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BERICHT/192: Harry Graf Kessler - Tagebuch eines Tausendsassas (DFG)


forschung 4/2008 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Tagebuch eines Tausendsassas

Kaiserreich, Republik, Diktatur: Harry Graf Kessler war der Chronist seiner Epoche. Am Deutschen Literaturarchiv Marbach wird sein Jahrhundertprotokoll mit großer Akribie ediert - Seite für Seite ein faszinierendes Bild des "alten Europas"

Von Rembert Unterstell


Schon seine Erscheinung war außergewöhnlich, farbig und schillernd. Auf Edvard Munchs berühmtem Gemälde von 1906 ließ sich Harry Graf Kessler (1868 bis 1937) so porträtieren, wie er gerne gesehen werden wollte: als Flaneur und feinsinniger Ästhet, elegant vom Scheitel bis zur Sohle, umgeben von einer Aura angelsächsisch-kühler Nonchalance. Ein deutscher Dandy, lebensgroß, der auf damalige wie heutige Betrachter leicht blasiert wirkt.

Doch Kessler war mehr als ein selbstverliebter Bonvivant. Das betont sein bislang tiefgründigster Biograf, der amerikanische Historiker Laird M. Easton, der sich zehn Jahre lang auf die Spuren des "roten Grafen" setzte. Ob in Kunstbetrieb oder literarischem Leben, in Tagespolitik oder diplomatischem Dienst - Kessler wollte wirken und nutzte dabei seine Verbindungen, die von Albert Einstein bis Gustav Stresemann, von George Grosz bis Josephine Baker reichten. Doch trotz seiner "10 000 Bekannten", die auch den Dichterfreund Hugo von Hofmannsthal befremdeten, blieb Kessler ein beziehungsreicher Außenseiter.

Widersprüche waren dem ruhelos zwischen seinen Lebensdomizilen in Paris und London, Berlin und Weimar Hin- und Herreisenden nicht fremd. Am Ende war aus dem vermögenden Bankierssohn und Salonlöwen des wilhelminischen Deutschland, aus dem Kunstmäzen und Literaten des Fin de siècle, nicht zuletzt aus dem kriegsbegeisterten Rittmeister des Ersten Weltkriegs und gescheiterten Diplomaten der Weimarer Republik ein überzeugter Republikaner und Pazifist geworden - der "rote Graf", wie ihn seine Zeitgenossen stirnrunzelnd nannten. Er starb, vor den Nationalsozialisten ins Exil geflohen, vereinsamt am 30. November 1937 in Lyon - und war dann schnell vergessen.

Sicher: Kesslers engagiertes Eintreten für die französischen Impressionisten und die Avantgarde in Deutschland war Kunsthistorikern bekannt; seine Rolle in der Politik, etwa 1918 als kurzzeitiger deutscher Botschafter in Warschau, war Zeithistorikern vertraut. Doch sein eigentliches Hauptwerk und seine bedeutsamste Lebensleistung war weder sichtbar noch zugänglich: ein gigantisches Tagebuchwerk. Nicht weniger als 57 Lebensjahre, von 1880 bis kurz vor seinem Tod 1937, schrieb er seiner Epoche das Tagebuch - ein "Jahrhundertprotokoll", wie es der Kulturpublizist Professor Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach (DLA), pointiert nennt, und "ein Meisterstück europäischer Diaristik". Eine Kostprobe? Als der kriegsgeläuterte Kessler vor dem Berliner Hohenzollernschloss steht, das während der Novemberrevolution 1918 geplündert worden war, hält er erbittert fest: "Aus dieser Umwelt stammt der Weltkrieg, oder was an Schuld den Kaiser für den Weltkrieg trifft: aus dieser kitschigen, kleinlichen, mit lauter falschen Werten sich und Andre betrügenden Scheinwelt seine Urteile, Pläne, Kombinationen und Entschlüsse. Ein kranker Geschmack, eine pathologische Aufregung die allzu gut geölte Staatsmaschine lenkend! Jetzt liegt diese nichtige Seele hier herumgestreut als sinnloser Kram. Ich empfinde kein Mitleid, nur (...) Grauen und ein Gefühl der Mitschuld, dass diese Welt nicht schon längst zerstört war, im Gegenteil in etwas andren Formen überall noch weiterlebt." (28.12.1918)

Ein vielsagendes Diarium. Dessen beste Kenner arbeiten im DLA, hoch über dem Neckar auf der Marbacher Schillerhöhe gelegen. Zur "Zauberberg"-Stimmung kontrastiert der äußerlich eher an einen Bunker erinnernde Zweckbau des renommierten Literaturarchivs. Hier hat auch der Leiter des Kessler-Projektes, Dr. Roland S. Kamzelak, sein Büro. Anschaulich berichtet der Editionsspezialist von Kessler-Dokumenten - Briefen, Buchmanuskripten und Tagebüchern -, die auf "langen, mitunter abenteuerlichen Wegen" ins DLA gelangt seien, wo 1200 Schriftsteller- und Gelehrtennachlässe versammelt sind.

Von seinem Schreibtisch aus blickt Kamzelak auf eine Galerie von Kessler-Porträts und spricht von 16.000 beschriebenen Tagebuchseiten, deren Gesamtausgabe in Marbach vorbereitet wird. Der Editionsplan sieht neun voluminöse Bände vor, die von Kamzelak und Dr. Ulrich Ott, dem vormaligen DLA-Direktor, seit 2004 bei Klett-Cotta herausgegeben werden. Derzeit steht der achte Band (1923 bis 1926) vor der Veröffentlichung. Er soll zur Leipziger Buchmesse im März 2009 erscheinen.

Doch der Reihe nach. Am Anfang stand seit 1995 die wortgetreue Transkription der 57 Tagebücher. Die teilweise schwer leserliche Handschrift Kesslers und die Materialfülle forderten den Bearbeitern Scharfsinn und Geduld ab. Um die Quelle schon nach Ende der fünfjährigen Transkriptionsphase nutzbar zu machen, entschieden sich die Editoren für eine elektronische Vorausgabe des transkribierten Textes auf einer CD-ROM. "Ein Faksimile wäre für Forscher und Leser nicht hilfreich gewesen", so Kamzelak.

Bereits der rekonstruierte Rohtext machte die besondere Handschrift Kesslers sichtbar: Einige Leser lobten die facettenreichen Beschreibungen des Kosmopoliten, andere die scharfzüngigen Analysen des Zeitbeobachters, alle aber die stilvollen, häufig funkelnden Einträge des homme de lettres. Anders als Thomas Mann, der zweite große Tagebuchschreiber des 20. Jahrhunderts, habe Kessler kein "journal intime" geschrieben, erläutert Kamzelak. Er nutzt seine Aufzeichnungen eher als Notizbuch. So treten Zeitpanoramen, Begegnungen und Gesichter plastisch hervor. Kesslers eleganter Stil und seine bildhaft-anschauliche Sprache lassen aus dem historischen Dokument auch ein literarisches Werk von Rang werden.

Ziel der Herausgeber ist eine "Hybridedition" - eine Ausgabe in gedruckter Form und eine elektronische Publikation. Sie sei "der Typus einer neuen Quellenedition" und arbeite "mit der Standard setzenden Editionstechnik der Zukunft", unterstreicht Kamzelak. Was das in der Praxis bedeutet, erläutert der Historiker Dr. Günter Riederer in einem karg ausgestatteten Büro an seinem PC-Bildschirm: Der Transkriptionstext, erfasst in Word, wird ins XML-Format (Extensible Markup Language) transformiert und mit dem Programm XMetaL nach festgelegten Editionsrichtlinien bearbeitet. Bei dieser computergestützten Ausgabe werden, in der editorischen Praxis bislang nicht selbstverständlich, die Registerbegriffe zu Personen, Werken, Orten oder Plätzen ausgezeichnet und fließen direkt in die Editionsdatenbank ("EDDA") ein. Der Vorteil: Die erläuternden Personennachweise - Kessler nennt etwa 12.000 zeitgenössische und historische Personennamen - können für die Printausgabe bandübergreifend erstellt werden. Zugleich wird so den Registern für die digitale Publikation vorgearbeitet. Moderne Software im Dienst der Hybridedition.

Die Resonanz auf die bisherigen Bände kann sich sehen lassen. Der Hamburger Literaturkritiker Fritz J. Raddatz etwa zollte der Edition höchstes Lob und ließ die ZEIT-Leser wissen: "Wir alle, begierig wartend seit Jahren, haben Grund zum Feiern. Schade, dass Sitte und Anstand es verbieten, Verlag und Herausgebern eine Kiste Champagner zu schicken. Verdient hätten sie es."

Doch auch geharnischte Kritik bekamen die Editoren zu hören. Der Literaturwissenschaftler und Kessler-Experte Dr. Gerhard Schuster formulierte in der "Süddeutschen Zeitung" Breitseiten gegen die Konzeption des Editionsvorhabens als Quellenausgabe auf wissenschaftlicher Grundlage. Die Erwartung der Forschung sei enttäuscht, dass "dieses singuläre Dokument Zeile für Zeile kommentiert" wird, also mit dem Fußnotenapparat einer historisch-kritischen Ausgabe versehen werde.

Die Editoren selbst können dieser Kritik nicht folgen. Sie betonen, dass die "Ökonomie der Zeit" eine durch Register erschlossene Edition als Quelle nahegelegt habe. "Eine historisch-kritische Edition hätte 20 bis 30 Jahre beansprucht", schätzt Kamzelak. Außerdem wäre der "eigentliche Tagebuchtext unter der Überfülle der Anmerkungen verschwunden". Kamzelak: "Wir wollten von Anfang an Kessler für sich sprechen lassen und die Kommentierung den Forschern verschiedener Disziplinen überlassen."

Ob die Edition auch online zugänglich sein wird? Hier gibt sich der Projektleiter diplomatisch. Die Gesamtausgabe werde, so viel sei sicher, abschließend digital publiziert - ob als CD-ROM oder als Online-Werkausgabe sei "von Verhandlungen mit dem Verlag abhängig".

Fest steht: Kesslers Tagebuchwerk bietet Forschern und Laien ebenso aufschlussreiche wie geistreiche Sichtweisen. Das muss auch Bundesfinanzminister Peer Steinbrück so empfunden haben, als er Ende 2007 einen ganzen Abend lang im Audimax der Berliner Humboldt-Universität publikumswirksam Ausschnitte aus den Jahren 1916 bis 1919 vorlas. Zwei Jahre noch, dann soll der letzte Band im roten Leineneinband vorliegen. Das Tagebuchmassiv eines ungewöhnlichen Chronisten, eines Zeitzeugen des "alten Europas" in all seinen Facetten, kann dann vollständig entdeckt und weiter erforscht werden.


Dr. Rembert Unterstell ist Chef vom Dienst der "forschung".

Das Editionsprojekt wurde von der DFG im Normalverfahren gefördert.

www.dla-marbach.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Drei Tagebuch-Hefte aus den Weltkriegsjahren 1914/15. Oben: Schwer leserlicher Tagebucheintrag vom 7. August 1916. Auf die rechte Seite hat Kessler eine Postkarte mit Porträtskizzen geklebt. Rechts: Berühmtes Kessler-Porträt von Edvard Munch aus dem Jahr 1906.Der Dandy als Kriegsfreiwilliger: Harry Graf Kessler im Jahre 1914 (oben) und an der Ostfront in den winterlichen Karpaten (dritter von links) zusammen mit Offizieren. Rechts: Kessler nutzte sein Tagebuch häufig wie ein Notizbuch, worauf auch eingeklebte Zeitungsnotizen - hier aus dem November 1918 - hinweisen.

Mit Akribie entziffert Projektmitarbeiter Günter Riederer eine Tagebuchseite. Die Handschrift Kesslers - in der Mitte seine Unterschrift - erfordert mitunter Scharfsinn. Computergestützt wird das Tagebuchwerk des "roten Grafen" zunächst transkribiert und dann in gedruckter und elektronischer Form ediert.


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Quelle:
forschung 4/2008 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 12 - 15
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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"forschung" erscheint vierteljährlich.
Jahresbezugspreis 2007: 56,71 Euro (print),
63,07 Euro (online), 66,67 Euro für (print und online)
jeweils inklusive Versandkosten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2009