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FRAGEN/001: China - ein Land mit sieben Siegeln? - Im Gespräch mit Jürgen Osterhammel (Uni Konstanz)


Universität Konstanz - "Im Gespräch", Februar 2010

China - ein Land mit sieben Siegeln? Oder eine aufstrebende, nicht berechenbare Weltmacht?

"Im Gespräch" hat Jürgen Osterhammel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte mit Schwerpunkt 19. und 20. Jahrhundert, zu Details befragt.


Herr Professor Osterhammel, vielen Europäern fallen beim Gedanken an China als erstes Stichworte wie Menschenrechtsverletzungen und Medienzensur ein. Wie ist es bei Ihnen?

Da ich mich seit über 30 Jahren und noch dazu als Historiker mit China beschäftige, fallen mir sehr viele Stichworte gleichzeitig ein, die ich in keine Reihenfolge zu bringen vermag. Die Stichworte, die Sie nennen, sind diejenigen, die uns von unseren Medien vorgegeben werden. Sie haben selbstverständlich eine Grundlage in der Wirklichkeit, denn in China werden regelmäßig Menschenrechte verletzt und Medien zensiert. Aber das Bild, das dadurch suggeriert wird, ist doch sehr einseitig. Als Historiker muss man seine Bewertungsmaßstäbe aus längeren Perspektiven beziehen. Ich denke dabei vor allem an zweierlei: Zum einen ist China eine der großen Zivilisationen der Menschheit. Auch wenn seine kulturelle Überlieferung im 20. Jahrhundert durch Revolution und Modernisierung stark gelitten hat und das "Alte China" weithin ein Gegenstand musealer Bemühungen geworden ist, so bleibt der Beitrag Chinas zum "Weltkulturerbe" doch ungeheuer.

Zum anderen muss man die Entwicklung des Landes in den letzten Jahrzehnten bedenken. China hat seit dem Jahre 1978 eine "Entmaoisierung" erlebt, die sich mit der "Entstalinisierung" in der Sowjetunion nach 1956 vergleichen lässt. Man sollte den Begriff der "Menschenrechtsverletzung" nicht zu pauschal und zu plakativ verwenden. Wenn heute kritische Intellektuelle von der Polizei drangsaliert und nach Scheinprozessen ins Gefängnis gesperrt werden, wenn China mehr Todesurteile vollstreckt als jedes andere Land, dann ist dies immerhin ein "Fortschritt" gegenüber der späten Mao-Zeit - als während der "Kulturrevolution" (ca. 1966-71) Hunderttausende von Menschen zu Tode kamen. Und dass ein Land keine parlamentarische Demokratie ist, erfüllt in jurististischem Sinne nicht den Tatbestand der Verletzung von Menschenrechten. So betrüblich "Medienzensur" (wir denken dabei zu einseitig an das Internet) auch ist, so sehr muss man sehen, dass es in China dennoch viel größere Freiräume für unabhängige intellektuelle und künstlerische Betätigung gibt, als dies vor 30 oder gar 40 Jahren der Fall war.

Sie beschäftigen sich seit Jahren intensiv mit der Geschichte Chinas. Warum?

Leider ist meine Beschäftigung mit China seit mehr als zehn Jahren hinter andere Themen zurückgetreten. In Konstanz fehlt das akademische Umfeld für eine wirklich professionelle China-Historie. Daher kann ich mich seit einiger Zeit nur noch am Rande mit China befassen. Ich habe in meiner Studienzeit damit begonnen, weil mich damals die bürgerkriegsartigen Zustände im größten Land der Welt interessierten, die sogenannte "Kulturrevolution", von der bereits die Rede war. Ich habe dann allerdings über ein zeitlich früher liegendes und weniger politisch aufgeladenes Thema promoviert, nämlich die Beziehungen zwischen China und Großbritannien zwischen den beiden Weltkriegen.

Ist Ihnen der Zugang leicht gefallen?

Ja, es gibt nichts, das uns das Verständnis Chinas grundsätzlich erschwert. Wer sich als Forscher mit dem Land beschäftigen will, also auf der Ebene einer Dissertation, wird sich die nötigen Sprachkenntnisse verschaffen müssen. Für alle anderen Zwecke, ob nun historisch oder gegenwartsbezogen, gibt es eine sehr umfangreiche Literatur in westlichen Sprachen, deren Niveau dem der Literatur über Europa nicht nachsteht.

China war Europa lange in vielem weit voraus, bevor es im 18. Jahrhundert zurückfiel. Wie lange wird es Ihrer Einschätzung nach dauern, bis China mit Europa wieder gleichzieht beziehungsweise es überholt?

Ich halte nicht sehr viel von solchen Spekulationen über "Gleichziehen" und "Überholen". Man muss allerdings sehen, dass in China selbst nicht erst seit Neuestem ebenso gedacht wird. Welche Kriterien wollen wir denn anlegen? Nach dem Maßstab des Wirtschaftswachstums hat uns China bereits überholt. Ob es jemals ein demokratischer Rechtsstaat werden wird, lässt sich nicht prognostizieren, aber das "europäische Modell" ist möglicherweise nicht das allgemeine Ziel aller geschichtlichen Entwicklung. Und auf Taiwan, wo Machtwechsel in einem Zwei-Parteien-System durch Wahlen inzwischen gut funktionieren, beweist eine durch und durch chinesische Gesellschaft, dass Demokratie und chinesische Kultur (oft oberflächlich als "Konfuzianismus" bezeichnet) nicht in Widerspruch zueinander stehen. Die Zukunft ist also offen.

Gibt es eine Art Gesetzesmäßigkeit, wann Europa China und wann China Europa beeinflusst hat?

Es gibt in der Geschichte keine Gesetzmäßigkeiten.

Über China wurde und wird viel geforscht. Trotzdem hört man immer wieder, das Land sei vielen Europäern fremd, manche sogar sprechen von "unguten Gefühlen" beim Gedanken an China - sie halten das Land für "unberechenbar". Lässt sich das aus der Historie heraus erklären?

Es gibt in unseren Medien kein dümmeres Geschwätz über China als der Vorwurf der "Unberechenbarkeit". Damit ist offenbar nicht gemeint, dass die Zukunft Chinas ebenso im Dunkeln liegt wie die jedes anderen Landes der Welt, sondern die Einschätzung, die Volksrepublik betreibe eine sprunghafte, willkürliche und "abenteuerliche" Außenpolitik. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt kaum ein Land mit einer in höherem Maße berechenbareren Politik als China. Paradoxerweise ist es gerade die Tatsache, dass sich eine von Wahlen unabhängige Parteioligarchie an der Macht hält, die eine langfristige Kontinuität des politischen Handelns garantiert. In den USA zum Beispiel ändert sich mit jedem neuen Präsidenten die gesamte Politik. China hat in den letzten drei Jahrzehnten nicht die mindeste Aggression gegen ein fremdes Land begangen. Es verfolgt wie jeder andere Staat das, was es für seine nationalen Interessen hält. Uns irritiert, dass dies außerhalb von Bündnis-Systemen geschieht und dass - wie etwa in der Klimafrage - übergeordnete globale Zwecke eine geringe Rolle spielen. Aber eine Bedrohung geht von der Atommacht China heute nicht aus.

Sind Sie bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf ähnliche Einschätzungen/Vorurteile seitens von Chinesen gestoßen?

Das hat weniger mit wissenschaftlicher Arbeit zu tun als mit dem Gespräch mit Chinesen. Wir haben in Konstanz sehr viele Studierende aus der VR China, und ich kann jedem nur raten, das Gespräch mit ihnen zu suchen. Dann wird man Ihre Frage selbst beantworten können. China hat in der neueren Geschichte, jedenfalls vor 1949, als die Kommunistische Partei an die Macht kam, mit Europa viele schlechte Erfahrungen gemacht. Es gab und gibt aber auch eine große kulturelle Bewunderung für Europa. Die Sicht Chinas auf Europa ist vielleicht heute gelassener als die umgekehrte Perspektive. Warum sollten die Chinesen Europa fürchten?

Immer wieder pocht China besonders stark auf seine Souveränität, verbietet sich jegliche Einmischung von außen. Sei es, dass es um das Fällen und Vollstrecken von Todesurteilen oder beispielweise um die Zensur im Netz geht. Gibt es dafür Erklärungen aus der Geschichte?

China ist ein sehr großes Land mit guten Gründen dafür, selbstbewusst zu sein. Dasselbe gilt für die USA, die sich ganz genau so jegliche "Einmischung von außen" verbittet. Haben internationale Proteste die Abschaffung der Todesstrafe in den USA erreicht oder auch nur die Vollstreckung einzelner Todesurteile verhindern können? Wenn man zusätzlich eine historische Erklärung sucht: Nach 1842 erzwangen fast ein Jahrhundert lang die ausländischen Imperialmächte Einschränkungen der chinesischen Souveränität. Sie wurde erst 1949 von den Kommunisten wiederhergestellt. Da man aber während der 1950er-Jahre mit der Sowjetunion verbündet war, musste man sich auch in dieser Zeit noch de facto manche Bevormundung gefallen lassen. China hat daher schlechte Erfahrungen damit gemacht, nicht souverän zu sein. Europäische Maßstäbe führen bei der Bewertung Chinas in dieser Frage nicht weit. Es gibt in ganz Asien keine supranationalen, die einzelstaatlichen Souveränitäten begrenzenden Strukturen. Überhaupt ist die Europäische Union weltweit einzigartig und taugt nicht zur Meßlatte für andere Erdteile.

Wie beurteilen Sie als Historiker die Voraussetzungen für eine Reformpolitik in China?

Hier muss zurückgefragt werden: Was heißt "Reformpolitik"? Alles, was wir hierzulande als "Reform" bezeichnen - von Hartz IV über die Bologna-Universität bis zu den pausenlosen Experimenten mit unserem Gesundheitssystem - verblasst angesichts der Radikalität und Tiefe, mit der die kommunistische Führung in China ein rückständiges Agrarland mit ärmlichen Lebensverhältnissen und totalitärer Bewusstseinskontrolle in einen Wirtschaftsgiganten mit enormen Entfaltungsmöglichkeiten für tüchtige Einzelne verwandelt hat.

Wie würden Sie heute das Verhältnis Chinas zu Europa beschreiben?

Als unproblematisch. Wirtschaftlich ist Europa für China wichtig als einer seiner größten Absatzmärkte; diese ökonomischen Beziehungen laufen reibungslos. Politisch markiert Europa nur einen Punkt auf der strategischen Weltkarte Chinas. Die USA sind bei weitem wichtiger, und Japan ist ein Nachbar und Konkurrent jenseits eines schmalen Meeres.


Dr. phil. Jürgen Osterhammel ist nach Lehrtätigkeiten in Freiburg, Hagen und Genf seit 1999 Professor für Neuere und neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Seine wichtigsten Arbeitsgebiete sind die Geschichte globaler Verflechtungen in der Neuzeit und die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Anfang 2009 erschien sein Epochenporträt "Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts".

http://www.uni-konstanz.de/news/imgespraech/index.php?cont=imgespraech&subcont=osterhammel&lang=de
Stand: 08.02.2010


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2010