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BERICHT/062: VolkswagenStiftung fördert "Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften" (idw)


VolkswagenStiftung - 29.04.2009

Digitale Kultur, Altersbilder und existenzielle Gefühle

Stiftung fördert drei neue "Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften"


Die VolkswagenStiftung bewilligt insgesamt über 2,2 Millionen Euro für drei neue Projekte in ihrer Förderinitiative "Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften". Und dieser Name ist Programm: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen sollen hier Projektthemen aufspüren, die aktuelle, in der Gesellschaft diskutierte Fragestellungen aufgreifen; "Schlüsselthemen", die sich darüber hinaus nur im interdisziplinären Verbund bearbeiten lassen - nach Möglichkeit unter Einschluss naturwissenschaftlicher Fächer. Mit diesem Konzept will die Stiftung Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler unterstützen, in ihrer Forschung vernetzt und übergreifend zu arbeiten. Bewilligt wurden folgende Projekte:

1.) 800.000 Euro für das Vorhaben "Subjektkonstruktionen und digitale Kultur. Neue Subjektformen im Wechselspiel mit soziokulturellen Praktiken im Cyberspace (SKUDI)" von Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies Dr. Gabriele Winker der Technischen Universität Hamburg-Harburg - in Zusammenarbeit mit Privatdozent Dr. Raphael Beer vom Institut für Soziologie der Universität Münster, Professorin Dr. Christina Schachtner vom Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt, Österreich, sowie Professorin Dr. Heidi Schelhowe vom Fachbereich Mathematik/Informatik der Universität Bremen;

2.) 639.000 Euro für das Vorhaben "Gutes Leben im hohen Alter angesichts von Verletzlichkeit und Endlichkeit - eine Analyse von Altersbildern in öffentlichen Diskursen und Alltagspraktiken" von Professor Dr. Thomas Rentsch vom Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden, Professor Dr. Andreas Kruse vom Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg sowie Professor Dr. Harm-Peer Zimmermann vom Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Universität Marburg;

3.) 850.000 Euro für das Vorhaben "animal emotionale II - Existentielle Gefühle, Psychopathologie und die Reichweite evolutionärer Erklärungen" von Professor Dr. Achim Stephan vom Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück - in Zusammenarbeit mit Dr. Susanne Erk und Professor Dr. Dr. Henrik Walter, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn, sowie Professor Dr. Sven Walter vom Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück.


Im Folgenden stellen wir Ihnen diese drei Vorhaben kurz vor.

Zu 1. Das Subjekt im Cyberspace

E-mailen, surfen, chatten, online Bankgeschäfte tätigen und einkaufen: Das Internet ist aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Die zunehmende Digitalisierung der Welt trägt - neben weiteren ökonomischen und kulturellen Entwicklungen - zu einem tief greifenden Wandel der Gesellschaft bei. Wenn alte Sicherheiten und die Verbindlichkeit tradierter Normen und Werte abnehmen, kann und muss sich auch die Arbeitswelt neu strukturieren und neue Lebensorientierungen entstehen. Wie geht der Mensch, das Subjekt, mit dieser Umbruchsituation um? Was bedeutet sie für die Herausbildung von Identität und Persönlichkeit? Spiegelt sich der Einfluss der "digitalen Kultur" in der Art und Weise, wie wir arbeiten, kommunizieren, lernen, gestalten, nachdenken?

Diesen Fragen wird ein interdisziplinäres Forscherteam der Technischen Universität Hamburg-Harburg sowie der Universitäten Münster, Klagenfurt und Bremen nachgehen. Die Wissenschaftler nehmen junge Menschen im Alter zwischen 15 und 30 Jahren in den Blick, also die erste Generation, die potenziell von Kind auf mit digitalen Medien konfrontiert gewesen ist. Vier Teilprojekte fächern das Thema auf: Teilprojekt 1 geht den Facetten des Subjektbegriffs aus Sicht der Philosophiegeschichte nach, um so eine theoretische Basis zu legen. Teilprojekt 2 stellt die webbasierte Erwerbsarbeit ins Zentrum. Was kennzeichnet die sogenannte "digitale Bohème", die ohne feste institutionelle Einbindung von zu Hause oder mobil via Internet arbeitet? Teilprojekt 3 untersucht deutsche, englischsprachige arabische und US-amerikanische Kommunikationsräume im Internet (z. B. Diskussionsforen, Weblogs), in denen Werte und Lebensstile diskutiert werden. Teilprojekt 4 richtet sich auf das Lernen mit digitalen Medien. Inwieweit stärken solche neuen Lernumgebungen die Selbstwahrnehmung als handelndes und reflektierendes Subjekt? - Für ihre Vernetzung werden die Wissenschaftler selbst die digitalen Medien nutzen und nach einer teilprojektorientierten Phase in einem übergreifenden, virtuellen Raum wie Second Life gemeinsam arbeiten.


Zu 2. Altern hat Zukunft

Die Deutschen werden immer älter. Inzwischen ist der demografische Wandel im öffentlichen Bewusstsein angekommen, und Politik, Wirtschaft und Bürger sind bereit, sich mit den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft auseinander zu setzen. Doch überwiegen in den öffentlichen Diskursen Angstszenarien; der Blick fällt allzu häufig auf die Schwächen und drohenden Verluste - insbesondere für Menschen jenseits der 80 Jahre. Für die "jungen Alten" zwischen 60 und 80 Jahren werden vielfach Potenziale diskutiert, für die Hochbetagten hingegen dominiert ein einseitig negatives Altersbild, das der Heterogenität innerhalb der Gruppe älterer Menschen nicht gerecht wird.

Dieser Fokussierung auf den "Defizitgedanken", der von vornherein ausschließt, dass in Anbetracht von Verletzlichkeit und Endlichkeit im hohen Alter überhaupt von einem guten und gelingenden Leben gesprochen werden kann, möchte ein Forscherteam der Technischen Universität Dresden sowie der Universitäten Heidelberg und Marburg mit seinem Projekt zu gesellschaftlichen Altersbildern entgegen treten. Hierzu untersuchen die Forscher zum Ersten aus philosophisch-kulturwissenschaftlich-gerontologischer Perspektive, welche Vorstellungen über das hohe Alter sich in gegenwärtigen Diskursen finden - etwa in Lehr- und Handbüchern für Fachkräfte in Medizin und Pflege oder in Ratgebern. Die Ergebnisse sollen dann mit alten Menschen und Praktikern diskutiert werden: Lassen sich beispielsweise Übereinstimmungen zum Alltagserleben finden? Drittens möchte das Team Handlungsempfehlungen ausarbeiten, die eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Alter und Altern unterstützen sollen. Hierzu sind mehrere Publikationen geplant, unter anderem ein Ethik-Handbuch, das auch für junge Leser und den Schulunterricht geeignet sein soll.


Zu 3. Existenzielle Gefühle

Der Mensch ist ein emotionales Wesen. Gefühle prägen nicht nur sein Erleben, sondern auch sein Denken, Entscheiden und Handeln, indem sie einen unmittelbaren Bezug zur Welt herstellen. - Von dieser Grundthese geht das Forscherteam um Professor Dr. Achim Stephan von der Universität Osnabrück aus, das sich nun mit dem Fortsetzungsprojekt "animal emotionale II" gemeinsam mit Kollegen des Universitätsklinikums Bonn einer besonderen Kategorie von Emotionen annähert: den "existenziellen Gefühlen". Diese unterscheiden sich von Basisemotionen wie Angst oder Ekel, indem sie weniger dazu dienen, sich bestimmten Objekten oder Situationen wertend zu nähern. Sie vermitteln hingegen einen qualitativen Bezug zur Welt als Ganzer. Dieser selbstverständliche Bezug bleibt meist unbeachtet, wird aber besonders dann sichtbar, wenn er gestört ist - wie zum Beispiel im Gefühl der Derealisation, das die Welt als unwirklich und unecht erscheinen lässt.

Was macht diese Gefühle aus? Wie lassen sie sich klassifizieren, wie untersuchen? Die Forscher werden zur Beantwortung dieser Fragen erstens eine analytisch orientierte Systematik existentieller Gefühle ausarbeiten und dabei Einsichten der Psychopathologie berücksichtigen. Zum Zweiten zielt das Projekt darauf, aus neurophilosophischer Sicht zu klären, wie existenzielle Gefühle empirisch zugänglich gemacht werden können. Exemplarisch soll auch eine empirische bildgebende Studie erfolgen an Patienten mit Depersonalisations- und Derealisationssyndrom. Drittens wird überprüft, inwieweit evolutionäre Erklärungen für Emotionen im Allgemeinen und für Angst und Ekel im Besonderen zutreffen. Handelt es sich bei existenziellen Gefühlen um eine spezifisch menschliche Kategorie oder findet sich Vergleichbares auch bei Tieren? Diesem Teilprojekt zur Seite steht schließlich eine empirische Studie, in der das Erleben von Angst und Ekel sowohl bei Gesunden als auch bei Patienten mit Spinnen- bzw. Blutphobie auf neuronaler Ebene untersucht wird.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution458


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
VolkswagenStiftung, Dr. Christian Jung, 29.04.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2009