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BERICHT/016: Das 7. Rahmenprogramm und die Geschichte ... (FTE info)


FTE info - Sonderausgabe EIROforum - Juni 2007
Magazin über europäische Forschung

Das 7. Rahmenprogramm und die Geschichte der europäischen Forschung


Das 7. Rahmenprogramm (RP7) ist nicht aus heiterem Himmel entstanden, es geht vielmehr aus der langen Geschichte der europäischen Forschungspolitik hervor. Diese Politik existiert, seitdem es das Projekt 'Europa' gibt, und sie hat sich im Laufe der vergangenen dreißig Jahre erheblich weiterentwickelt. Das 7. Rahmenprogramm baut auf seinen Vorgängerversionen auf, enthält jedoch auch mehrere Neuerungen, die darauf hinweisen, in welcher Richtung die Zukunft liegen könnte. In der Geschichte der europäischen Forschungspolitik haben einige wenige Ideen eine Schlüsselrolle gespielt, oft aber hat es Jahre gedauert, bis sie umgesetzt wurden und zum Tragen kamen.

Ein Gespräch mit Michel André, Berater bei der Generaldirektion Forschung der Europäischen Kommission.


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FTE INFO: Seit wann gibt es eine europäische Forschungspolitik, wie ist sie entstanden und wie hat sie sich entwickelt?

MICHEL ANDRÉ: Die europäische Forschungspolitik ist so alt wie die Union selbst, genauer gesagt so alt wie das europäische Projekt. Erste Elemente sind am Ende der 50er Jahre mit der Schaffung der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aufgetaucht. Die EGKS- und Euratom-Verträge in den Bereichen Kohle und Stahl bzw. Atomenergie (mit denen versucht wurde, ein vereintes Europa aufzubauen, um weitere Kriege wie die zurückliegenden zu verhindern und die Zukunft zu sichern), enthielten Abschnitte zu Forschungsfragen.

Der dritte Vertrag, der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ins Leben rief, enthielt keinerlei entsprechende Bezüge. Einer der allgemeinen Artikel ermöglichte jedoch in den 60er und 70er Jahren die Einrichtung einer Reihe von Forschungsprogrammen, die damals als vorrangig erachtet wurden: Energie, Umwelt, dann Biotechnologie usw.

FTE INFO: Wann und warum entstand das Forschungsrahmenprogramm?

MICHEL ANDRÉ: Das Rahmenprogramm entstand zu Beginn der 80er Jahre aus der Absicht heraus, ein wenig Ordnung in die Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen zu bringen. Dies sollte erfolgen, indem man sie, wie der Name sagt, in einen gemeinsamen "Rahmen" stellte und ihnen eine mittelfristige Planung gab - mit einer mehrjährigen statt einer einjährigen Budgetierung. Das entsprach einem Planungsansatz "à la Française", was nicht verwundert, da Franzosen in der Generaldirektion Forschung wie in der gesamten Kommission damals wichtige Funktionen einnahmen.

Es war der damalige Forschungskommissar Etienne Davignon, der das Konzept zur politischen Realität machte. Daneben wurde eine Reihe anderer Ideen formuliert, wie z.B. das erste Stipendienprogramm für Forscher oder das erste große europäische Technologie-Programm, ESPRIT, auf dem Gebiet der Informationstechnologie.

FTE INFO: Wie und in welche Richtung hat sich das Rahmenprogramm weiterentwickelt?

MICHEL ANDRÉ: Die Entwicklung verlief in drei Richtungen: kontinuierliche Steigerung der Finanzmittel (von einigen hundert Millionen Euro im Jahr bis auf über 7 Milliarden Euro im Jahr für das 7. Rahmenprogramm); Erweiterung der Tätigkeit der Union auf neue wissenschaftliche und technologische Gebiete und Diversifizierung der Mechanismen, der Arten der finanziellen Unterstützung und der Interventionsmöglichkeiten. Erreicht wurde dies durch die Einführung neuer Ansätze, bis das heutige Portfolio zusammengesetzt war. Es enthält Verbundprojekte und -netze, Einzelstipendien, spezielle Maßnahmen für kleine und mittlere Unternehmen sowie Fördermodelle für eine mehrschichtige Zusammenarbeit und Koordination sowie für Studien und Konferenzen.

FTE INFO: Gab es in der Geschichte des 7. Rahmenprogramms besonders wichtige Entwicklungsschritte?

MICHEL ANDRÉ: Man spricht im Allgemeinen von zwei Wegmarken, die beide mit den institutionellen Aspekten und dem Entscheidungsfindungsprozess zusammenhängen. Das ist kein Zufall, wenn man die Bedeutung dieser Fragen im europäischen Zusammenhang bedenkt. Die erste Wegmarke fällt in das Jahr 1987. Das war der Zeitpunkt, zu dem die Forschung Einzug in den Europavertrag hielt, indem in die Einheitliche Europäische Akte ein besonderes Kapitel zu diesem Punkt aufgenommen wurde. Im Großen und Ganzen fasste das Kapitel nur eine Reihe bestehender Bestimmungen mehr oder weniger effizient zusammen und segnete damit die bereits bestehenden Praktiken ab. In einem neuen Vertrag ließe sich dieser Aspekt sicher viel einfacher und logischer gestalten. Vom politischen und institutionellen Standpunkt aus aber war es eine grundlegende Entwicklung.

Weniger spektakulär, aber mindestens genauso wichtig, war die im Vertrag von Amsterdam (1997) dokumentierte Entscheidung, Beschlüsse für das Rahmenprogramm im Ministerrat mit einfacher Mehrheit zu treffen (das Rahmenprogramm wird gemeinsam vom Europäischen Rat und Parlament beschlossen). Bis dahin unterlag man dem Zwang zu einer einstimmigen Entscheidung, die es einem Mitgliedsstaat ermöglichte, den gesamten Prozess so lange zu blockieren, bis er sein Ziel in einem bestimmten Punkt erreicht hatte. Der Beschluss durch einfache Mehrheit schränkt die Tendenz ein, in dem Maße einen Konsens mit einem größtmöglichen gemeinsamen Nenner zu erzielen, wie sich die Anzahl der Mitgliedstaaten erhöht und ihre Vielfalt zunimmt.

FTE INFO: Welche Auswirkungen hatte das Forschungsrahmenprogramm in der Vergangenheit und welche hat es auf die Forschung in Europa heute?

MICHEL ANDRÉ: Die Auswirkungen sind viel größer, als man gemeinhin annimmt - allem in finanzieller Hinsicht. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass das Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union nur einen sehr kleinen Bereich der Forschungsfinanzierung in Europa darstellt.

Das erste Rahmenprogramm machte nur einen verschwindenden Anteil der gesamten öffentlichen Forschungsausgaben im damaligen Europa aus, und das 7. Rahmenprogramm kommt heute auch nicht über 5 % der Forschungsinvestitionen hinaus.

Aber man sollte diese Frage nicht nur aus einem strengen buchhalterischen Winkel heraus betrachten. Wenn man heute die "freien" Mittel betrachtet, also die, die nicht für die Grundgehälter der Forscher oder den Laborbau und -betrieb, sondern für die Forschungsprojekte selbst ausgegeben werden, sieht das Verhältnis ganz anders aus. In einem Land wie Frankreich stellt die europäische Finanzierung die Hälfte der "Fördergelder" dar. Viele Forschungsabteilungen britischer Universitäten befinden sich in entscheidender Abhängigkeit von den Forschungsgeldern der Europäischen Union. Und in Ländern wie Spanien, Portugal oder Griechenland (mehr noch in den neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten) spielt das Rahmenprogramm dieselbe Rolle im Hinblick auf die Gesamtfinanzierung der Forschung wie die staatliche Förderung.

FTE INFO: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

MICHEL ANDRÉ: Solch große Beträge stellt man nicht ohne Folgen zur Verfügung. Zwischen den staatlichen Programmen und dem Rahmenprogramm besteht eine Art "doppelter Spiegel". Bis zu einem bestimmten Punkt spiegeln die forschungstechnischen Prioritäten des Rahmenprogramms die Prioritäten der Mitgliedstaaten wider. Dies lässt sich auch umkehren: oft definieren die Mitgliedstaaten ihre Prioritäten nach denen Europas. Insgesamt könnten und sollten natürlich die Aktivitäten und die Politik auf dem Gebiet der Forschung besser koordiniert werden. Aber allein schon durch sein Bestehen und sein finanzielles Gewicht hat das Rahmenprogramm de facto einen koordinierenden Effekt, der nicht unterschätzt werden darf.

Auch die Ausgleichswirkung auf die in diesem Bereich am wenigsten weit fortgeschrittenen Länder lässt sich nicht leugnen. Die spektakulären Fortschritte, die beispielsweise Spanien und Portugal auf dem Gebiet der Forschung machen konnten, gehen auch auf die intelligente Verwendung der Gelder aus den europäischen Fonds zurück: Mittel sowohl aus den Strukturfonds wie auch aus dem Rahmenprogramm. Bei den zehn neuen Mitgliedern dürfte es nicht anders sein.

FTE INFO: Wie stellt sich das 7. Rahmenprogramm aus historischer Sicht dar?

MICHEL ANDRÉ: In vielerlei Hinsicht setzt das 7. Rahmenprogramm die Maßnahmen seiner Vorgänger direkt fort. Im aktuellen Rahmenprogramm werden allerdings zwei Neuerungen mit wesentlichen Auswirkungen auf die europäische Forschungspolitik eingeführt. Erstens: im Namen des "Subsidiaritätsprinzips" (welches verlangt, dass auf europäischer Ebene nur solche Maßnahmen durchgeführt werden, die nicht auf niedrigerer Ebene verwirklicht werden können) unterstützt das Rahmenprogramm seit langem vor allem Forschungsprojekte und europaweite Netze für wissenschaftliche Zusammenarbeit. Im Mittelpunkt des 7. Rahmenprogramms steht daneben auch weiterhin die Förderung von Verbundprojekten und -netzen. Hierbei kommt ein anderes Prinzip zum Tragen, das bisher streng eingehalten wurde. Die Themen werden im Voraus festgelegt und stammen aus den Bereichen der angewandten oder orientierten Forschung. Sie entsprechen der übergreifenden Politik der Union in den Gebieten Gesundheit, Energie und Umwelt usw.

Mit der Gründung des Europäischen Forschungsrates (EFR) unterstützt die Union aber zum ersten Mal auch Projekte im Bereich der Grundlagenforschung, die von einzelnen Teams durchgeführt und von Forschern vorgeschlagen werden. Diese umfassen frei gewählte Themen aus allen Wissensgebieten, einschließlich der Sozial- und Geisteswissenschaften. Dies ist eine wesentliche Entwicklung, denn sie impliziert ein weiter gefasstes und flexibleres Konzept des "europäischen Mehrwerts" als bisher. Weiter stellt sie den Abschied, wenn auch nicht vom gesamten Subsidiaritätsprinzip, so doch von einer engen, starren und formalistischen Interpretation dieses Kriteriums dar: der EFR geht im Grunde ebenso vor wie die nationalen Forschungsräte, nur eben auf europäischer Ebene.

FTE INFO: Und die zweite Neuerung?

MICHEL ANDRÉ: Hierbei handelt es sich um die Einführung anderer Umsetzungsmodalitäten gegenüber der direkten Verwaltung der Finanzierung und der Projekte durch die Dienststellen der Kommission: der EFR wird sich aus einem unabhängigen wissenschaftlichen Rat und einer Exekutivagentur der Kommission zusammensetzen, die unter deren Kontrolle handelt, jedoch funktionell von ihr unabhängig ist. Die gemeinsamen Technologieinitiativen (GTI) werden durch Strukturen 'eigener' Art umgesetzt, wobei Kommission und Privatwirtschaft beteiligt sein werden. Die Unterstützungsmaßnahmen für KMU, die Mobilitätsstipendien des Marie-Curie-Programms und bestimmte logistische und administrative Aspekte werden von einer zweiten Exekutivagentur übernommen. Erklären lässt sich diese Entwicklung sowohl durch die Anhebung der Finanzmittel für das Rahmenprogramm bei gleich bleibendem Personalbestand der Kommission sowie durch den Willen der Kommission, sich auf ihre politischen und gesetzgeberischen Aufgaben zu konzentrieren.

FTE INFO: Wie kann sich die europäische Forschungspolitik in Zukunft weiterentwickeln?

MICHEL ANDRÉ: Es gibt hinreichend Gründe dafür, anzunehmen, dass sich die oben aufgeführten Tendenzen fortsetzen werden. Viele Aspekte drängen in Richtung einer europäischer Forschungspolitik mit immer umfangreicheren Finanzmitteln, die immer stärker diversifiziert und auf alle Dimensionen der Forschung ausgedehnt ist, und die der Kontrolle der Kommission unterstellt ist, jedoch nicht direkt von ihr umgesetzt wird.

Eine solche Entwicklung ist vielversprechend, birgt jedoch Risiken und Gefahren. Wenn man sich über die Bereiche hinauswagt, in denen sich die europäische Forschungspolitik bewährt hat, geht man davon aus, dass sie sich in den anderen Gebieten und Dimensionen auf gleiche Weise bewähren wird. Bei der Entwicklung anderer Formen der Umsetzung als der direkten Verwaltung durch die Kommission steht viel auf dem Spiel. Der einzigartige Erfahrungsschatz der Kommission aus 40 Jahren Forschungspolitik und 20 Jahren Verwaltung von Rahmenprogrammen muss unbedingt bewahrt und weitergegeben werden. Und es muss gelingen, Bedingungen zu schaffen, die dasselbe Niveau gewährleisten: einerseits hinsichtlich Unabhängigkeit und Schutz gegenüber dem Druck privater Interessen und der Versuchung der Re-Nationalisierung und des "gerechten Rücklaufs", und andererseits hinsichtlich Qualität, Kompetenz und Professionalität, wie im Falle der direkten Verwaltung durch die Kommission.

FTE INFO: Kann die Forschung zu einer echten gemeinsamen europäischen Politik werden?

MICHEL ANDRÉ: Einige streben in diese Richtung, aber ich glaube nicht richtig daran. Die Forschung ist traditionell sicherlich kein Bereich, in dem Staatssouveränität angemeldet wird, wie etwa bei der Steuer-, Verteidigungs- oder Währungspolitik, auch stellt sie keinen auf nationaler Ebene sensiblen Bereich dar, wie Beschäftigungs- oder Bildungspolitik. Jedoch erweckt nichts in der Entwicklung der europäischen Verfassungsdebatte den Eindruck, dass man sich in diese Richtung bewegen könnte. Der durch die Notwendigkeit ausgeübte Druck und die Überzeugung der nationalen Behörden, dass es im Bereich der Forschung für viele Maßnahmen nützlich ist, auf europäischer Ebene konzipiert und ausgeführt zu werden, müssten tatsächlich zu einer fortschreitenden Vergemeinschaftung einer steigenden Zahl von Forschungsaktivitäten führen.

Diese tatsächliche Vergemeinschaftlichung betrifft nicht nur die Stärkung der Bindungen und der Kohärenz zwischen den Aktivitäten auf europäischer und auf nationaler oder regionaler Ebene. In allen Varianten, auch wenn Europa "bundesstaatlicher" werden sollte, bleiben diese Ebenen funktionsfähig. Das Projekt des europäischen Forschungsraumes ist also weiterhin von Bedeutung.

FTE INFO: Woher stammt diese Idee des europäischen Forschungsraumes?

MICHEL ANDRÉ: Die Idee hat eine lange Geschichte. Zum ersten Mal wurde sie in den 70er Jahren von Kommissar Ralf Dahrendorf formuliert, geriet dann in Vergessenheit, um in den 90er Jahren (weitgehend unabhängig) von seinem späteren Nachfolger Antonio Ruberti "wiederentdeckt" zu werden. Es war jedoch ein dritter Kommissar, Philippe Busquin, der die Idee Anfang 2000 in das heutige politische Projekt umgesetzt hat. Interessant ist, dass diese drei Kommissare Akademiker waren, die der wissenschaftlichen Gemeinschaft nahe standen: Das lässt vermuten, dass sie aus diesem Grunde der Dimension eines Raums, in dem man sich bewegen und austauschen kann, aufgeschlossener gegenüberstanden. Demgegenüber hat eine andere intellektuelle "Familie" von Kommissaren, die mehr der Welt der Unternehmen zugewandt ist (Altiero Spinelli, Etienne Davignon), den Akzent auf die Unterstützung der Industriepolitik und auf die eigenen Maßnahmen der Union gesetzt.

FTE INFO: Und worin besteht diese Idee?

MICHEL ANDRÉ: Anfangs dachte man, dass der europäische Forschungsraum aus zwei Komponenten bestehe: Einerseits sei er ein "großer europäischer Markt der Forschung", wo sich Forscher, Wissen und Technologien frei bewegen können; auf der anderen Seite erlaube er die Koordinierung von nationalen Aktivitäten, Initiativen und Politiken. Die Einrichtung des EFR und die zögerliche Entwicklung einer europäischen Politik zur Unterstützung der Infrastrukturen zeigen, dass es noch eine dritte Dimension gibt: der europäische Forschungsraum ist auch ein Raum, in dem Initiativen funktionieren und finanziert werden, die von vornherein europäisch sind.

Warum konnte sich die Idee vom europäischen Forschungsraum, die zweimal zurückgewiesen bzw. vergessen wurde, im März 2000 im Europäischen Rat durchsetzen? Das ist eine Geschichte, die ich an anderer Stelle zu erklären und zu erzählen versucht habe (1). Nach einem grandiosen Start ist dem Projekt zum europäischen Forschungsraum anscheinend die Luft ausgegangen, und der derzeitige Kommissar, Janez Potocnik, versucht, es wieder in Schwung zu bringen.

FTE INFO: Ist es anderen Ideen ähnlich ergangen?

MICHEL ANDRÉ: Ja, vielen. Die Ausgangsidee zur Einrichtung des EFR, identisch mit der Idee zur Gründung einer "europäischen NSF" (einer europäischen Entsprechung der US-amerikanischen National Science Foundation), existierte in Wissenschaftlerkreisen schon seit langem. Die Idee, ein "europäisches MIT" einzurichten, die am Anfang des Europäischen Technologieinstituts (ETI) steht, wurde mindestens zweimal vorgetragen, in den 60er und in den 80er Jahren. Die "gemeinsamen Technologieinitiativen" sind die letzte Erscheinungsform der Idee eines großen sektoriellen Technologieprogramms, zu dessen vorherigen Ausprägungen mit einigen Varianten das Programm ESPRIT, die im dritten Rahmenprogramm vorgeschlagenen "technologischen Initiativprojekte" (die niemals verwirklicht wurden) und die größten der "integrierten Projekte" des sechsten Rahmenprogramms zählten.

FTE INFO: Was können wir aus der Geschichte der europäischen Forschungspolitik lernen?

MICHEL ANDRÉ: Sie lehrt uns, dass in der Forschungspolitik, wie auch in vielen anderen Bereichen, gute Ideen selten sind. Als Beispiel habe ich bereits den europäischen Forschungsraum und einige andere genannt, aber man könnte die Liste auch fortsetzen. Auf diese Weise habe ich entdeckt, dass die sogenannten "Riesenhuber-Kriterien", abgeleitet vom Namen des ehemaligen deutschen Forschungsministers, der an ihrer Ausarbeitung maßgeblich beteiligt war, mit praktisch gleichem Wortlaut bereits schon viel früher - in einem von Altiero Spinelli Anfang der 70er Jahre vorgelegten Dokument - formuliert wurden. (Es handelt sich hierbei um die Kriterien, die im Namen der Subsidiarität rechtfertigen, dass eine Maßnahme auf europäischer und nicht auf nationaler Ebene durchgeführt wird.) Im Grunde könnte man die Geschichte der europäischen Forschung fast als die progressive Entwicklung eines kleinen Kapitals an Ideen beschreiben, die vor 30 Jahren in Worte gefasst wurden und von deren Nutzung wir heute noch in großen Zügen profitieren.

FTE INFO: Gibt es weitere Lektionen?

MICHEL ANDRÉ: Diese Geschichte zeigt auch, dass Ideen niemandem gehören. Natürlich haben bestimmte Personen eine besonders wichtige Rolle gespielt: europäische Kommissare wie Altiero Spinelli, Ralf Dahrendorf, Etienne Davignon, Antonio Ruberti oder Philippe Busquin; nationale Forschungsminister, angefangen bei Hubert Curien, der eine Schlüsselfigur bei der Schaffung eines Europas der Forschung war; aber auch Wissenschaftler, wie z. B. die Nobelpreisträger John Kendrew und Ilja Prigogine, oder hohe Beamte, wie Paolo Fasella, Arzt und Biologe, der 14 Jahre lang Leiter der Generaldirektion Forschung bei der Europäischen Kommission war. Insgesamt ist die europäische Forschungspolitik jedoch das Ergebnis eines kollektiven und komplexen Prozesses, in dem neben bestimmten Personen auch viele andere Elemente eine Rolle spielen: institutionelle Faktoren, der politische Kontext sowie wirtschaftliche Entwicklungen, das Zusammenspiel aus Druck und Erwartungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft usw.

Nicht zuletzt lehrt uns diese Geschichte auch, dass der Aufbau Europas von außen betrachtet vielleicht schnell voranzuschreiten scheint, aus der Nähe und von innen heraus betrachtet jedoch sehr langsam vorangeht. Viele Texte, die vor 30 oder 40 Jahren verfasst wurden, könnten auch gestern Abend geschrieben worden sein. Die Diagnose ist heute die gleiche, und die empfohlenen Mittel sind identisch. Die Umstände ändern sich nur sehr langsam. Und es dauert lange, bis Ideen in Worte gefasst, verstanden, assimiliert und akzeptiert werden. Noch länger braucht es dann sogar noch für ihre Umsetzung und für sichtbare Ergebnisse.


Anmerkung:
(1) "L'espace européen de la recherche: histoire d'une idée" Revue d'histoire de l'intégration européenne, 2006, Band 12, Nummer 2


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Als Berater bei der Generaldirektion Forschung der Europäischen Kommission war Michel André an den Entwicklungen der Forschungspolitik der Europäischen Union der letzten zwanzig Jahre beteiligt. Im Rahmen seiner Überlegungen zu dieser Politik interessiert er sich besonders für ihre Geschichte.

> 1957. Eröffnung des gemeinsamen Marktes für Stahl. Jean Monnet präsentiert den ersten europäischen Stahlbarren.

> Seit dem Vertrag von Amsterdam (1997) wird das Rahmenprogramm vom Ministerrat mit einfacher Mehrheit beschlossen. Dadurch wird die Tendenz eingeschränkt, "in dem Maße einen Konsens mit einem immer kleiner werdenden größtmöglichen gemeinsamen Nenner zu erzielen, in dem sich die Anzahl der Mitgliedstaaten und ihre Vielfalt zunimmt".

> Etienne Davignon, Forschungskommissar, der Anfang der 80er Jahre "das Konzept des Rahmenprogramms zu einer politischen Realität machte".

> Die Realisierung des Europäischen Forschungsraums ist ein wichtiges politisches Ziel für die Europäische Kommission. Nach einer ersten durch Philipppe Busquin angeregten Phase hat der amtierende Kommissar für Wissenschaft und Forschung Janez Potocnik denn Prozess wieder in Schwung gebracht.


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Quelle:
FTE info - Sonderausgabe EIROforum, Juni 2007, Seite 9-13
Magazin über europäische Forschung
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2006
Herausgeber: Referat Information und Kommunikation der
GD Forschung der Europäischen Kommission
Chefredakteur: Michel Claessens
Redaktion: ML DG 1201, Boîte postale 2201, L-1022 Luxembourg
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FTE info wird auch auch auf Englisch, Französisch und
Spanisch herausgegeben. Die Zeitschrift kann kostenlos
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2007