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DRITTES REICH/031: Das Versagen der deutschen Wissenselite (TU berlin intern)


TU berlin intern 6/08
Die Hochschulzeitung der Technischen Universität Berlin

Das Versagen der deutschen Wissenselite
Der Fall Schlesinger wurde vor 75 Jahren als antisemitisches Schauspiel inszeniert

Von Hans Christian Förster


Georg Schlesinger (1874-1949) gilt heute als Pionier der modernen Produktionswissenschaft. 1904 berief ihn die TH Berlin auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für "Werkzeugmaschinen und Fabrikbetriebe", den ersten dieser Art in Deutschland. 1907 wurde diesem das Versuchsfeld für Werkzeugmaschinen zugeordnet. Dieses Institut, das Schlesinger dreißig Jahre leitete, erlangte weltweit einen exzellenten Ruf, er selbst war als Fachmann geschätzt.

Als Hitler 1933 Reichskanzler wurde, bedeutete das die Wende für die TH Berlin, die damals größte Technische Hochschule im Reich. Eine Allianz äußerer und innerer Kräfte entwickelte den Ehrgeiz, die TH auf schnellstem Wege in eine NS-Musterinstitution umzubauen. Das bedeutete zunächst die Entfernung "rassefremder" Hochschullehrer und Assistenten. Bestandteil dieser Aktion war eine würdelose Kampagne gegen Professor Schlesinger. Bereits im Februar 1933 attackierte Goebbels' "Angriff" den Wissenschaftler verbal. Am 18. März drang Polizei mit SA-Hilfspolizisten - ohne Haft- und Durchsuchungsbefehl - in Schlesingers Wohnung, Diensträume und ins Versuchslaboratorium ein und beschlagnahmte Arbeitsunterlagen. Entsetzt über den Willkürakt intervenierten die Professoren Krecker als Vertreter des Rektors und Orlich als Dekan bei Kultusminister Rost. Sie gaben eine Ehrenerklärung für ihren Kollegen ab und forderten eine amtliche Rehabilitationserklärung. Stattdessen wurde im April das Hochschulrektorat angewiesen, Fragebögen zu verteilen, die gemäß der neuen Gesetzeslage unter anderem die Abstammung des Lehrkörpers erfassen sollten. Die am 21. April dem Rust-Ministerium übermittelte Liste wies Georg Schlesinger als "nicht-arisch" aus. Eine Woche später wurde er "mit sofortiger Wirkung beurlaubt". Am 30. April erfolgte eine zweite Hausdurchsuchung und der Professor wurde in "Schutzhaft" genommen. Jetzt war klar, dass der "Fall Schlesinger" als antisemitisches Schauspiel inszeniert werden sollte. Als am 5. Mai Haftbefehl wegen "Verrats militärischer Geheimnisse" gegen ihn erlassen wurde, befand er sich bereits sechs Tage im Gefängnis. Erst nach zwei Monaten Haft begann die Untersuchung, doch die Anschuldigung erwies sich als nicht beweisbar. Deshalb wurde das Verfahren am 15. September eingestellt und die Untersuchungshaft offiziell beendet. Doch Schlesinger kam nicht frei.

Jetzt griff die Gestapo mit Verdacht auf "unlauteren Wettbewerb" zu. Auch dieser Vorwurf blieb unbeweisbar und Schlesinger kam - nach sieben Haftmonaten - am 26.11.1933 wieder frei. Formal als Beamter wurde er 1934 in den Ruhestand versetzt. Doch Pension wurde nie gezahlt.

Während dieser demütigenden Zeit erhielt Schlesinger Unterstützung von einigen Kollegen aus der Universität und vom Verein deutscher Werkzeugmaschinenfabriken. Der "Fall Schlesinger" dokumentiert fatal das Versagen der deutschen Wissenselite in der Stunde existenzieller Gefahr. Schlesinger verließ im Januar 1934 Deutschland für immer. Erst in Zürich und Brüssel lehrend, ging er 1939 nach Großbritannien. Dort wirkte er bis 1944 am College of Loughborough und starb 1949. Günter Spur, Emeritus der TU Berlin, ist es maßgeblich zu verdanken, dass Schlesingers Lebenswerk, inzwischen weitgehend erforscht, dem Vergessen entrissen wurde.


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Quelle:
TU Berlin intern Nr. 6/08 - Juni 2008, Seite 12
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2008