der Türkei oft die Formel "eine Nation, zwei Staaten".[8]

Streit um die Transportroute

Bislang wird die Nutzung des Zangezur-Korridors allerdings durch den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan blockiert. Aserbaidschan hat den Zugang zu dem Korridor im Krieg vom Herbst 2020 freigekämpft; zuvor hatte ihn die international nicht anerkannte Republik Arzach (Berg-Karabach) kontrolliert. In dem Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 ist die Nutzung des Zangezur-Korridors als Verbindungsglied zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan skizziert; über die Interpretation des Wortlauts und über dessen Umsetzung gibt es aber Streit. Dabei geht es etwa um die Frage, ob Armenien Straßen- und Schienenfahrzeuge kontrollieren darf, die durch den Korridor fahren. Zudem fürchten Armenien und Iran, ein faktisch von Aserbaidschan kontrollierter Korridor entlang ihrer Grenze werde sie real voneinander abschneiden.[9] Die Spannungen, die seit 2020 um den Zangezur-Korridor schwelen, sind zuletzt immer heftiger entbrannt. Insbesondere in Aserbaidschan wird der Konflikt immer wieder als eine der Ursachen des jüngsten aserbaidschanischen Überfalls auf Armenien - in der Nacht von Montag auf Dienstag dieser Woche - genannt.[10]

Einmischung von außen

Die Kämpfe, die nach Aserbaidschans Überfall auf Armenien entbrannt sind, haben nach offiziellen Angaben inzwischen 176 Todesopfer gefordert - 105 armenische und 71 aserbaidschanische Soldaten.[11] Nachdem ein erster, noch am Dienstag früh von Moskau vermittelter Waffenstillstand am Mittwochmorgen gebrochen wurde, konnten beide Seiten sich am Mittwochabend auf einen neuen Waffenstillstand einigen, der bislang hält. Dabei droht nun die weitere Internationalisierung des Konflikts. Waren seit dem Krieg von 2020 Russland und die Türkei die tonangebenden auswärtigen Mächte, so machen ihnen nun die EU und die Vereinigten Staaten diesen Status streitig. Die EU hat einen Sondergesandten nach Baku und Eriwan entsandt, der dort nun Verhandlungen führt.[12] In Eriwan wird am Wochenende die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, eintreffen - offiziell, um die Unterstützung der USA für Armenien zu demonstrieren.[13] Für Russland hatte Präsident Wladimir Putin persönlich Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts geführt. Die Türkei wiederum ist so eng mit Aserbaidschan verbündet, dass ihr Einfluss in dem Konflikt gesichert ist. Dass nun auch noch äußere Rivalitäten den alten, erbitterten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan überlagern, verheißt nichts Gutes.


Anmerkungen:

[1] Charles Szumski: Kazakhstan key 'Middle Corridor' linking China to EU. euractiv.com 17.06.2022.

[2] Jan Triebel: Der Middle Corridor mausert sich zur alternativen Transportroute. gtai.de 20.02.2021.

[3] Jan Triebel: Mittlerer Korridor könnte der Nordroute den Rang ablaufen. gtai.de 25.07.2022.

[4] Sarah Herman: EU-Central Asia Relations and Beyond: The Orientation of Energy Policies in Kazakhstan. eias.org 22.06.2022.

[5] S. dazu 300 Milliarden gegen die Seidenstraße.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8784

[6] Anastasia Lavrina: Zangezur corridor: New transport route to connect Europe and Asia. dailysabah.com 09.08.2022.

[7] Vusal Gasimli: The 'Zangezur Corridor' is a geo-economic revolution. emerging-europe.com 17.05.2021.

[8] S. dazu Kämpfe im Südkaukasus.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8398

[9] Arshalius Mgdesyan: Attacks on Armenia highlight ongoing disputes over "corridor" for Azerbaijan. eurasianet.org 14.09.2022.

[10] S. dazu "Ein vertrauenswürdiger Partner".
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9023

[11] Death toll in Azerbaijan-Armenia border clashes rises. aljazeera.com 15.09.2022.

[12] EU welcomes agreement on a ceasefire between Armenia and Azerbaijan. euneighbourseast.eu 15.09.2022.

[13] House speaker Nancy Pelosi to visit Armenia. news.am 15.09.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 16. September 2022

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