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FORSCHUNG/113: Das Getto in Lodz - Geschichte und Erinnerung (Spiegel der Forschung - Uni Gießen)


Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008 Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

Das Getto in Lodz
Geschichte und Erinnerung

Von Karl Stuhlpfarrer


Eine Stadt wird besetzt. Die Stadt liegt in Polen. Aber Polen ist schon verloren. Polen zerfällt in drei Teile. Zwei gehen an Deutschland, der dritte vorläufig an die Sowjets. Diese Stadt war berühmt zur Zeit ihrer Blüte unter dem Zaren, und auch später noch, besonders für ihre Textilien. Man nannte sie auch: Manchester des Ostens. Aber eigentlich hat sie drei Namen. Die Polen nennen sie Lodz. Die Juden und Deutschen nannten sie Lodsch. Nazi-Deutschland räumte mit diesem Gleichklang auf. Ab April 1940 heißt es nur mehr Litzmannstadt.

Holzbrücke im Getto über eine exterritoriale Straße von Lodz.

Holzbrücke im Getto über eine exterritoriale Straße von Lodz.


Die deutsche Besetzung schafft neue Machtverhältnisse in der Stadt. Zuerst kommt die deutsche Wehrmacht, dann erst die zivilen Stellen: SS und Polizei, die Gestapo und NS-Partei, die vielen Stellen des Reichskommissars Himmler, natürlich auch, als alles klar und regelrecht schien, die regionale und die Stadtverwaltung. Das merkt man am Quartier, das Grandhotel, das beste Haus am Platz, besetzt zuerst der Stab des Generalobersten (Blaskowitz). Der Regierungspräsident (Uebelhoer) hat keine Chance mehr unterzukommen. Das verbittert ihn noch drei Jahre später. Mehr als die "chaotischen Zustände auf allen Lebensgebieten", "grinsende Polen und schon wieder frechgewordene Juden", geht ihm nicht aus dem Gedächtnis, quält ihn die Demütigung, daß Generalgouverneur Dr. Frank sich in Lodz die von ihm beanspruchte Wohnung - und noch dazu möbliert - in Reserve halten wollte. Eigentlich gehörte sie ja Markus Cohn, dem Hauptinhaber der zweitgrößten Textilfabrik von Lodz, wie alle wußten.

Lodz war dazu bestimmt, eine deutsche Stadt in deutschem Umfeld zu werden. Das war ausgemachte Sache. In seinen "Grundfragen zum Aufbau der neuen Ostgebiete" verfügte Ulrich Greifelt, der Stabschef Himmlers als Reichskommissar "eine Siedlungstätigkeit von bisher noch niemals erreichter Intensität und alle Bevölkerungsteile umfassenden Größenordnung". Dazu gehörte auch ein "befriedigender Ausbau der Siedlungsmittelpunkte", ein "planmäßiger Ausbau des Verkehrsnetzes", ein einmaliges Kolonisationswerk unter "zwingende[r] Voraussetzung, daß das deutsche Volk in all seinen Gliedern den letzten Grund dieser großen volkspolitischen Aufgabe erkennt und ihr damit die erforderliche Stoßkraft und den bleibenden Erfolg sichert."

Die Prioritäten im Nordosten Deutschlands waren so deutlich gesetzt, dass die Wiener Raumplaner schon um ihre Südosteuropaplanungen fürchteten. Aber immerhin, sechs Millionen Menschen, glaubten auch sie, könne dieses neue deutsche Gebiet, der Warthegau, ernähren: zwei Millionen Slawen, die nicht im strengen Sinne Polen wären, eine Million Deutsche und drei Millionen deutscher und volksdeutscher Umsiedler. Die Umsiedlung war weniger leicht als erwartet. Bis Juli 1943 nur eine knappe Viertel Million.

Feier in der Hut-Abteilung

Feier in der Hut-Abteilung


Lodsch/Litzmannstadt sollte eine deutsche Stadt werden, eine moderne deutsche Stadt. Ihre deutsche Inbesitznahme entwickelte sich zuerst als einziger Raubzug, an Gebäuden und Wohnungen, an Fabriken und Arbeitsplätzen. Dann wurden die Denkmäler geschleift, die Straßen umbenannt, wie auch die ganze Stadt. Die deutschen Stadtplaner aus Berlin begannen ihre Pläne zu zeichnen, ihre Modelle zu bauen.

Denn das gehört nun alles natürlich auch zur neuen Identität der Stadt, ihre Architektur, ihre Möblierung, einschließlich ihrer Fabriken und Geschäfte, ihre Infrastruktur mit Wasser und Kanal, ihre Energieversorgung für Kochen und Heizen, die innerstädtischen und regionalen Verkehrsverbindungen mit Tram und Eisenbahn, Fuhrwerk und Automobil. Polizei, Feuerwehr und Rettung waren zu reorganisieren. Man brauchte mehr Gefängnisse als sonst. Theater, Museen, Kinos, Festsäle und Sportplätze genügten den deutschen Ansprüchen nicht. Das Gauheimstättenamt und das Amt für Schönheit der Stadt wollte "anständige Kinos" und Gaststätten, vor allem aber deutsche Wohnungskultur. Sie verteilten sogar Musterbögen für Behelfsmöbel zur Selbstherstellung.

Denn Modernisierung des Haushalts und Modernisierung der Lebensweise hieß in NS-Deutschland und mehr noch in gerade eroberten Gebieten, nationale Vielfalt gegen nationale Einheit zu tauschen, das hieß Homogenisierung und Nazifizierung, nicht nur der Menschen auch ihrer ganzen Umwelt. Eine solche Litzmannstadt ist nicht für viele Nationen und Religionen gedacht, multinationale Identitäten und interkulturelle Beziehungen sind in ihr unerwünscht.


Die Einrichtung des Gettos

Ein Drittel der Bevölkerung von Lodz waren Juden. Ihre Deportation gemeinsam mit Zehntausenden Polen war schon beschlossen, es sei denn die Grenzen des Generalgouvernements würden westlicher gezogen. Als dann die Entscheidung gefallen war, stockte auch die ganze Deportation. So blieben einmal die Juden in der Stadt, gezählt und registriert, an die 30.000 deportiert, also blieben noch etwa 200.000. Ihre kulturellen und sozialen Organisationen waren aufgelöst, Berufsverbot war über sie verhängt, wie Reinhard Heydrich befahl. Ein Ältestenrat hatte für die Einhaltung der ihnen auferlegten Arbeitspflicht zu sorgen. Noch vor allen anderen Juden kennzeichnen sie in Lodz ihre gelben Armbinden. Einen Monat später tragen alle Juden im Warthegau den gelben Davidstern auf der rechten Brust- und Rückenseite als allseitig erkennbares Zeichen.

In Lodz handelt es sich nicht nur um den einfachen Übergang von einer multikulturellen zu einer deutschen Stadt. Germanisierung als Nazifizierung heißt immer auch gleichzeitig Aussperrung des Fremden, des als böse, gefährlich und schädlich Benannten, seine "Ausmerzung", wie es hieß. Der Übergang von den "primitiven Daseinsbedingungen" zu "gesunden Wohnbedingungen für deutsche Menschen", wie Die Litzmannstädter Zeitung vom 20. Oktober 1940 schrieb, trennte Deutsche von Nichtdeutschen. Den einen Kanal und Wasserleitung, Hygiene und schöneres Wohnen, den anderen ein vorläufiger Rest der Stadt: das Getto.

Arbeit im Metall-Ressort

Arbeit im Metall-Ressort


Im Februar 1940 wird der nördliche Teil der Stadt zur geschlossenen Unterbringung der Juden bestimmt. Ab Mai 1940 ist das Getto hermetisch abgeschlossen. Hineingepfercht in die Häuser und Holzhütten, 95% der Häuser ohne Toiletten, Wasser- und Kanalanschluss, nur wenige Häuser mit Elektrizitäts- und Gasversorgung. Nicht überall gab es befestigte Straßen, als Transportmittel höchstens der handgezogene Karren. So begann das Getto-Leben: an die 160.000 Menschen, Männer, Frauen und Kinder, auf einem Gebiet hinter einem zwanzig Kilometer langen Zaun aus Planken und Stacheldraht, bewacht von der Schutzpolizei. Wer aus dem Getto dem Zaun zu nahe kommt, wird erschossen.

Und doch sind Getto und Stadt wie verkehrte Spiegelbilder. Das eine ist die negative Mimikry des anderen. Wo die Deutschen modernisieren und für ihre Zukunft planen, ihre Stadt neu aufbauen wollen, dort steht vis-à-vis die alte Stadt, noch vorläufig geduldet, zum Untergang verurteilt. Aber Tag für Tag suchen die Nazis nach verborgener jüdischer Präsenz in ihrer Stadt, die von Juden versteckten Vermögenswerte. Und kein Tag vergeht ohne Gedanken an die Juden im Norden der Stadt. So mächtig die neuen Herren auch sind, es beherrscht sie nicht nur die Gier nach fremdem Schmuck und Geld, es sitzt auch die Angst in ihnen: die Angst vor dem Feuer, die Angst vor der Krankheit, den Seuchen.

Voll von Häusern aus Holz ist die Stadt, besonders im Areal des Gettos. Deshalb wird ein breiter Feuerschutzgürtel um das Getto gezogen, dort wo es an die deutsche Stadt grenzt. Niemand und nichts darf vom Getto zur deutschen Stadt, was nicht erst entseucht ist. Dafür sorgen Wachmannschaft und Gestapo, aber die Verwaltung des Gettos liegt nicht in der Hand der SS, sie ist Teil der Stadtverwaltung von Litzmannstadt.


Das politische System des Gettos

An der Spitze der deutschen Getto-Verwaltung steht Hans Biebow, ein Geschäftsmann aus Bremen. Alle deutschen Dienststellen bestätigen, er führe die deutschen Geschäfte erfolgreich. Dabei ist er relativ jung, wie viele Nazis in führenden Positionen, feiert 1942 seinen 40. Geburtstag. Seine Dienst stelle ist wichtig, man merkt es am Personal; in Spitzenzeiten mit an die vierhundert, ist sie auch 1944 noch mit hundertsechsundzwanzig Mitarbeitern ausgestattet. Die Männer natürlich vom Wehrdienst befreit. In führenden Positionen auch zwei Geschäftsleute aus Österreich: Josef Hämmerle aus Vorarlberg, Leiter der Buchhaltung, zeitweise auch Stellvertreter von Biebow. Walter Genewein aus Salzburg führt die Finanzabteilung der Dienststelle.

Ihr Gegenspieler ist Mordechai Chaim Rumkowski, der Älteste der Juden; 1939 schon über die sechzig. Auch er ein Geschäftsmann, nicht immer erfolgreich, aber bekannt in der Gemeinde durch seine großartige soziale Tätigkeit. Er baut im Getto eine jüdische Parallelverwaltung auf. Er regiert autokratisch, seine Grenzen bestimmen die Deutschen; mit ihnen arbeitet er eng zusammen. Er sorgt für die Registrierung der Juden im Getto, für die Verteilung der Wohnungen und der Lebensmittel. Ihm zur Seite steht eine eigene jüdische Getto-Verwaltung, die er als gut funktionierende Organisation aufbaut. Da gibt es ein Krankenhaus ebenso wie auch Schulen; und eine eigene Feuerwehr, ganz gut ausgestattet von den Deutschen. Polizei und Richter sorgen für innere Ordnung. Politische Opposition lässt Rumkowski im Getto nicht zu, bewaffneten Widerstand gegen die Deutschen hält er für schädlich.

Schule im Getto... und Ordnungsdienst.
Schule im Getto... und Ordnungsdienst.


Auf Rumkowski geht der Plan zurück, wie den Juden im Getto das Überleben zu sichern. Dazu braucht er ein gutes Verhältnis zur deutschen Getto-Verwaltung. Zwar ist es letztlich immer durch den alltäglichen Terror an der Grenze des Gettos und im Getto selbst bestimmt, aber neben diesem direkten Gewaltverhältnis entstehen zwischen den beiden Verwaltungen, der deutschen und der jüdischen, auch symbolische und materielle Interaktionen, in denen kürzer- oder längerfristig partiell Interessen übereinstimmen können. Wie in einem gewöhnlichen Konzern entsteht so ein umfangreicher Schriftverkehr, werden eifersüchtig Berechnungen und Entscheidungen der anderen Seite verfolgt, kommentiert und bekrittelt, ja von Mal zu Mal können sogar auf persönlicher Ebene Vorteile erbeten, kleine Geschenke ausgetauscht werden. Das hört auf, je unsicherer die Lage für das Weiterbestehen des Gettos wird. Immer deutlicher und roher spielt Biebow dann seine Vormachtstellung auch in Formen physischer Gewalt direkt gegen Rumkowski aus. Die Idee Rumkowskis ist so einfach wie riskant. Die Existenz und die Wirtschaft des Gettos gründet sich auf der Ausplünderung der Vermögenswerte der Juden, die sie im Getto besitzen, die sie außerhalb noch versteckt halten, oder auf Zuwendungen und Rechtstitel, die sie von außen bekommen können. Viel wichtiger aber noch, auf die Zwangsarbeit der Juden für die deutsche Wirtschaft. In seiner Erwartung der "Rettung durch Arbeit" baut Rumkowski mit Unterstützung der deutschen Getto-Verwaltung einen großen, diversifizierten Industriekomplex auf, der schließlich fast nur mehr für die deutsche Rüstungsindustrie arbeitet. Dafür erhält das Getto die für das Überleben notwendigen Lebensmittel. So war der Plan.


Die Lebensumstände im Getto

Nach und nach gehen so - durch freiwillige Ablieferung, aber auch durch die ständigen Hausdurchsuchungen von Kripo und Gestapo - Kunstgegenstände, Uhren und Juwelen, Reichsmark, Valuten, Gold- und Silbermünzen in die Hände der deutschen Verwaltung über. Die deutsche Getto-Verwaltung schreibt sie, wenn sie zu ihr gelangen, von Mal zu Mal dem Habenkonto des Gettos gut. Denn alle Juden sind kollektiv enteignet, sogar die Gebäude im Getto gehören schon der GHTO (Gebäude-Haupttreuhandstelle Ost). Ab Mai 1940 ist gültiges Zahlungsmittel nur mehr die eigene Getto-Mark.

In diesem Mai beginnt auch die Produktion im Getto. An die 15.000 Facharbeiter sind am Anfang registriert. In riesige Werkstätten werden immer mehr Personen in immer mehr Branchen eingebunden. Sattlerei und Schneiderei, Strohschuherzeugung für die Soldaten der Wehrmacht im eisigen Winter der Ostfront. Uniformen und Möbel. Man sieht es an der Statistik. Da sind die Fertigteilbaracken und die Geschosskerne als höchster Stand der Produktion noch gar nicht enthalten. 1942 arbeiten schon an die 74.000 Männer und Frauen in 80 Fabriken, Werkstätten und Lagerhäusern. Das sind 85% der Getto-Bevölkerung. Bis 1944 steigert sich dieser Prozentsatz auf über 92%. Durch Einführung der Fließbandarbeit und durch Maschineneinsatz erhöht sich die Produktivität und ist auch die Verwendung von nicht qualifizierten Arbeitskräften möglich. Dazu kommen die Leiharbeitskräfte für die Zwangsarbeit außerhalb des Gettos. Das bringt jene Einnahmen des Gettos aus verkauften Waren und Arbeitslöhnen, mit denen für die Lebensmittel bezahlt wurde, nachdem die Kosten der deutschen Getto-Verwaltung abgezogen worden waren.

Kleiderliste


Ein Mädchen im Getto stickt militärische Abzeichen.
Ein Mädchen im Getto stickt militärische Abzeichen.


Die deutsche Getto-Verwaltung versorgt das Getto mit Lebensmitteln von schlechter Qualität und zu überhöhten Preisen. Als Richtlinien galten die Gefängnissätze. Im Sommer 1942 erhielt ein voll arbeitender Getto-Bewohner durchschnittlich 1.100 Kalorien am Tag. Die Frauen teilten das Ihre oft noch mit den Kindern. Die Ernährung im Getto war oft so schlecht, dass aus Angst vor Seuchen und zur Erhaltung der Arbeitskraft der Juden sogar das deutsche Gesundheitsamt in Litzmannstadt eine Besserung ihrer Ernährungslage für nötig hielt. Die engen und unzureichenden Wohnverhältnisse und die trostlose hygienische Situation trugen nicht wenig zur hohen Sterberate bei. Die Überlebenschancen bei der Fäkalienabfuhr waren gleich null. 1940 bis 1944 sind an die 45.000 Personen im Getto gestorben - an Lungentuberkulose und Herzversagen, häufig wegen Unterernährung. Selbstmorde, Erschießungen am Zaun, aber auch Hinrichtungen waren nicht selten.


Eine der Getto-Küchen


Die Einsiedlungen und die Aussiedlungen - auch der Roma

Das Getto, zunächst nur als Provisorium gedacht, erhielt zunehmend zentrale Funktionen im Warthegau. Ab Ende 1941 wurden dort die kleinen Gettos aufgelöst. So kamen rund 7.700 Juden in das schon dicht bevölkerte Getto nach Lodz, das die Stadtmediziner von Litzmannstadt ohnehin als potentiellen Seuchenherd fürchteten. Das war auch der Grund, warum ein früherer deutscher Plan, die Effizienz des Gettos für sie zu erhöhen und seine Kosten zu senken, nicht durchgeführt worden war. Im Oktober 1941 war nämlich die Idee aufgekommen, das Getto zweizuteilen. In einem Teil, dem größeren Teil im Osten, sollte das so genannte Arbeitsgetto bleiben, der Westteil von diesem als Dezimierungsgetto, wie man es nannte, durch einen Chlorkalkstreifen getrennt werden. In ihm wären die arbeitsunfähigen Getto-Insassen dem Tod durch Hunger und Krankheit auszuliefern gewesen.

Gleich darauf aber kamen zu den bisherigen Getto-Insassen noch einmal zwanzigtausend Juden aus Deutschland, Österreich und Tschechien, gefolgt von fünf Transportzügen aus dem Burgenland und der Steiermark, mit denen Zigeuner/Roma in das Getto nach Lodz deportiert wurden. Die Zigeuner, vor allem eine große Zahl von Kindern, wurden in einem noch einmal mit Stacheldraht abgetrennten Teil des Gettos untergebracht und unter schrecklichen hygienischen Bedingungen ihrem Schicksal überlassen. Wir können an Hand der Rechnungen der deutschen Getto-Verwaltung sehr gut ihr Schicksal verfolgen. Zuerst ein wenig Lebensmittel, dann Chlorkalk, dann Transportkosten mit Lkw und schließlich Lysol zur Reinigung der verbliebenen Unterkünfte. Diese Zigeuner, die das Getto in Lodz überlebt hatten, waren unter den ersten, die im Dezember 1941/Jänner 1942 in Chelmno/Kulmhof mit Gas getötet worden sind. Erste probeweise Tötungen mit Gas hatten schon zuvor mit Juden aus der Umgebung stattgefunden.


Tötungslager

Chelmno ist ein kleiner Ort am Flusse Ner, gerade dort, wo dieser in die Warthe fließt. Der Ort bestand nur aus wenigen Gebäuden, ein teilweise zerstörtes Schloss, die Kirche und das Pfarrhaus und ein paar Bauernhäuser daneben. Chelmno liegt halbwegs zwischen Litzmannstadt und Posen. Dort begann das Sonderkommando Lange seine Tätigkeit, das 1940 schon an die 1.500 Geisteskranke in Ostpreußen mit Gas ermordet hatte. Beim Sonderkommando waren Angehörige der SS, aber auch der Gendarmerie und der Kriminalpolizei tätig. Um einen Kern von etwa 15 Personen machten an die 150 Deutsche, später noch mehr, Dienst. Unter ihnen befanden sich auch Österreicher. Von mehr als einem Dutzend kennen wir auch die Namen und ihre Herkunft aus Oberösterreich und der Steiermark. Weniger genau wissen wir über die Opfer Bescheid. Augenzeugen haben die Zigeunertransporte gesehen, den einen oder anderen Hinweis gibt es auch auf Juden aus Wien.

Blick in ein Schuhlager

Blick in ein Schuhlager


Die nach Chelmno transportierten Getto-Insassen aus Lodz mussten sich entkleiden, wurden in den Gaswagen - oft mit Peitschen - getrieben und in ihnen getötet. Ihre Leichen wurden zuerst begraben, dann in Krematorien verbrannt. Ihre Knochen wurden in einer eigenen Mühle vermahlen und schließlich in den Fluss geworfen. Die deutsche Getto-Verwaltung bezahlte die Kosten des Massenmordes, einschließlich der Sonderzuteilungen von Trinkbranntwein und Zigaretten für die Mörder sowie von Dieseltreibstoff für den Abtransport der Kleidungsstücke, und buchte die Erlöse zu ihren Gunsten.

Im Frühjahr 1942 war der Tötungsvorgang in Chelmno in vollem Gang. Aus der massenhaften Tötung Zehntausender Menschen waren deren Habseligkeiten in einem Umfang von an die 370 Güterwaggons hervorgegangen, die nach einer Vereinbarung mit dem Reichsstatthalter (Greiser) der deutschen Getto-Verwaltung in Litzannstadt zufielen. In der Nähe von Pabianice südlich von Lodz fand sich eine alte stillgelegte Textilfabrik, in der die Habseligkeiten sortiert und vor allem alle Hinweise auf das Schicksal der Getöteten, wie Abzeichen, Ausweise, versteckte Nachrichten, aber auch Wertgegenstände entfernt wurden, bevor sie zur weiteren Verarbeitung wieder in das Getto in Lodz zurückgeschafft wurden. Wie auch bei der Tötung in Chelmno selbst, waren auch in Pabianice die Angehörigen der deutschen Getto-Verwaltung direkt am Arbeitsprozess beteiligt und wurden für ihre Tätigkeit mit einer Gefahrenzulage in Form von Geld und Schnaps belohnt.

Bekanntmachung Nr. 392

Bis Ende Mai 1942 sind mindestens 55.000 Juden aus dem Getto in Lodz in Chelmno getötet worden, unter ihnen über 10.000 Juden, die erst wenige Monate zuvor aus West- und Mitteleuropa in das Getto gekommen waren. Am 1. September begann die Deportation der Kranken aus den Spitälern des Gettos. Zweitausend Patienten, unter ihnen 400 Kinder, wurden oft auch gleich aus den Fenstern geworfen. Während der allgemeinen Gehsperre vom 5. bis 12. September wurden alle Kinder unter zehn Jahren, alle Erwachsenen über 65 Jahre - 15.600 an der Zahl - nach Chelmno geschickt, 600 noch im Getto erschossen. Und immer noch glaubte Rumkowski, er könne die Arbeitenden im Getto noch retten, obgleich mit der Ermordung der Kinder klar schien, dass jüdische Arbeitskräfte über kurz oder lang im Nazi-Regime keine Zukunft haben konnten.


Die Auflösung des Gettos

Und richtig, auch die deutsche Getto-Verwaltung widersetzte sich einem ersten Versuch der SS im Juni 1943, das Getto in ein Konzentrationslager umzuwandeln und unter die eigene Verwaltung zu stellen. Erst im April 1944 wird das Getto noch einmal verkleinert, und die Rationen werden gekürzt. Im August 1944 ist es endgültig am Ende. Die Rote Armee stand erst an der Weichsel. Vom 2. bis 30. August deportierten die Deutschen - bis auf einige Hundert, die als Aufräumkommando blieben und einigen wenigen Versteckten - 60.000 Menschen, unter ihnen auch Rumkowski, nach Auschwitz.

Menschen auf dem Weg zur Deportation im Mai 1942.

Menschen auf dem Weg zur Deportation im Mai 1942.

Das Getto im kollektiven Gedächtnis

Was bleibt, ist die Erinnerung, so pflegt man zu sagen. Aber Erinnerung bleibt nicht von selbst, sie kann vergehen. Erinnerung ist von flatterhafter Gestalt. Sie ist umgeben von Abwehr und Verdrängung, sie ist bedrängt von Vergesslichkeit und Leugnung. Was sollen wir denn erinnern, wo keinen Widerstand gegen das Vergessen leisten? Das Glitzern in den Augen Geneweins beim Zählen der letzten blutigen Geldscheine aus seinem Tresor? Die Flasche Hochriegl-Sekt, die half, die Identität des Österreichers zu ermitteln? Und daran, dass er unbehelligt ohne Gerichtsverfahren in Österreich überlebte, ja vor dem Untersuchungsrichter log, er sei nie im Getto gewesen? Da verstand ich gleich besser, was Siegfried Lenz in der "Deutschstunde" schrieb: Da kannst du dich nur fragen, was größer ist: ihre Vergesslichkeit oder ihre Schamlosigkeit.

Erinnern an das üppige Buffet zum Geburtstag Biebows - und er selbst lässig davor, mit sich und seiner Sache zufrieden. Erinnern den gleichzeitigen Hunger im Getto, die Kälte, die tägliche Angst vor Polizei und Gestapo, den Irrtum über eine bessere Zukunft nach Verlassen des Gettos. In Chelmno/Kulmhof bricht die Fähigkeit zu Erinnerung ab. Die Toten erzählen nicht mehr von den Grausamkeiten des Lebens - und der Blick auf das Getto-Feld auf dem jüdischen Friedhof in Lodz wird überdeckt durch die Grabarchitektur einer glücklicheren Epoche davor. Wie also nicht Gedächtnisbetrug an den Opfern der NS-Gewaltherrschaft begehen, von dem Theodor W. Adorno schon unmittelbar nach dem Ende des Krieges sprach, weil ihnen nach ihrem Tode auch noch das Gedächtnis an sie genommen werden sollte?

Es ist nicht so leicht, wie in Adelsohns Dokumentarfilm mit der Straßenbahn in die Vergangenheit zu fahren. Aber wir können den gleichen Ausgangspunkt nehmen und nach Norden das ehemalige Getto-Areal besuchen: vorbei am alten Marktplatz, hin zum Baluter Ring, wo auch das Haus der Gestapo steht, vorbei am Spital und hinaus bis Radogosz, den Bahnhof, über den die Deportierten kamen und wieder gehen mussten.

Aber vom Bahnhof wird niemand in den Tod getrieben, am Baluter Ring ist immer wieder lebhafter Marktbetrieb, an der Getto-Grenze wird niemand erschossen, nur die Linie am Boden zeigt uns jetzt, wo sie war. Und der Feuerschutzgürtel ist zum hübschen Park geworden. Dann kehren wir heim ins warme Zimmer des Hotels.

Da nützen auch die Fotos des Genewein in blendender Farbe nichts. Denn es gelingt uns nicht, die glatte Oberfläche der Bilder zu durchdringen.

Es ist ein törichter Versuch sich einzufühlen, und er muss scheitern. Bilder erklären von sich aus nichts, bloße Anschauung macht blind, ja fördert das Vergessen.

Transportliste

"Die Aufklärung über das Geschehene muß dem Vergessen entgegenarbeiten" forderte, lang ist's her, Adorno. Nur Wissen festigt die Erinnerung, die wir aus den Erzählungen, den wiederholten Erzählungen, erfahren: den Erzählungen, den Geschichten der Überlebenden und der Toten. So wie über Oskar Singer geschrieben steht: Er "verlieh [der Getto-Chronik] zusehends den Charakter einer Zeitung - die an die Leserschaft in der Zukunft gerichtet war." (S.40)

Wir sind diese Leser der Zukunft. Wir sind aufgefordert, diese Geschichten weiter zu erzählen. Aus der Getto-Chronik können wir in fast unendlicher Vielfalt das Material zu den Geschichten finden, die wir weitergeben sollen. Nur erzählen allein genügt nicht, bleibt wirkungslos. Es gilt, auch jene gesellschaftlichen Strukturen zu bewahren und immer wieder neu zu schaffen, die ein Lodz-Getto, wo auch immer, für immer unmöglich machen.


Prof. Dr. Karl Stuhlpfarrer
Universität Klagenfurt
Institut für Geschichte / Abteilung für Zeitgeschichte
Universitätsstraße 65-67
A-9020 Klagenfurt
E-Mail: Karl.Stuhlpfarrer@uni-klu.ac.at

Karl Stuhlpfarrer, geb. 1941 in Wien, 1968-1999 Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, zuletzt als außerordentlicher Universitäts-Professor. Seit 1999 Universitäts-Professor für Zeitgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Didaktik an der Universität Klagenfurt, 2002-2006 Dekan der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Klagenfurt. 1992/93 Gastprofessor an der Universität Ljubljana, 1994 an der Universität Triest, 2007 an der Universität in Trient, 1998-2003 Ständiger Experte der Historikerkommission der Republik Österreich, seit 2001 Leiter des Sommerkollegs der Universitäten Klagenfurt, Koper, Maribor, Ljubljana, Triest und Udine in Bovec, Slowenien; 2007 korrespondierendes Mitglied der Slowenischen Akademie der Wissenschaften.


Alle Abbildungen: Copyright Staatsarchiv Lodz
mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Lodz
Erstveröffentlicht in: "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt",
herausgegeben von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit dem Germanistischen Institut der polnischen Partneruniversität Lodz und dem Staatsarchiv Lodz.


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008, 25. Jahrgang, S. 7 - 15
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Pressestelle der JLU Gießen
Ludwigstraße 23, 35390 Gießen
Tel.: 0641/99-120 40; Fax: 0641/99-120 49
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Internet: www.uni-giessen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 03. April 2009