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MELDUNG/271: Geteilte Geschichte - Heft 1/2015 der "Zeithistorischen Forschungen" erschienen (idw)


Zentrum für Zeithistorische Forschung - 25.06.2015

Geteilte Geschichte - Heft 1/2015 der "Zeithistorischen Forschungen" (ZF) erschienen


Die aktuelle Ausgabe der ZF mit einem "offenen" Heft enthält Aufsätze über China und Vietnam in der Perspektive westdeutscher Feministinnen 1968-1982 (Quinn Slobodian), über das Verhältnis von Arbeits- und Konsumgesellschaft in der Zeitgeschichtsschreibung (Peter-Paul Bänziger) und über die Infratest-Stellvertreterbefragungen als Zugang zur DDR-Gesellschaft 1968-1989 (Jens Gieseke) sowie eine Debatte zum Thema "Deutsch-deutsche Perspektiven auf die Zeitgeschichte" (Frank Bösch, Kommentar Dorothee Wierling).
Die Zeitschrift wird am ZZF Potsdam herausgegeben und erscheint dreimal im Jahr sowohl als Online-Ausgabe und als Druck-Ausgabe (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht).


In der Zeit der deutschen Teilung waren die beiden Staaten und Gesellschaften in Ost und West zwar getrennt, aber nicht völlig voneinander abgeschottet. Es gab vielfältige persönliche Kontakte, wechselseitige Beobachtungen und institutionelle Verflechtungen - sei es auf politisch-diplomatischem oder wirtschaftlichem Gebiet, über die Medien, den Sport oder die Kirchen, Das "Westpaket" gehört sicher zu den bekanntesten deutsch-deutschen Verbindungen im Alltag. Manche anderen Facetten dieser über Jahrzehnte geteilten Geschichte sind dagegen erst noch zu entdecken. Das aktuelle "offene" Heft der "Zeithistorischen Forschungen" www.zeithistorische-forschungen.de bietet dazu neue Beiträge.

Für die Bundesregierungen bis 1989 war es von besonderem Interesse, Anhaltspunkte zu erhalten über Einstellungen und Erwartungen der Menschen im anderen deutschen Staat. Da westliche Demoskopen natürlich nicht einfach in die DDR reisen und dort Umfragen machen konnten, wählten sie einen indirekten Weg, wie Jens Gieseke in seinem Aufsatz schildert: Im Auftrag der Bundesregierungen interviewte Infratest seit Ende der 1960er-Jahre ausgewählte Westdeutsche, die kurz zuvor in der DDR gewesen waren, und fragte diese nach den Einstellungen ihrer ostdeutschen Gesprächspartner. Es liegt auf der Hand, dass solche vermittelten Informationen ("Stellvertreterbefragungen") als Quellen problematisch sind. Gleichwohl ergeben sich gerade aus der Langzeitperspektive der Interviewreihen einige aussagekräftige Trends, etwa eine deutlich nachlassende Identifikation der DDR-Bevölkerung mit dem staatssozialistischen System in den 1980er-Jahren. Zwar ist Vorsicht geboten, dies in einen direkten Ursachenzusammenhang zu den Ereignissen vom Herbst 1989 zu bringen, doch tragen die Ergebnisse dazu bei, die längerfristige Erosion der SED-Herrschaft und einen Wertewandel innerhalb der DDR-Gesellschaft zu erklären. Aus heutiger Sicht sind zudem nicht nur die Antworten interessant, sondern ebenso die Fragen der Demoskopen.

Ein Gebiet, auf dem die beiden deutschen Staaten schon frühzeitig konkurrierten und sich gegenseitig beobachteten, war das Design von Haushaltswaren, Möbeln, Spielzeug und anderen Konsumgütern. In der Bundesrepublik gründete sich 1953 ein "Rat für Formgebung", in der DDR entstanden wenig später ähnliche Gremien - besonders das "Amt für industrielle Formgestaltung". Es ging darum, Muster für gutes Design zu sammeln, sie in Ausstellungen zu präsentieren und damit Standards zu setzen. Wie Johanna Sänger in ihrem Beitrag über die ostdeutsche "Sammlung Industrielle Gestaltung" zeigt, bedeutete dies für die DDR oft "Utopien jenseits der Wirklichkeit": Hochwertiges Design wurde zwar entworfen und in gewissem Maße auch produziert, war für die Konsumenten aber oft nicht verfügbar. Insofern ist die Sammlung nicht repräsentativ für den DDR-Alltag, hat aber einen zeithistorischen Quellenwert, gerade weil sie indirekt auch die Konkurrenz zum Westen spiegelt.

Hier zeigt sich, dass Konsumwünsche und Konsumpraktiken ein zentrales Thema der deutsch-deutschen Geschichte waren - wie auch der Zeitgeschichte generell. Verbreitet ist dabei die These, die "Konsumgesellschaft" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe die "Arbeitsgesellschaft" der ersten Jahrhunderthälfte abgelöst. Demgegenüber argumentiert Peter-Paul Bänziger in seinem Aufsatz, dass diese Sicht differenziert werden muss: Zum einen war der Konsum auch vor 1945 schon ein Leitthema mindestens der westlichen Gesellschaften, zum anderen war die individuelle und soziale Bedeutung der Arbeit nach 1945 keineswegs rückläufig. Zu untersuchen sind vielmehr die mannigfachen Verschränkungen von Arbeits- und Konsumgesellschaft, die bis in die Gegenwart reichen. Die modische Rede von der "Work-Life-Balance" erfordert eine genauere Betrachtung der historischen Voraussetzungen.

Wie immer enthält dieses "offene" Heft eine breite Mischung zeitgeschichtlicher Themen. Fündig werden diesmal auch Leser/innen, die sich für Alexander Mitscherlichs Kritik der Stadtentwicklung aus den 1960er-Jahren, den westdeutschen Feminismus der 1970er-Jahre, die Filme der ungarischen Regisseurin Márta Mészáros aus den 1980er-Jahren oder die türkische Geschichtskultur der Gegenwart interessieren.

Die "Zeithistorischen Forschungen" werden am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam www.zzf-pdm.de herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht /www.v-r.de und zugleich im Open Access www.zeithistorische-forschungen.de.


Weitere Informationen unter:
http://www.zzf-pdm.de
http://www.zeithistorische-forschungen.de
http://www.v-r.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution1252

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Marion Schlöttke, 25.06.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2015

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