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DISKURS/028: Vom (begrenzten) Nutzen der Geschichte (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2009

Vom (begrenzten) Nutzen der Geschichte

Von Christoph Kleßmann


Geschichts-"aufarbeitung" ist notwendig, um die Zukunft gestalten zu können. Das wird bei uns allgemein nicht mehr in Frage gestellt. Ein Blick in andere Länder und in die Geschichte selbst zeigt aber: Der "Normalfall" war und ist das nicht.


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"Zukunft braucht Herkunft" - mit dieser griffigen Formulierung plädierte der Philosoph Odo Marquardt für traditionsorientierte Menschlichkeit und Langsamkeit in einer durch moderne Informationstechnologien ungeheuer beschleunigten Welt. Das ist ohne Frage eine plausible Begründung für die Nützlichkeit einer Besinnung auf Geschichte und Tradition.

Dass wir Geschichte und historische Analyse brauchen, um die Zukunft zu gestalten, ist aber in einem viel allgemeineren Sinne längst ein gängiger Topos geworden, über den anscheinend nicht mehr intensiver reflektiert werden muss. Vor allem die Geschichte untergegangener Diktaturen bildet eine Herausforderung. In diesem Jahr der schon überbordenden Erinnerung an 1989 vielleicht noch mehr als je zuvor. Insbesondere die Forderung nach Aufarbeitung" der SED-Diktatur ist seit 1990 zur gängigen Floskel geworden und geht vielen Aufarbeitern bisweilen sehr flott von den Lippen. Niemand sollte grundsätzlich etwas dagegen haben. Aber wie soll sie ablaufen und wie viel ist nötig? Die Gefahr, dass aus Überfütterung mit politisch und pädagogisch gut gemeinten Angeboten, die aber an der Erfahrungswirklichkeit vieler Zeitgenossen vorbeigehen, Überdruss entsteht, ist keineswegs von der Hand zu weisen.


Zwischen Amnesie und Amnestie

Es gibt letztlich keinen zwingenden Beweis, dass Geschichte "aufgearbeitet" werden muss, um Zukunft produktiv zu gestalten - allen Feiertagsreden zum Trotz. In Japan und auch in anderen Ländern ist eine intensivere Beschäftigung mit Verbrechen der Vergangenheit bis heute marginal geblieben. Als Theodor W. Adorno 1959 fragte "Was heißt Aufarbeitung der Vergangenheit?", wandte er sich damit zunächst gegen eine verbreitete Schlussstrichmentalität. Seine Antwort war eindeutig und mündete gut neomarxistisch in die Forderung, "die Ursachen des Vergangenen" zu beseitigen. Erst dann sei der Bann des Faschismus gebrochen. Das Volk aber wollte davon damals und auch später nicht viel wissen. Die Aufbauenergie in der Bundesrepublik der 50er Jahre floss in das Wirtschaftswunder, die verblichene "Volksgemeinschaft" feierte als eine Art "Leistungsgemeinschaft" noch einmal einen Triumph und vergaß gern, was gewesen war.

Aus einer längerfristigen Perspektive sind Amnesie und Amnestie eher die Normalität und Aufarbeitung die Ausnahme in der Geschichte gewesen. Nach dem Sturz der 30 Tyrannen im antiken Athen 403 v. Chr. vereinbarte man eine allgemeine Amnestie und auch später gab es immer wieder Übereinkünfte,Vergangenes ruhen zu lassen und zu vergessen, um Neuanfänge zu ermöglichen. Der Althistoriker Christian Meier hat 1996 auf diese griechische Traditionslinie als Modell hingewiesen und Peter Benders letzter Aufsatz in Sinn und Form 2008 hat die Frage nach dem Ruhen lassen für die DDR-Geschichtsaufarbeitung nochmals zugespitzt gestellt: Nicht Verzicht auf das Erforschen, "wohl aber auf das Ausbreiten von Schrecklichkeiten, Bändigung des Furors, alles ans Licht bringen zu wollen". Denn Ost- und Westdeutsche seien mit einer verwirrenden Gegenwart und unsicheren Zukunft beschäftigt, nicht wirklich mit den Problemen der Vergangenheit. Beide Autoren haben mit ihren Überlegungen wenig Echo gefunden. Empörung und Widerspruch in der Zunft riefen dagegen vor 25 Jahren Hermann Lübbes Überlegungen zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik hervor. Er konstatierte zwar eine "gewisse Stille" in den 50er Jahren, hielt diese aber für "das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik". Das war nicht eine Forderung nach dem "Schlussstrich", aber ein nachträgliches funktionales Äquivalent.


Erhellend, aber nicht handlungsweisend

War die Geschichte der (alten) Bundesrepublik auch wegen dieser "gewissen Stille" eine Erfolgsgeschichte? Erst spät erinnerte sich die Wirtschaftswundergesellschaft intensiver ihrer braunen Vergangenheit und ihrer Elitenkontinuität. Der heute wieder viel diskutierte und kritisierte deutsche Opferdiskurs war dagegen längst sehr präsent - angesichts der Dimensionen von Flucht, Vertreibung und Zerstörung nahe liegend und verständlich. Das Problem blieb jedoch die Einseitigkeit der Perspektive, die Ursachen und Folgen nicht in der unaufhebbaren Reihenfolge reflektierte. Dass der letzte Band der großen historischen Dokumentation über die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa, der diese historische Einordnung vornehmen sollte, nie erschien, ist symptomatisch für diesen Zusammenhang.

1989 hat uns wie vielleicht kaum ein anderes historisches Datum gelehrt, wie wenig wir prognostizieren können. Auch wenn es heute vielfach anders tönt - niemand hat das schnelle und radikale Ende kommunistischer Systeme in Europa vorausgesehen und voraussehen können. Geschichte ist ein offener Prozess mit vielen Überraschungen. Was Theologen die "Unverfügbarkeit" einer Entwicklung nennen würden, legt ein größeres Maß an intellektueller Bescheidenheit gegenüber Prognoseeuphorie nahe. Die jüngste, einem politisch ungezügelten kapitalistischen Finanzsystem entsprungene Wirtschaftskrise ist ein besonders fatales aktuelles Beispiel. Norbert Blüm kommentierte das kürzlich sarkastisch: "Nie hat sich eine Zunft, die das Etikett Wissenschaft in Anspruch nimmt, mehr blamiert als die der Ökonomen. Sie ist auf dem Seriositätsstatus der Astrologie gelandet."

Daraus kann nicht folgen, einem blanken Fatalismus gegenüber der "Macht der Geschichte" zu frönen oder Geschichte nur noch als Geschichten zu präsentieren. Karl Marx' berühmter Satz "Die Menschen machen ihre Geschichte selber, aber nicht unter selbst gewählten Umständen" gilt immer noch. Viele Phänomene der Gegenwart sind ohne Geschichte gar nicht zu verstehen. Der Rückblick auf Geschichte erhellt auch, was warum schief gelaufen ist. Er gibt jedoch keine operationalisierbaren Hinweise, was zu tun ist. Er kann aber begrenzt dazu beitragen, sich Komplexität statt einfacher Lösungen bewusst zu machen und als Sand im Getriebe zu fungieren. Vielleicht.

Aufarbeitung von Geschichte bringt daher keinen unmittelbaren "Nutzen", sieht man von einem beachtlichen Arbeitsmarkt für Historiker einmal ab. Dennoch ist sie unverzichtbar, auch wenn man über die Formen streiten kann und streiten muss. Es sind neben dem von Odo Marquardt angeführten Aspekt vor allem zwei Gründe: Ein elementarer menschlicher Respekt vor den Opfern von Gewalt und eine demokratische politische Kultur, in der eine kritische Geschichte der eigenen Gesellschaft unverzichtbar ist. Das Gegenteil wäre Geschichte als beliebiges Konstrukt oder als verordnete Orientierung, die nachgebetet wird. Beides gab es und gibt es. Beides ist inakzeptabel. Auch dies hat die jüngere Geschichte gelehrt. Nötig ist stattdessen ein offenes Geschichtsbewusstsein als Pendant zu einer offenen Gesellschaft.


Geschichte als verordnete Orientierung

Kein Jahrhundert verlief blutiger als das 20. und die Wirkungen halten auch 70 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges noch an. Zwei diktatorische Ordnungssysteme beriefen sich in höchst unterschiedlicher Weise auf Geschichte. Der europäische Faschismus, insbesondere in seiner deutschen Spielart des Nationalsozialismus, projizierte viele seiner Axiome in die Vergangenheit und verfocht ein atavistisches Modell gesellschaftlicher Ordnung, das er zugleich mit höchst modernen Mitteln durchzusetzen versuchte. Der Kommunismus leitete aus dem Verlauf der Geschichte allgemeine Wahrheiten und politische Orientierungen für die Zukunft ab, die mit der orthodoxen Heilsgewissheit der Gläubigen durchgesetzt wurden. "Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist" - verkündeten die Spruchbänder der SED noch in den späten 80er Jahren, als das marode Gebäude hinter der grauen Fassade bereits Risse zeigte.

Czeslaw Milosz, polnischer Dichter, Literaturhistoriker und Nobelpreisträger, beschrieb 1953 in seinem 1959 auch auf Deutsch erschienenen Buch Verführtes Denken rückschauend die ungeheure Faszination des siegreichen Kommunismus auf Intellektuelle. Hier wurden (scheinbar) aus der Geschichte direkte und plausible Lehren für eine bessere Zukunft gezogen. Die sozialistisch-kommunistische Vision stand in hellem Kontrast zur Tragödie im Europa der alten kapitalistischen Ordnung. Lebendig waren zudem noch die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise. Im Antifaschismus der DDR fanden ähnliche Vorstellungen ihren Niederschlag. Er ist nach 1990 zu Recht harsch kritisiert worden. Aber seine Loyalität stiftende Rolle ist nicht zu unterschätzen.

Es hat relativ lange gedauert, bis in der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte der politikhistorische Blick auf die Machtelite der braunen Diktatur sukzessive auf die gesamte Gesellschaft erweitert wurde, bis die erschreckenden Ambivalenzen von brutalem Terror, trivialem Alltag und erfahrungsgeschichtlicher Faszination eingehend thematisiert wurden. Erst so bekam aber die Geschichte des Nationalsozialismus ihre eigentliche Dramatik. Die Frage nach dem Kitt des 1989 untergegangenen DDR-Systems benennt ein generelles Schlüsselproblem kommunistischer Diktaturen und ihrer historisch-politischen Aufarbeitung. Nach den Bindekräften zu suchen und sie differenziert zu erklären, ist eine ebenso schwierige wie lohnende und notwendige Aufgabe, wenn man verstehen will, warum dieses System so lange existierte und funktionierte. Der Hinweis auf den sowjetischen Oktroi, auf Terror und Zwang, ist richtig, reicht aber nicht. Er erklärt vieles, aber längst nicht alles. Daher ist für mich auch die öffentliche Aufregung über den Begriff der "Bindekräfte" und die oft empörte Kritik an der Alltagsgeschichte als angeblicher Weichspülerei der Diktatur eine groteske Fehlwahrnehmung des Problems.

Die doppelte Diktaturgeschichte, so unterschiedlich sie verlief, macht deutlich, wie dünn der Firnis einer zivilen und demokratischen politischen Ordnung ist. Gerade deshalb lohnt es sich, auch in künftigen und unvorhergesehenen Konstellationen etwas für sie zu tun.


Christoph Kleßmann (* 1938) ist em. Professor für Zeitgeschichte. Von 1996 bis 2004 war er Direktior des Zentrums für Zeithistorische Forschung an der Uni Potsdam. Arbeitsschwerpunkte: deutsche und polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im Böhlau-Verlag erschien 2008: Der Koreakrieg.
klessmann@uni-potsdam.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Geschichte verschwindet und soll neu entstehen. Vorübergehende Brache nach dem Abriss des Palasts der Republik im Dezember 2008.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2009, S. 20-23
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2009