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FORSCHUNG/103: Die Wikinger im Bernsteinland (DFG)


forschung 1/2008 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Wikinger im Bernsteinland

Von Timo Ibsen


Die Gräber der skandinavischen Kaufleute und Krieger in Wiskiauten sind schon lange bekannt. Jetzt fanden deutsche und russische Archäologen auch Überreste der dazugehörenden Siedlung - ein wichtiges Zeugnis für frühen Handel im Ostseeraum


Von Hand zu Hand geht der Eimer mit dem schlammigen Wasser, das am Grund des mittlerweile vier Meter tiefen Ausgrabungsschachtes unaufhörlich aus einer massiven Steinkonstruktion geschöpft wird. Es sind russische und deutsche Studierende, die auf einer Wiese in der Nähe eines frühmittelalterlichen Hügelgräberfeldes im ehemaligen Ostpreußen nach Siedlungsspuren der Wikingerzeit forschen. Über und über mit Schlamm beschmiert, legen sie einen frühmittelalterlichen Brunnen frei, der offenbar immer noch bestens funktioniert - nach gut einem Jahrtausend.

Aus dem Brunnenschacht kommen neben Holzkohleresten unzählige Tierknochen, Keramikfragmente, Glas- und Bernsteinperlen oder Geräte und Kämme aus Knochen und Eisen zum Vorschein. Nur etwa ein Kilometer entfernt arbeitet ein zweites Team am Ufer eines ehemaligen Binnensees. Umschwirrt von Moskitos legen die Grabungshelfer hier schrittweise Siedlungsschichten frei, die von fast einem Meter Sediment und Schutt aus deutscher und sowjetischer Zeit überdeckt werden. Seit mehr als 1200 Jahren schlummern diese Kulturschichten im Boden.

Zusammen mit dem Brunnen gehören sie zu einem ausgedehnten Siedlungskomplex der Prussen, einem westbaltischen Volksstamm, der um die Jahrtausendwende im späteren Ostpreußen siedelte und dem Land seinen Namen gab. Heute gehört die Region zum Kaliningrader Gebiet Russlands; die einst berühmte Philosophenstadt Königsberg trägt heute den Namen "Kaliningrad".

Der Ausgrabungsort liegt etwa drei Kilometer südlich der Ostseeküste in einer Moränenlandschaft am Fuß der Kurischen Nehrung, die, an der Nordostecke des Samlandes beginnend, als 100 Kilometer lange Sanddüne in Richtung Klaipeda - dem früheren Memel - verläuft und die Ostsee vom Kurischen Haff trennt. Ein Seitenarm des Haffs reichte früher weiter ins Landesinnere und bildete in der Nähe des ehemaligen deutschen Dorfes Wiskiauten (heute Mohovoe) einen flachen, mittlerweile verlandeten Binnensee. Von seinen Ufern erblickt man auf dem höchsten Punkt der Gegend ein kleines Wäldchen, in dessen dichtem Unterholz Hunderte von Grabhügeln verborgen liegen. Ihre ursprüngliche Zahl wird heute auf über 500 geschätzt.

Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts dort eine Straße gebaut wurde, entdeckte ein in der Nähe stationierter Leutnant mit seinen Soldaten verrostete Schwerter und Lanzen, bronzene Gewandverschlüsse sowie Münzen und Schmuckstücke aus Silber. Sie stammten aus bereits zerstörten Grabhügeln. Kurz darauf begannen Königsberger Archäologen mit den ersten wissenschaftlichen Ausgrabungen am - wie es damals hieß - größten Wikingerfriedhof Deutschlands. Denn schnell war klar, dass die zahlreichen prunkvoll verzierten Gegenstände skandinavischen Kaufleuten und Kriegern gehörten, die im Siedlungsgebiet der Prussen zwischen 850 und 1050 nach Christus ihre letzte Ruhestätte fanden. Die Nekropole wurde deshalb schnell als indirekter Beweis für eine Kolonie von Wikingern interpretiert, die in der bernsteinreichsten Region der Welt, dem Samland, mit den Prussen Handel trieben. Die vermutete Han delsniederlassung bei Wiskiauten aber konnte trotz intensiver Suche nie gefunden werden. Nachdem der Zweite Weltkrieg die Aktivitäten deutscher Altertumsforscher unterbrochen hatte, setzten russische Wissenschaftler die Grabungen fort. Doch erst in den 1980er-Jahren gelang es dem Archäologen Vladimir Iwanowitsch Kulakov, erste Spuren allgemeiner Siedlungstätigkeiten in der Umgebung des Gräberfeldes aufzudecken. Größe und Charakter der Siedlung sowie deren Datierung blieben jedoch ein Rätsel.

Anknüpfend an seine Erfahrungen mit naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden in der großen wikingerzeitlichen Handelsmetropole Haithabu initiierte dann im Jahre 2005 Claus von Carnap-Bornheim vom Archäologischen Landesmuseum Schleswig, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloß Gottorf, in Zusammenarbeit mit dem Archäologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften Moskau ein für die Region wegweisendes Forschungsprojekt: Erstmalig wurde eine großräumige Suche nach der Siedlung von Wiskiauten anberaumt, die Fragen zur genauen Lage, zur Ausdehnung, zum Alter und zur inneren Struktur der Niederlassung beantworten soll.

Das potenzielle Siedlungsgebiet ist mit mehr als zweieinhalb Quadratkilometern so groß, dass es mit herkömmlichen archäologischen Methoden kaum untersucht werden kann. Erfolg verspricht umso mehr der Einsatz modernster geophysikalischer Technik, mit der schnell ein großes Gebiet vorab "durchleuchtet" werden kann. Denn überall da, wo der Mensch durch die Anlage von Gruben oder Häusern Eingriffe in den geologischen Schichtenaufbau des Bodens vorgenommen hat, ist das natürliche Magnetfeld der Erde gestört. Und das lässt sich durch Messungen sichtbar machen.

Seit Projektbeginn hat ein geowissenschaftliches Forscherteam der Universität Kiel ein Areal von fast 70 Hektar geomagnetisch vermessen. Ideal sind die Bedingungen, wenn im Frühjahr der Boden noch gefroren ist und eine dünne Schneedecke die zu untersuchenden Äcker und Wiesen bedeckt. So kann sich der Fahrer auf dem kleinen Traktor, an dessen Anhänger die Messapparatur mit den acht hochempfindlichen Sonden montiert ist, besser an seinen vorherigen Fahrspuren orientieren, und es entstehen später keine Lücken im Messbild. Tausende von Daten sind so gewonnen worden. Sie zeigen sich auf dem Computerbildschirm, manchmal als vereinzelte Punkte, manchmal als dichte Wolken, die sich um lineare Strukturen gruppieren. Später werden die Messbilder auf die topografischen Karten projiziert, um die Koordinaten der Anomalien im Magnetfeld zu ermitteln. Vor Ort wird häufig schon am nächsten Tag gebohrt, wobei der Bohrkern sofort auf datierbares Material wie Knochen oder Holzkohle untersucht wird, um später über C14-Datierungen eine erste Alterseinschätzung vorzunehmen. An den auffälligsten Fundstellen werden dann jeden Sommer die archäologischen Ausgrabungen angesetzt.

Bisher konnten neben zwei Befunden aus der vorrömischen Eisenzeit aus den letzten Jahrhunderten vor Christus vor allem Siedlungsreste des Frühmittelalters zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert lokalisiert werden. Schon jetzt muss die alte Vorstellung einer reinen Kolonie von Wikingern deshalb korrigiert werden. Denn bereits vor der Ankunft der Skandinavier, die nach den Funden im Gräberfeld zu urteilen kurz vor der Mitte des 9. Jahrhunderts erfolgt sein muss, hat es mindestens zwei einheimische Dörfer am Rande des mit dem Kurischen Haff verbundenen Binnensees gegeben. Unweit von dessen alter Küstenlinie förderten die Grabungen an zwei Stellen Siedlungsschichten zutage, die mit zahlreichen Tierknochen und Fragmenten handgemachter Keramikgefäße sowie Abfällen von Metallverarbeitung durchsetzt waren. Sie weisen auf ausgeprägte handwerkliche Tätigkeiten hin. Die Siedlungen gehören in das ausgehende 7. und 8. Jahrhundert. Gräber zu diesen frühen Siedlungsresten fehlen allerdings bisher, erst ab der Mitte des 9. Jahrhunderts sind die Siedlungsspuren zeitlich mit dem Hügelgräberfeld zu verbinden.

Zu dessen Spätphase passt chronologisch der große Brunnen, der nur etwa 150 Meter südlich des Gräberfeldes liegt. Durch Funde und C14-Analysen kann die Verfüllung des Brunnens in das späte 11. Jahrhundert datiert werden. Der Brunnen selbst dürfte schon um 1050 gebaut worden sein und versorgte sicherlich eine größere Siedlung mit Süßwasser. Unklar ist derweil noch, wohin die vollen Wassereimer getragen wurden. Denn Häuser konnten in der Nähe des Brunnens bisher nicht entdeckt werden. Die sind aber auf jeden Fall an einer anderen Stelle nachgewiesen, nämlich nördlich des Hügelgräberfriedhofs auf einer Stufe des dort terrassenartig zum ehemaligen Binnensee abfallenden Geländes. Insgesamt 60 Holzpfosten, heute nur noch als unscheinbare rundliche Verfärbungen im gelblichen Lehmboden erkennbar, deuten auf Häuser in Pfostenkonstruktion hin, eine typisch skandinavische Bauweise. Aber die zahlreichen Funde aus den Wohnbauten gehören ausnahmslos in das ausklingende 11. und beginnende 12. Jahrhundert und somit in eine Zeit, als im Gräberfeld schon keine Hügelgräber mehr angelegt wurden. Allerdings befindet sich im Osten der großen Nekropole ein separierter Bestattungsplatz mit typisch prussischen Brandgräbern, die zeitlich mit den aufgedeckten Gebäuden in Zusammenhang stehen. Dazu passend zeigen die Funde aus der Umgebung der Pfostenhäuser ein eher einheimisches Gepräge. Neben den typisch prussischen Ringfibeln, Gürtelverschlüssen und Fingerringen aus Bronze, Keramikresten, Wetzsteinen und Tierknochen sind eine byzantinische Silbermünze aus dem späten 11. Jahrhundert sowie eine Perle aus Gagat bemerkenswert, weil sie weitreichende Handelskontakte belegen.

Nach drei Jahren Forschung kann die Siedlung von Wiskiauten nicht länger als zeitlich eng begrenzter, skandinavischer Handelsplatz gewertet werden. Vielmehr ist nun von einer schon vorher bestehenden prussischen Siedlungsaktivität auszugehen, die bereits lange vor der Ankunft der Wikinger einsetzte. Die längst vorhandene Infrastruktur ist von den Kaufleuten aus dem Norden, die hauptsächlich aus Birka in Mittelschweden und von der Insel Gotland kamen, ausgebaut worden - und der Ort an die damaligen überregionalen Handelswege über die Ostsee angeschlossen worden. Die skandinavische Bevölkerung muss dabei stark in die Siedlung der einheimischen Prussen integriert gewesen sein.

Überraschend ist das Fehlen der im Gräberfeld so häufigen typisch skandinavischen Gegenstände im Siedlungsmaterial. Doch früher oder später wird auch die Siedlung Wiskiauten ihr Geheimnis preisgeben, wenn ab dem Jahr 2010 in größeren Grabungskampagnen die bisherigen "Verdachtsflächen" vollständig aufgedeckt werden. Bis dahin jedoch wird die so erfolgreiche Kombination von geomagnetischer Voruntersuchung sowie archäologischen Bohrungen und kleinräumigen Ausgrabungen fortgesetzt. Am Ende wird das dichte Geflecht von grauen und schwarzen Punkten im Messbild mit so vielen Informationen hinterlegt sein, dass der Spaten dann auch an der richtigen Stelle angesetzt werden kann. Schon jetzt ist es gelungen, das berühmte Gräberfeld von Wiskiauten mit eindeutigen, zeitnahen Siedlungsspuren zu verbinden, deren Ausdehnung und Alter alle bisherigen Erwartungen übersteigen.


Timo Ibsen M.A. ist Grabungsleiter des Wiskiauten-Projekts und am Archäologischen Landesmuseum Schleswig tätig.

Adresse: Archäologisches Landesmuseum Schleswig
Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloß Gottorf
Schloß Gottorf, 24837 Schleswig

Die DFG fördert das Vorhaben im Normalverfahren.

www.wiskiauten.eu


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Archäologische Kärrnerarbeit bei Minusgraden: Ist durch geomagnetische Messungen ein vielversprechender Fundplatz im Gelände aufgespürt, wird dort nach den erhofften Zeugnissen der Wikingerzeit gebohrt.

Luftbild der Umgebung von Wiskiauten im ehemaligen Ostpreußen. Das frühmittelalterliche Hügelgräberfeld ist eingezeichnet.

Russische und deutsche Studierende legen eine Siedlungsgrube der vorrömischen Eisenzeit frei. Gut sind Keramikscherben zu erkennen.

Spurensuche mit moderner Technik: Das geomagnetische Messgerät wird mit einem Trecker über einen schneebedeckten Acker gezogen. Ein geografisches Informationssystem hilft später, die Messbilder im Computer zu verarbeiten und auf dem Bildschirm - hier als graue Flächen - sichtbar zu machen.

Funde aus dem Umfeld der mutmaßlichen "Pfostenhäuser" in Wiskiauten.

Markante Gürtel- oder Kleidungsverschlusshaken aus Bronze (11./12. Jahrhundert n. Chr.) sowie darunter eine byzantinische Silbermünze des späten 11. Jahrhunderts.

Gleicharmige Fibel mit Tierstilverzierung, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in einem Grabhügel entdeckt wurde.


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Quelle:
forschung 1/2008 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 17-20
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2008