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FRAGEN/007: US-Kriegsveteran übt Kritik an den USA (Peter Jaeggi)


US-Kriegsveteran übt Kritik an den USA

Interview von Peter Jaeggi, www.peterjaeggi.ch
Fotos von Roland Schmid, www.schmidroland.ch

Juni 2015


Vor 46 Jahren kämpfte der heute 64-jährige US-Amerikaner Chuck Palazzo im Vietnamkrieg. Seit fast zehn Jahren wohnt er wieder in Da Nang und setzt sich dort für die Opfer der Kriegsspätfolgen ein.


Bild: © Roland Schmid

Chuck Palazzo
Bild: © Roland Schmid

Peter Jaeggi: Sie verliessen 1969 als erst 17-Jähriger ihr Elternhaus in New York und meldeten sich bei den US Marines zum Einsatz im Vietnamkrieg, also bei der Infanterie. Weshalb?

Chuck Palazzo: Ich wollte einfach von zu Hause weg. Zudem hatte ich die Nase von der Schule voll und dachte, in der Armee lernst du schliesslich auch etwas. Ausserdem siehst du die Welt. So kam ich im Dezember 1970 als 18-Jähriger nach Vietnam, wo ich dreizehn Monate in der US-Armee diente.

Peter Jaeggi: Welchen Job hatten Sie bei den Marines?

Chuck Palazzo: Ich war bei der Aufklärung, stationiert westlich der US-Flugbasis von Da Nang. Ich half jeweils während einer Woche pro Monat mit, feindliche Flugzeuge, Raketen und Flugabwehr zu erkennen. Die übrige Zeit diente ich im Erkennungsdienst an der Front und musste wenn nötig auch kämpfen.

Peter Jaeggi: Welche Kampfsituationen waren für Sie am schlimmsten?

Chuck Palazzo: Alle. Wir waren in sehr kleinen Gruppen von sechs bis zwölf Marines unterwegs und stiessen oft mit sehr viel grösseren Gruppen von feindlichen Soldaten zusammen. Das war ausnahmslos sehr beängstigend.

Peter Jaeggi: Haben Sie Menschen getötet?

Chuck Palazzo: Man stellt mir diese Frage oft. Und die ehrlichste Antwort ist: Ja. Es herrschte Krieg. Es gab Tote auf beiden Seiten. Das Töten wurde zu einer Überlebensfrage.

Peter Jaeggi: Wussten Sie, weshalb Sie hier waren?

Chuck Palazzo: Zu Beginn hatte ich keine Ahnung. Ich wusste jedoch bereits in der ersten Woche: Was wir hier tun, ist falsch. All das Töten, die vielen Verletzten, all die Zerstörungen - das ist falsch. Ich begann, näher hinzuschauen und genauer hinzuhören. Selbst als 18-Jähriger und nur mangelhaft Gebildeter, der zwei Jahre zuvor die Highschool verliess und mit 17 zu den Marines ging, realisierte ich, wie die US-Regierung die Öffentlichkeit mit Propaganda eindeckte. Ich wollte nur noch überleben und zurück in die USA.

Je mangelhafter die Bildung, umso leichter ist es, junge Menschen für den Krieg zu gewinnen. Ich glaube, das ist in den USA ein Fact, auch heute noch. Man nützt die Lage schlecht gebildeter junger Männer und Frauen aus, auch die Lage von Minderheiten, der Schwarzen, der Hispanics zum Beispiel.

Peter Jaeggi: Wie viele Menschen haben Sie in Vietnam getötet?

Chuck Palazzo: Das ist eine sehr schwierige Frage, und ich kann Ihnen keine genaue Antwort geben. Das liegt zum einen in der Natur der Kämpfe. So hat man etwa in den Wald oder in dichtes Gestrüpp gefeuert. Man wusste, dass da Leute waren. Sie waren nicht sichtbar. Man wusste nicht, ob man selber fünfzig, hundert oder zweihundert Menschen getötet hatte.

Peter Jaeggi: Wie denken Sie heute über diese Zeit, vierzig Jahre nach Kriegsende?

Chuck Palazzo: Das war falsch, das war ein Fehler. Jeder Krieg der USA war ein Fehler. Vietnam, Afghanistan, Irak und so weiter. Als ich das endlich einsah, schloss ich mich nach der Vietnamzeit der amerikanischen Antikriegsbewegung an und ging nochmals zur Schule. Ich wurde Mitglied der «Vietnamveteranen gegen den Krieg» und der «Veteranen für den Frieden». Und immer mehr wurde mir klar, wie furchtbar falsch ein Krieg ist. Menschen zu töten ist falsch. Die Kolonisation eines anderen Landes ist falsch. Ich bin damit überhaupt nicht einverstanden, wenn die USA in die Souveränität eines anderen Landes eingreifen. Die USA versuchen, den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass es richtig ist, was sie tun.

Peter Jaeggi: Eines Tages kam auch Agent Orange ins Spiel.

Chuck Palazzo: Ich musste miterleben, dass Freunde, die hier in Vietnam kämpften, krank wurden und starben. Der Vietnamkrieg war auch ein chemischer Krieg. Wir brachten mit Agent Orange auch unsere eigenen Leute um, und auch Millionen von vietnamesischen Menschen wurden krank, sehr viele starben. Dabei wurde uns erzählt, Agent Orange sei ungefährlich. Das war gelogen. Die meisten Leute wussten nicht, worum es sich handelt. Zuerst erzählte man uns, es sei ein Mittel gegen Moskitos. Viele Soldaten erkrankten damals an Malaria und an Denguefieber. Ein Antimoskitomittel, das Bäume absterben lässt...?! - Die USA anerkennen heute mehr als ein Dutzend verschiedene Krankheiten als Folge dieses Chemiewaffeneinsatzes. Wenn Sie eine dieser Krankheiten haben, bezahlt der amerikanische Staat eine Kompensation. Auf der andern Seite hat Amerika praktisch nichts für die vietnamesischen Opfer getan. Das Einzige, was die USA jetzt tun, ist die Reinigung des Flughafenareals von Da Nang, das wegen Agent Orange mit Dioxin verseucht ist. Aber alles in allem haben die USA in Vietnam sehr, sehr wenig Geld in die Spätfolgen von Agent Orange investiert. Jetzt sind es vierzig Jahre her seit Kriegsende. Gar nichts bezahlt haben bisher die Unternehmen, die das Gift produzierten. Monsanto und Dow Chemical waren die beiden grössten Hersteller von Agent Orange.

Peter Jaeggi: Agent Orange war es, das Sie 2001 erstmals nach dem Krieg wieder zurück nach Vietnam brachte.

Chuck Palazzo: Es war auch der Versuch, meine traumatischen Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Zuerst ging ich nach Saigon, wo ich meine eigene Softwareentwicklungsfirma aufbaute. Später zog ich nach Da Nang, wo ich nun seit fast zehn Jahren lebe.

Peter Jaeggi: Sie sagten mal, mit Agent Orange verbänden Sie den schrecklichsten und gleichzeitig den schönsten Tag Ihres Lebens.

Chuck Palazzo: Das war, als meine damalige Frau mit unserer Tochter schwanger war. Ich wusste nicht, ob sie gesund oder mit einer Agent-Orange-bedingten Behinderung geboren wird. Das machte mich halb wahnsinnig. Zu sehen, dass ein gesundes Kind zur Welt kam, ja, das war der beste Tag meines Lebens.

Peter Jaeggi: Sie sagen, die USA hätten kaum etwas für Agent-Orange-Opfer getan. Aber dass jetzt der Flughafen von Da Nang gereinigt wird, ist doch etwas, nicht?

Chuck Palazzo: Da Nang ist ja nur einer von drei grossen Hotspots in Vietnam und von etwa 28 bis 30 kleineren. Da Nang war die grösste Militärflugbasis der USA und ihrer Alliierten. Die meisten Agent-Orange-Einsätze starteten von hier aus. Hier wurden Millionen von Litern der giftigen Chemikalien gemischt. Dabei geriet viel daneben und verseuchte die Böden, das Grundwasser, die ganze Umgebung.

Peter Jaeggi: Der Beginn der Reinigungsaktion in Da Nang wurde damals von den USA medial weltweit mit viel politischer Prominenz inszeniert. So waren Hillary und Bill Clinton hier. Kritiker sagten, die USA wollten darüber hinwegtäuschen, dass bis anhin von offizieller Seite eigentlich nichts getan wurde für Agent-Orange-Opfer. Wie sehen Sie das?

Chuck Palazzo: Ich sehe das genauso. Aber es ist ein kleiner Anfang. Und es ist wichtig, dass dieser Ort gereinigt wird, von dem noch immer sehr grosse Gefahren ausgehen. Doch die USA sollten sich auch um betroffene Menschen kümmern. Zehn Jahre lang, von 1961 bis 1971, wurde insgesamt etwa ein Fünftel des damaligen Südvietnam besprüht, zum Teil mehrmals. Wir sehen heute die dritte Generation von Kindern, die als Folge dieses Herbizides mit Gesundheitsproblemen und Behinderungen geboren werden. Wir wissen nicht, über wie viele Generationen sich das Gift noch auswirken wird. Ich möchte die Diskussion gerne weg von der Schuldfrage führen. Weg von den Beschuldigungen an die Adresse der USA und an die Hersteller der Sprühmittel. Ich möchte die Frage rein humanitär behandelt sehen. Die USA haben die nötigen finanziellen Mittel und die Fähigkeiten, sich für die vietnamesischen Opfer auf der humanitären Ebene einzusetzen. Und da sollten sie zumindest jene Krankheiten für vietnamesische Agent-Orange-Opfer anerkennen, die sie für US-Vietnamkriegsveteranen anerkennen.

Peter Jaeggi: Das sehen nicht alle so.

Chuck Palazzo: Ja, es gibt amerikanische Kriegsveteranen, die dies völlig ablehnen mit der Begründung, dass die Vietnamesen als Kommunisten noch immer unsere Feinde seien. Zudem befürchten die USA, dass mit einer Anerkennung einer Flut von Wiedergutmachungsklagen Tür und Tor geöffnet würde.

Peter Jaeggi: Was also sollten die USA für die vietnamesischen Opfer tun?

Chuck Palazzo: Zuallererst sollte die US-Regierung ein klares Bekenntnis und einen Plan vorlegen, wie sie den Opfern helfen will. Dabei ist es wichtig, mit Vietnam zusammenzuarbeiten. Es sollte nicht so sein wie jetzt bei der Reinigungsaktion in Da Nang. Da haben allein die USA das Sagen, weil sie sich auf den Standpunkt stellen: Wir geben das Geld, und wir sagen, wo es langgeht.

Peter Jaeggi: Sie engagieren sich in Da Nang seit Jahren in zwei Nichtregierungsorganisationen für die Kriegsopfer.

Chuck Palazzo: Es gibt zwei Organisationen, denen ich angehöre und die ich mitgegründet habe. Die eine ist «Veterans for Peace». Sie hat in Vietnam etwa dreissig Vollzeitmitarbeitende. Die andere Organisation heisst «Agent Orange Action Group». Das Ziel beider Organisationen ist es, Menschen in aller Welt über die Spätfolgen von Agent Orange zu informieren, aber auch über Blindgänger aus der Zeit des Krieges und die damit verbundenen Probleme. Wir helfen Betroffenen zudem mit medizinischer Hilfe und mit finanzieller Unterstützung.


Bild: © Roland Schmid

Auch 40 Jahre nach Kriegsende sind die Folgen noch präsent. Hier werden durch Sandsäcke gedämmte Blindgänger gesprengt.
Bild: © Roland Schmid

Peter Jaeggi: Wie würden Sie die aktuelle Lage einer durchschnittlichen, von Agent Orange betroffenen Familie in Vietnam beschreiben?

Chuck Palazzo: Ich kenne vor allem die Situation hier in Da Nang sehr gut. Es gibt da rund fünftausend Agent-Orange-Opfer. Und nur eine einzige Organisation, die sich um sie kümmert, die DAVA, die «Da Nang Agent Orange Victim Association». Die DAVA macht einen sehr guten Job - doch sie kann sich lediglich um ein paar Hundert Betroffene kümmern. Sie betreibt Tagesstätten, wo sie Betroffene betreut, ihnen zu essen gibt, ihnen bestimmte Fertigkeiten vermittelt. Dann gibt es Opfer, die so schwer behindert sind, dass sie rund um die Uhr betreut werden müssen. Der Staat unterstützt sie finanziell nur sehr minim. Es reicht bei weitem nicht aus für ein einigermassen menschenwürdiges Leben. Viele Eltern können nicht arbeiten, weil sie sich um ihr behindertes Kind kümmern müssen - oder sie sind selber betroffen. Die Grosseltern, die mithelfen, sind oft zu schwach. Und täglich werden wegen Agent Orange weitere behinderte Menschen geboren.

Peter Jaeggi: Was müsste Ihrer Ansicht nach getan werden, um die Lage der Betroffenen erträglicher zu gestalten?

Chuck Palazzo: Eine der traurigsten Fragen, die ich in den betroffenen Familien immer wieder höre: Wer wird sich um mein behindertes Kind kümmern, wenn ich eines Tages nicht mehr da sein werde? - Es müssten Einrichtungen geschaffen werden, die sich langfristig um die Waisen unter den Opfern kümmern. So etwas gibt es hier bis heute nicht, zumindest nichts, was taugt. Es gibt auch keine Therapeuten, die sich um behinderte Menschen kümmern. Manchmal kommen Therapeuten aus andern Ländern für temporäre Einsätze. Manche von ihnen sagen mir: Mein Gott, hätte man ein paar Jahre früher mit der Therapie begonnen, könnten diese Menschen jetzt gehen und würden nicht im Rollstuhl sitzen. Es gibt also hier nicht einmal diese fundamentalen Hilfen, die für Behinderte so wichtig sind. Die Weltgemeinschaft müsste mehr Druck auf die Vereinigten Staaten ausüben, damit mein Land da endlich mehr unternimmt. Aber ich bin nicht sehr optimistisch. Die junge amerikanische Generation weiss nichts mehr über Agent Orange.

Peter Jaeggi: Statt über Agent-Orange-Opfer «nur» noch von behinderten Menschen zu sprechen; das würde den USA den Schritt zur Hilfeleistung vielleicht erleichtern. Was halten Sie von dieser Theorie, die einige vertreten?

Chuck Palazzo: Politisch gesehen bin ich damit einverstanden. Obschon es mich sehr stört, dass Agent Orange sozusagen aus dem Bewusstsein gestrichen werden soll. Agent Orange ist ein Fact. Der lässt sich nicht einfach wegwischen. Auf der anderen Seite würde dies die Frage der Beschuldigung eliminieren und Platz machen für humanitäre Hilfe. Kürzlich erhielt Da Nang von den USA Geld für behinderte Menschen. Da wurde der Begriff Agent Orange nicht verwendet. Aus moralischen Gründen würde ich den Begriff nicht entfernen. Aber ich glaube, wir müssen es trotzdem tun. Aus praktischen Gründen.


Erstveröffentlichtung: Berner Zeitung vom 26.06.2015
http://www.bernerzeitung.ch/ausland/amerika/USKriegsveteran-uebt-Kritik-an-den-USA/story/10251680

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Quelle:
© 2015 by Peter Jaeggi
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Fotografen


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2015

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