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BERICHT/045: Prof. Althöfer über Zahlenfreuden (Uni-Journal Jena)


Uni-Journal Jena - Nr. 01 - Sommersemester 2008

Kann 8795 langweilig sein? Prof. Althöfer über Zahlenfreuden im "Jahr der Mathematik"

Von Ingo Althöfer


Mathematik, das sind Zahlen. Nicht nur, aber oft. Die natürlichsten Zahlen heißen auch "natürlich": Es sind 1, 2, 3, 4 usw. ohne jedes Ende. Mancher zählt die Null mit dazu, aber das ist Geschmackssache.

Gibt es langweilige natürliche Zahlen? "Ja" sagt der Langschläfer, haut auf den Digitalwecker und dreht sich noch einmal im Bett herum. "Ja" sagt die Programmdirektion von RTL und sträubt sich nach wie vor gegen Live-Übertragungen von Mathe-Konferenzen. "Ja", haucht eine Dame des horizontalen Gewerbes, "oder zumindest langweilige Nummern." "Ja", grölt ein Siebtklässler, dem die Mutter von klein auf eingebläut hat, Mathe und Rechnen seien doof.


Die kleinste langweilige Zahl

"NEIN!", rufen wir als Mathematiker mit geschwollener Stirnader dazwischen, "und das können wir sogar blitzschnell beweisen! Dazu nehmen wir an, es gäbe langweilige natürliche Zahlen." Der Zwischenruf von hinten "Das nehmen wir gerne an", wird ignoriert. "Dann müsste es in der Menge aller langweiligen natürlichen Zahlen eine kleinste Zahl geben. Aber: Die kleinste langweilige natürliche Zahl zu sein, ist doch auch zumindest interessant. Also Widerspruch zur Annahme - und voilà, die Aussage ist bewiesen.

Ein Rat für alle entgeisterten Leser: Wenn Ihnen der Beweis wie Schwindelei vorkommt, brühen Sie sich am besten einen Kamillentee auf... Gleich zeigen wir an ganz konkreten Beispielen, was alles der Grund sein kann, dass eine natürliche Zahl nicht langweilig ist.

Zum Beispiel: 113. Ist 113 langweilig? Natürlich nicht, denn 113 ist Primzahl, und zwar ein extremer "Abgrundgucker". Eine Primzahl heißt "Abgrundgucker", wenn der Abstand zur nächstgrößeren Primzahl größer ist als jeder frühere Abstand zwischen zwei Primzahlen. Zum Beispiel: Die 2 ist ein Abgrundgucker mit Abstand 1, die 3 ist ein Abgrundgucker mit Abstand 2. Die 7 ist ein Abgrundgucker mit Abstand 4, 23 ist ein Abgrundgucker mit Abstand 6, 89 ist ein Abgrundgucker mit Abstand 8. Und jetzt bitte festhalten: 113 ist der nächste Abgrundgucker, und zwar mit Abstand 14!

Auch 1729 hört sich langweilig an. Und der berühmte Zahlentheoretiker G. H. Hardy hielt 1729 auch einen Moment lang für langweilig. Bis ihn sein Wunderschüler Ramanujan aufklärte: 1729 ist total spannend, denn es ist die kleinste natürliche Zahl, die sich auf zwei verschiedene Weisen als Summe von zwei dritten Potenzen natürlicher Zahlen darstellen lässt. Die eine der beiden Summen ist 12x12x12 + 1x1x1 = 1728 + 1 = 1729. Die andere Summe kommt später.

Ein bisschen dumm ist, dass zufällig auch 91 = 63 + (-5)3 = 43 + 33 ist. Aber immerhin ist die -5 darin keine natürliche Zahl (im Gegensatz zur 5-, als relativ natürlicher Mathe-Note mancher Schüler).

Noch einmal zurück zur 113: Die ist auch Bestand einer wunderbaren Eselsbrücke für die ersten sieben Ziffern von Pi: 113355 → 113 \ 355 = 355:113 = ca. 3,141593.

Zahlenflüsterer bauen daraus eine ganze Approximations-Kette für Pi:

11 → 1 \ 1 = 1:1 = 1
1133 → 11 \ 33 = 33:11 = 3,00000
113355 → 3,1415... (siehe oben)

und müssen sich dann - mit oder ohne Taschenrechner - überlegen, ob das nächste Folgenglied 11335577 → 1133 \ 5577 = 5577:1133 wirklich eine noch bessere Näherung für Pi ist.



Wer zu faul ist, zu einer vorgegebenen Zahl selbst herauszufinden, warum sie explizit spannend ist, kann in der "Online-Enzyklopädie der Folgen ganzer Zahlen" (das sind die natürlichen und die negativen) nachschauen, unter http://www.research.att.com/-njas/sequences/.

In dieser Datenbank finden sich tolle Folgen wie: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 ... (die Fibonacci-Zahlen); 2, 8, 20, 28, 50, 82, 126 (die magischen Zahlen); 1, 12, 123, 1234, 12345, 123456, 1234567, 12345678, 123456789, 12345678910, 1234567891011 ... ("The Triangles of the Gods"). Es findet sich aber auch ein bisschen Schrott vom Kaliber 95, 195, 295, 395, ... (die Folge der natürlichen Zahlen n, so dass in ihnen die Ziffernfolge 95 vorkommt, aber nicht in ihrer Vorgängerzahl (n-1)).

Die Lottozahlen (sowohl die der letzten als auch die der kommenden Woche) fehlen leider - oder Gott sei Dank? - in der Datenbank. In erster Linie wurde die Enzyklopädie aufgebaut für Folgen von Zahlen. Man kann in ihr aber auch nach einzelnen Zahlen suchen.

Die Jenaer Mathematik-Studentin Lisa Schreiber hat mit Fleiß und mindestens ebensoviel Grips nach den kleinsten natürlichen Zahlen gesucht, die nicht in der Enzyklopädie stehen. Am 11. Januar 2008 gab es nur eine solche Zahl, die kleiner als 10000 ist. Es ist 8795. Aber 8795 kann doch nicht wirklich langweilig sein - oder?


Der Mann, der die Zahlen liebte

Würde Paul Erdös, einer der größten Mathematiker des 20. Jahrhunderts, noch leben, wäre die Frage wohl schon mit einem konstruktiven Nein beantwortet. Empfehlen möchte ich übrigens auch Nicht-Mathematikern die beiden Erdös-Biographien von Paul Hoffman:" Der Mann, der die Zahlen liebte" und von Bruce Schechter (leider nur in Englisch): "My brain is open: the mathematical journeys of Paul Erdos".

Wer mit Zahlen einfach nur spielen will, sollte einmal Primzahl-Scrabble ausprobieren: Statt Buchstaben-Plättchen hat man Ziffern, und statt Worte muss man Primzahlen bilden. Das Spiel ist echt international, weil Primzahl Primzahl ist, ganz unabhängig von Hautfarbe, Land und Sprache.

Die Redaktion des "Uni-Journal Jena" hat mich als Mathematiker gebeten, meine ganz persönlichen Hoffnungen und Wünsche für das "Jahr der Mathematik 2008" zu formulieren. Hier sind sie:

einen wirklich schönen Satz zu beweisen;
am Ende des Jahres einige Gründe zu kennen, warum 8795 nicht langweilig ist;
Anwendungen für den kleinsten alternierenden planaren Graphen, den "Schneider-(17,17)" zu haben: In diesem Graphen gibt es keine benachbarten Knoten mit gleicher Kantenzahl, und auch benachbarte Flächen haben immer verschiedene Anzahlen von Randstücken;
dass unsere guten Jenaer Mathematik-Lehramtsstudenten Lehrerstellen in Thüringen finden und
einen Wunsch weit über 2008 hinaus: dass die Menschheit immer genügend kompetente Mathematiker hat. Denn ohne Mathematik ist Hochtechnologie nicht möglich. Und ohne Hochtechnologie werden wir mit knapp werdenden Ressourcen nicht auskommen.
Prof. Dr. Ingo Althöfer Prof. Dr. Ingo Althöfer ist Lehrstuhlinhaber für Mathematische Optimierung an der Friedrich-Schiller-Universität. Im "Jahr der Mathematik 2008", das die Fakultät für Mathematik und Informatik mit zahlreichen Aktivitäten begeht, macht sich der Mathematiker und Spiele-Erfinder seine eigenen - nicht immer ganz ernsten - Gedanken zum Reiz des Fachs und zum Profil von Mathematikern..


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Quelle:
Uni-Journal Jena Nr. 01, Sommersemester 2008, S. 16
Herausgeber: Rektor der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Das Uni-Journal Jena erscheint zweimal pro Semester.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2008