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FORSCHUNG/117: Zur Sprache der Getto-Chronik (Spiegel der Forschung - Uni Gießen)


Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008 Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

Mit bildungsbürgerlicher Wortwahl gegen Nazi-Deutsch
Zur Sprache der Getto-Chronik

Von Jörg Riecke


Für eine umfassende Würdigung der Leistung der Chronisten genügt es nicht, nur die in der Lodzer Getto-Chronik aufgezeichneten Inhalte zu beleuchten. Untrennbar damit verbunden ist vielmehr auch die Frage, wie diese Aufzeichnungen gestaltet sind. Die sprachwissenschaftliche Frage nach dem "Wie" eines Textes erfordert Überlegungen zur Schreibsituation der Autoren, zu den verwendeten Textsorten, den Rubriken, zur Wortwahl und zum Satzbau. Wird diese Frage ernst genommen, so hat sie darüber hinaus einen großen Einfluss auf die Edition selbst.


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Was auf den ersten Blick wie ein Fehler im Text der Getto-Chronik aussieht - vielleicht ein von heute aus betrachtet falscher Kasusgebrauch, eine falsche Präposition oder ein ungewöhnlicher Satzbau - kann von den Autoren bewusst eingesetzt worden sein, beispielsweise um die Sprache der Chronik vom offiziellen Sprachgebrauch im Nationalsozialismus abzugrenzen. Eine Untersuchung der Sprache hat sich also zunächst mit der Untersuchung von editorischen Zweifelsfällen zu befassen, zumal der einzigartige Charakter des Textes durch die Edition nicht geglättet, sondern hervorgehoben werden soll. Nur unzweifelhafte Tippfehler wurden daher in der Edition stillschweigend korrigiert.


Editorische Zweifelsfälle

Abweichungen von der heutigen Norm der deutschen Standardsprache finden sich z.B. dort, wo eine zeitweilig im Archiv beschäftigte Sekretärin offensichtlich stark landschaftlich geprägte Schreibformen verwendet. So finden wir etwa Abschnitte mit vielen ostmitteldeutschen Besonderheiten wie etwa so genannte Entrundungen des Typs endgiltig statt endgültig. Solche Eigenheiten werden in der Edition bewahrt, um die Heterogenität des Textes nicht zu überdecken. An solchen Stellen zeigt sich, dass die Überlieferungsgeschichte von Texten aus dem Holocaust immer zugleich auch Opfergeschichte ist.

Aber nicht nur die Schreiberinnen, auch die Chronisten selbst bringen in nicht geringem Maße regionalen Sprachgebrauch in die Chronik ein. Das zeigt sich an vielen Lexemen, meist Fremdwörtern, die aus der österreichischen Amts- und Verwaltungssprache stammen. Sie gehören, da über Wörterbücher meist eindeutig identifizierbar, nicht zur Gruppe der editorischen Zweifelsfälle. Dazu zählen eher morphologische Abweichungen von der deutschen Standardsprache, etwa Pluralbildungen wie Läger statt Lager und Wägen statt Wagen oder das Wortbildungsmorphem -hältig statt -haltig, die für die oberdeutsch-österreichische Herkunft der Chronisten kennzeichnend sind. Weiter finden sich Beispiele wie der Kartoffel statt die Kartoffel oder Fremdwortschreibungen wie Brochen statt Broschen, Emmission, Plaidoyer, plaidieren, Restringtion und Strapazzen. Besonders auffällig sind die immer wiederkehrenden Schwankungen im Kasusgebrauch, insbesondere bei der Verwendung von Dativ oder Akkusativ. "Es verlautet, dass erst nach den 1. März derartige Bitten behandelt werden können" (23.2.43); "... bis in den späten Abendstunden hatte er nichts zu sich genommen" (15.12.43); "...und unbedingt vermeiden, dass jemand anders in dem Genuss dieser Wohltat gelangt" (25.6.43); "Von diesem Gesichtspunkt aus interessiert ihm nicht die Familie der Arbeitenden" (16.10.43); "...im Umlauf gesetzt" (22.2.44); "wobei die unbeteiligten Zuschauer der Magen knurrte" (19.4.43).

Nur ganz selten sind diese Abweichungen in einem anderen Textzeugen oder einer -variante korrigiert worden, so etwa "Küchenpersonal in frischer, sauberer Kleidung wartete bei vollen Kesseln, Töpfen, Pfannen sozusagen auf den [in einem Textzeugen korrigiert aus dem] Gongschlag" (25.6.43). Es gehören hierher auch die Adverbvarianten hieher, hiefür oder hiemit als Kurzformen statt der seit Adelung üblichen Form hierher, hierfür, hiermit. In der Chronik sind sie annähernd der Regelfall. Typisch südost-deutsch ist auch die Verwendung von wieviel, soviel statt wie viele, so viele auch dann, wenn kein Adjektiv mit klarer Kasuskennzeichnung folgt.

Alle diese Merkmale prägen den Text nachdrücklich und sind deshalb nicht an die Normen des Gegenwartsdeutschen in Deutschland angepasst worden. Eine solche Entscheidung wäre auch deshalb nicht zu verantworten gewesen, weil zum Zeitpunkt der sprachlichen Sozialisation der Chronisten, also etwa im Zeitraum um das Jahr 1900, die Grammatiken und Sprachratgeber selbst in der Orthographie und Formenbildungen zahlreicher Wörter schwanken. Und dies verstärkt sich um so mehr, je weiter man sich von den Duden-geprägten orthographischen Zentren des ostmitteldeutschen Raumes entfernt. Die Durchsicht der Chronik gibt viele Hinweise darauf, dass die Art eines großen Teils der Abweichungen tendenziell dem entspricht, was sich beispielsweise auch für den Sprachgebrauch Franz Kafkas sagen lässt. Hier kommt hinzu, dass einzelne Formen - wie etwa in dem Satz "ich sende auch heute die Zeitung, Äpfel und paar Nüsse" - im so genannten Prager Deutsch unter dem Einfluss des Tschechischen entstanden sein dürften. Man vergleiche: "Das Gemüse /Kopfsalat/ klein geschnitten mit paar Kartoffeln und wenig Wasser weichkochen" (21.6.43). Für heutige Kenner der deutschen Gegenwartssprache erscheinen diese Sätze ungrammatisch, sie sind jedoch nur Bestandteil eines anderen Schreibusus.

Die Schule im Getto Lodz/Litzmannstadt

Die Schule im Getto Lodz/Litzmannstadt


In die Edition Eingang gefunden hat auch eine ganze Reihe weiterer Abweichungen, die jedoch beim derzeitigen Forschungsstand nicht ausschließlich als regionale Abweichungen gedeutet werden können. Hier handelt es sich um einige syntaktische Besonderheiten, die heute in Deutschland wie Österreich als ungewöhnlich empfunden werden. Dabei handelt es sich vor allem um die so genannte Inversion nach und sowie Auffälligkeiten bei der grammatischen Kongruenz von Subjekt und Prädikat. Zunächst einige Beispiele für die Inversion nach und:

"Der Mann wurde den Behörden ausgeliefert und sind im Zusammenhang mit dieser Affäre schon 180 Personen im Getto verhaftet worden" (15.2.43); "Der Transport hätte in den heutigen Morgenstunden abgehen sollen und stand die Gruppe bereits reisefertig im Hofe des Zentral-Gefängnisses" (9.3.44); "Die Transporte fahren jeweils um 7 Uhr früh ab und muss mit dem Einladen um 6 Uhr früh begonnen werden" (18.6.44); "Dortselbst werden die Möbel, Hausgeräte, Waren, Wäsche, Kleider u.s.w. geschätzt, und wird der Gegenwert bar ausgezahlt" (20.6.44). Damit verwandt sind und-Sätze, in denen das Pronomen fehlt: "Der Preis für den Talon beträgt Mk. 2,- und werden den Betrieben schon in den nächsten Tagen zugestellt" (8.11.43). Auch in der auf Deutsch wohl von Dora Fuchs formulierten Korrespondenz des Judenältesten findet sich diese alte amtssprachliche Konstruktion gelegentlich, etwa in: "Die Arbeiten werden im Getto ausgeführt, und würde ich durch eine von mir bestimmte Abteilung die Arbeit unter den Fachleuten verteilen" (YIVO, RG 241/44; 5.4.40). Vereinzelt erscheint die Inversion in der Chronik auch nach sondern: Ab nächster Woche werden die Trauungen nicht mehr am Kirchplatz 4 stattfinden, da der hiezu gewählte Saal sich als zu klein erwies, sondern wird der Präses im Kulturhause die heiratslustigen Paare zusammenführen" (27.12.42).

Die Chronik-Autoren verwenden darüber hinaus immer wieder auch Konstruktionen, in denen keine Kongruenz von Subjekt und Prädikat besteht. Das findet sich fast immer in Verbindung mit Substantiven wie Teil oder Anzahl, auf die ein Prädikat im Plural folgt: Etwa in "...und referierte, so dass noch ein Teil dieser Personen eine Zuteilung erhielten" (18.4.43); "Es verbreitete sich sofort das Gerücht, dass wieder eine grosse Anzahl von Maennern zur Arbeit ausserhalb des Gettos angefordert wurden" (31.8.43).

In anderen Fällen richtet sich das Prädikat nach dem Objekt, so in "Der bekannte Spezialarzt Dr. Mazur, den der Praeses seinerzeit aus Warschau ins Getto gebracht hat, ging gerade in der Richtung Siegfriedstrasse, als ein Auto mit zwei Herren der Getto-Verwaltung und A. Jakubowicz vorbei fuhren" (7.10.43) oder "Das Gebäude Hanseatenstrasse 63, wo sich die Privatwohnung des Praeses und der Familie Fuchs befinden" (15.2.44). Man fühlt sich erinnert an eine veraltete Konstruktion des Englischen vom Typ "I or my colleagues are discussing it" bzw. My colleagues or I am discussing it", wo Singular oder Plural nach dem Prinzip "nearest to the predicate" verteilt wird. Für das Beispiel "Das Feuer wurde erstickt und die Kamine gefegt" (7.4.44), gilt, dass sich das Prädikat nach dem ersten Substantiv richtet. Beim zweiten Beispiel "Aber hundert Fälle, die komplizierter liegen, weil Familie mit Familie zusammenleben, sind noch ungelöst" (5.6.44), ist ebenfalls das erste Substantiv maßgebend, aber hier könnte für weil Familie mit Familie zusammenleben auch an das Phänomen des Mengenplurals gedacht werden, das im Englischen etwa in Sätzen wie: "The police are coming" auftritt.

Auffällig ist schließlich auch die Flexion des Wortes Kartoffel, das nicht durchgängig, aber doch in gewisser Häufigkeit dann nicht flektiert wird, wenn eine unbestimmte Menge zum Ausdruck gebracht werden soll: "Das Getto atmet auf und mit jedem Wagen Kartoffel, das über den Baluter Ring ins Getto rollt ..." (17.7.43). An dieser Stelle wurde ein zunächst getipptes n (Kartoffeln) nachträglich gestrichen. Abweichend ist die Pluralbildung im Akkusativ häufig auch bei den Lebensmittel statt Lebensmitteln, Instruktore statt den Instruktoren.

Bekanntmachung zur Gründung der Abteilung für die so genannten Westjuden

Bekanntmachung zur Gründung der Abteilung für die so genannten Westjuden


Die große Zahl an systematisch wiederkehrenden Abweichungen von der deutschen Gegenwartsprache, die - insbesondere im Hinblick auf das historische (Prager) Deutsch Franz Kafkas - auf die Existenz eines neben dem preußisch-norddeutschen Duden-Deutsch zweiten, vielleicht österreichisch-habsburgisch geprägten, Schreibusus schließen lässt, der erst in Ansätzen untersucht ist, erfordert in allen editorischen Zweifelsfällen ein größtmögliches Maß an bewahrender Zurückhaltung. Daher ist auch bei der Großschreibung von adjektivischen Komposita mit einem Substantiv als Bestimmungswort (Betrachtkommend, Knochenentkalkt), der Wiedergabe von Tageszeiten ("Mittag 5 Grad Wärme", "Inzwischen ist spät abends geworden") oder dem Gebrauch des Genitivs ("wegen Diebstahl", "wegen Widerstand") der Sprachgebrauch des Originals bewahrt worden, auch dann, wenn er wegen der komplizierten Schreibsituation selten einheitlich ist. In all diesen Fällen ist die Menge der gleichartigen Abweichungen dennoch so groß, dass nicht von "Fehlern" oder "Irrtümern" im herkömmlichen Sinne gesprochen werden kann.


Charakteristische Merkmale

Diese vielfältigen, meist regionalen, aber auch stilistischen Besonderheiten tragen in ihrer Heterogenität bereits sehr stark zur charakteristischen sprachlichen Form der Chronik bei. Sie erzeugen den Grundton, auf dem die Chronisten aufbauen. Ihre Leistung zeigt sich vor allem auf der textuellen und der lexikalischen Ebene:

Es war ein Ziel der Autoren, die täglichen Nachrichten über das Leben im Getto durch eine feste, chronikale Form berechenbar und ertragbar zu machen. Indem Oskar Singer und seine Mitarbeiter das Repertoire an Rubriken um eine journalistische Dimension erweitern, erzeugen sie eine neue Gegen-Wirklichkeit, deren Existenz zumindest für die Chronisten kathartische Folgen hat. Da die Autoren nicht nur etwas von Journalismus verstehen, sondern auch noch hervorragend schreiben können, entstehen hier im Angesicht des nationalsozialistischen Terrors Texte, die fast immer in einem spürbar leichten und luziden Deutsch geschrieben sind. Sie scheinen sich mal am Stil ideal der deutschen Klassik und mal am Ton des eleganten Feuilletons zu orientieren. Die Sprache der Chronik - insbesondere in den Rubriken "Getto-Humor", "Man hört, man spricht" oder "Kleiner Getto-Spiegel" - steht damit im krassen Gegensatz zur äußeren Lage im Getto und auch zu der Sprache, die die Nationalsozialisten in ihren Befehlen und Bekanntmachungen im Getto verlauten lassen. Die Sprache der Getto-Chronik wird damit über weite Strecken geradezu zu einer Sondersprache, mit deren Hilfe die Autoren versuchen, in einer völlig aus den Fugen geratenen Welt noch einen Rest von Normalität und Humanität aufrecht zu erhalten. Die Literarisierung erweist sich als der einzig gangbare Weg, der Wirklichkeit gegenüberzutreten.

Auf der Ebene der Wörter erzeugen die Chronisten ihre Gegenwelt vor allem dadurch, dass ihr Sprachgebrauch vom öffentlichen Sprachgebrauch der Zeit möglichst deutlich geschieden ist. Nicht zuletzt deshalb verwenden sie eine sehr große Zahl von "Fremd- und Lehnwörtern" sowie einheimische, vor allem österreichische "Regionalismen", "Fach- und Gruppensprachliches". Zahlreiche Tests in germanistischen Pro- und Hauptseminaren an der Justus-Liebig-Universität Gießen haben gezeigt, dass dieser Wortschatz, wenngleich im zehnbändigen Duden der deutschen Gegenwartssprache überwiegend noch verzeichnet, der großen Mehrzahl jüngerer Menschen mittlerweile unbekannt ist. Die Chronik ist also heute ohne sprachliche Erläuterungen, wie ja auch die Texte Goethes oder Schillers, im Detail nicht mehr verständlich. Die Chronisten des Lodzer Gettos setzen diesen Wortschatz offensichtlich vor allem deshalb ein, um sich von der "Sprache des Nationalsozialismus" abzusetzen.

Zu den Fremdwörtern und in das Deutsche integrierten Lehnwörtern zählen Latinismen und Romanismen, die vielfach ausschließlich für das österreichische Deutsch belegt sind. Beispiele sind Adaptionen für 'Umbauten', affichieren, Ambulatorium, Assentierungen, Deroute, Dignitare, Emballagen, endemisch, Erudition, exmittieren, expedieren, figurieren, Justifizierung für 'Hinrichtung', Karbunkel, Kolli, Konfektionär, Konsumation, Malversation, Manipulation für 'Handhabung', Marasmus, molestieren, Ordination, Pellagra, Perzent, Plenipotenz, Psychik, Rayon, Reflektanten, Regie für 'Herstellung', Remanent, Ressort, Revers für 'schriftliche Erklärung', Sentiment, Tramwayer, Translokation, Valuta, Zensus und Zugsgarnitur.

Dazu tritt eine kleine, aber charakteristische Gruppe von Fremdwörtern, die aus der österreichischen Amts- und Verwaltungssprache stammt. Beispiele sind:

Approvisation für 'Lebensmittelzuteilung', außertourlich für 'außerhalb der Reihenfolge, zusätzlich', Evidenz für 'Aufsicht', Kontumaz für 'Quarantäne', Ordinationsstunde für 'Sprechstunde', Petent für 'Bittsteller' und Ubikation für 'Unterkunft, Kaserne'.



Dieser fach- und bildungssprachliche Wortschatz, gelegentlich ergänzt durch hebräische und lateinische Zitate, verortet die Sprache der Chronisten auf einer stilistisch hochgelegenen Ebene. Dass sich der Wortschatz der Chronik auch räumlich verorten lässt, haben die Beispiele aus der österreichischen Amtssprache gezeigt. Alle Chronik-Autoren sind offenbar mit einem der Prager Transporte nach Lodz gekommen und zeigen, unbeschadet ihres hohen stilistischen Vermögens, deutliche Spuren des Prager und Wiener Deutschen des frühen 20. Jahrhunderts. Beispiele, wie auflassen (eines Betriebes), ausfehlen, ausfolgen, Auslangen finden, beteilen, Deka(gramm), Dille, Drucksorten für 'Vordrucke, Formulare', einschichtig für 'alleinstehend', Feber, Jänner, Kassa, Spital, eine Post (= alte Gewichtseinheit) von 1800 Laib Brot, Putzerei für 'Wäscherei' oder Topfen können dies verdeutlichen. Vermutlich zählen dazu auch einige der im Text verwendeten Archaismen wie Feldscher, siech oder Scheidemünze. Polnisches wie dzialka für 'Grundstück, Parzelle' oder Jiddisches wie schmattes für 'Lumpen' ist dagegen selten, weil es den bildungsbürgerlichen Ton durchkreuzen würde.

Auf diese Weise unterlaufen die Chronisten den Sprachgebrauch des Nationalsozialismus von zwei Seiten. Durch die Anknüpfung an den klassischen bildungssprachlichen Wortschatz entlarven sie das Deutsch ihrer Peiniger als bildungsfern und zeigen sich selbst als die eigentlichen Bewahrer der deutschen Sprache und Kultur.

Durch den Gebrauch regionalsprachlichen einheimischen Wortgutes, das durch Jiddisches, Polnisches und Englisches noch erweitert wird, betonen sie die Vielfalt der Sprachformen und Sprachkulturen, ganz im Gegensatz zu dem auf einen einheitlichen Standard für alle "Volksgenossen" ausgerichteten Sprachideal der nationalsozialistischen Führungsschicht.

All diese Beispiele sind in der Summe durch ihren Kontrast zum nationalsozialistisch kontaminierten öffentlichen Sprachgebrauch außerhalb des Gettos bereits Merkmale sprachlichen Widerstandes, und es ist keineswegs auszuschließen, dass dies auch für die Mehrzahl der unter den "editorischen Zweifelsfällen" genannten Erscheinungen zutrifft. Die vor dem Krieg entstandenen journalistischen und belletristischen Texte der Chronisten enthalten - soweit sich das bisher sagen lässt - derartige Abweichungen kaum. Sie verwendeten durchaus die dudengemäße Standardnorm. Der Rückgriff auf südostdeutsch-österreichisch-Prager Varianten muss also, ähnlich wie die lexikalische Variation insgesamt, spezifisch für ihr Schreiben im Getto sein.


Prof. Dr. Jörg Riecke
Germanistisches Seminar der Universität Heidelberg
Hauptstraße 207-297
69117 Heidelberg
E-Mail: Joerg.Riecke@gr.uni-heidelberg.de

Jörg Riecke, Jahrgang 1960, Studium der Fächer Germanistik und Geschichte, Indogermanistik und Slavistik an den Universitäten Marburg und Regensburg. Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. 1992 Promotion bei Klaus Matzel in Regensburg, 1993/94 DAAD-Gastdozent in Brünn, von 1994 bis 2007 in der Germanistischen Sprachwissenschaft an der Universität Gießen tätig, dort 2003 Habilitation. Bis 2000 Leiter der germanistischen Institutspartnerschaft Gießen - Lodz, Mitarbeit in der Arbeitsstelle Holocaustliteratur. 2004/2005 Vertretung einer Professur in Frankfurt/Main, 2006 Rufe an die Universitäten Heidelberg und Hamburg. Seit Wintersemester 2007/08 Ordinarius für "Germanistische Sprachwissenschaft" an der Universität Heidelberg. Leiter des Heidelberger Sprachlehrzentrums und Vertrauensdozent der Studienstiftung. Forschungsschwerpunkte: Ältere und neuere Sprachgeschichte des Deutschen, Lexikologie und Lexikographie, Geschichte der Sprachwissenschaft.


Alle Abbildungen: Copyright Staatsarchiv Lodz
mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Lodz
Erstveröffentlicht in: "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt",
herausgegeben von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit dem Germanistischen Institut der polnischen Partneruniversität Lodz und dem Staatsarchiv Lodz.


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008, 25. Jahrgang, S. 36 - 41
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Pressestelle der JLU Gießen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 03. April 2009