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MEMORIAL/024: Schuld kollateral (Gerhard Feldbauer)


NATO-Jäger wollten vor 31 Jahren Ghaddafi abschießen und in Tripolis einen Putsch auslösen

Stattdessen trafen sie eine italienische Passagiermaschine

von Gerhard Feldbauer, September 2011


Der Terrorakt der NATO-Jäger vor 31 Jahren fand jetzt noch einmal ein Nachspiel. Wie die römische "Repubblicca" am 21. September berichtete, hat ein Gericht in Palermo die italienische Regierung verurteilt, den Hinterbliebenen von 81 Opfern des Absturzes einer italienischen Verkehrsmaschine eine Entschädigung von 100 Millionen Euro zu zahlen. Jahrzehntelang haben die in einem Verband der Hinterbliebenen der Opfer zusammengeschlossenen Angehörigen nicht nur um materielle Entschädigung gekämpft, sondern vor allem auch um die Entlarvung eines Verbrechens von CIA und NATO, das die italienischen Behörden, wie es im Urteil des Gerichts jetzt (wenn auch verharmlosend) heißt, durch "Unterlassungen" deckten und vertuschten.


Abschuss über Ustica

Rekonstruieren wir eines der barbarischsten Verbrechen der NATO. Am 27. Juni 1980 um 20.59 Uhr stürzte die Passagiermaschine DC 9 Mc Donnell Douglas der italienischen Itavia nördlich der Insel Ustica ins Thyrrenische Meer. Alle 81 Insassen kamen ums Leben. Wie später ans Licht kam, befanden sich zu dieser Zeit zirka 30 Jäger, Radarflugzeuge, Flugzeugträger und U-Boote der NATO in diesem Gebiet im Einsatz. Aus Berichten italienischer, aber auch von Medien in den USA wurde schon bald bekannt, dass Ziel des im Rahmen eines NATO-Manövers geführten Angriffs der libysche Staatschef Ghaddafi war, dessen Maschine, eine Tupolew, sich zur selben Zeit im Luftraum über Ustica befand, aber überraschend abdrehte. Es sickerte durch, dass pro-arabische Kreise in Rom Kenntnis von dem Anschlagsplan hatten und Ghaddafi in letzter Minute warnten. Das Attentat gegen den Libyer sollte in Tripolis einen Putsch auslösen. Der die Rakete abschießende Pilot hatte die DC 9 für die Tupolew gehalten, da sich beide Flugzeuge im Profil ähnelten.

In den Medien tauchten sofort Berichte auf, linke Terroristen hätten eine Bombe zur Explosion gebracht. Dann hieß es, Abnutzungserscheinungen, Materialermüdung und schlechte Wartung der Maschine hätten das Unglück herbeigeführt. Die Itavia wies diese Anschuldigungen zurück. Sie legte Radaraufzeichnungen des römischen Flughafens Fiumicino vor, auf denen ein fliegendes Objekt, zu erkennen war, bei dem es sich um ein Jagdflugzeug gehandelt haben konnte, das eine Rakete auf die DC 9 abfeuerte. Die NATO und ihre Geheimdienste, allen voran die CIA, erklärten sofort, "sämtliche Maschinen seien am Boden, alle Raketen in den Hangars" gewesen.


NATO-Generalsekretär Wörner (BRD) deckte das Verbrechen

Über ein Jahrzehnt wurden diese Lügen aufrechterhalten. Noch im März 1989 erklärte das Pentagon, dass "zur Zeit des Unglücks weder Schiffe noch Flugzeuge der US-Marine oder -Luftwaffe in oder über dem Thyrrenischem Meer anwesend waren. In Rom verbreitete USA-Botschafter Richard Gardner denselben Standpunkt. Manfred Wörner (BRD), von 1982 bis 1988 Bundesminister der Verteidigung und von 1988 bis zu seinem Tode 1994 NATO-Generalsekretär, deckte das Verbrechen ebenfalls und beteuerte laut "Spiegel" 14/1991 "die Unschuld der NATO-Piloten".

In einer von den Geheimdiensten inszenierten Desinformationskampagne wurde die angebliche Bombenexplosion jahrelang am Kochen gehalten. Der Standpunkt der Itavia wurde bestätigt, als 1987 endlich das in 3000 Meter Tiefe liegende Wrack der DC 9 gehoben wurde. Im Inneren der Maschine waren keine Spuren von Flammen zu erkennen, was eine Bombenexplosion ausschloss. Einen Raketeneinschlag bestätigte dagegen, dass eines der beiden Triebwerke völlig geschmolzen und im Frachtraum Einschläge zu erkennen waren. Bezeichnenderweise wurde der Voicerecorder, der die letzten Meldungen des Piloten aufgezeichnet haben musste, von der französischen Bergungsgesellschaft IFREMIR angeblich nicht gefunden. Das Unternehmen, das bereits mit den Amerikanern Teile der 1912 gesunkenen Titanic geborgen hatte, wurde beschuldigt, den Fund unterschlagen zu haben.


Über ein Dutzend Mitwisser kamen ums Leben

Nachdem am 28. August 1988 während einer Flugschau über der US-Luftwaffenbasis Ramstein zwei Piloten der italienischen Kunstflugstaffel "Frecce tricolori" zusammenstießen, in die Menge stürzten und es 70 Tote und 450 zum Teil schwer Verletzte gab, mussten in Italien die jahrelang verschleppten Ermittlungen endlich ernsthaft betrieben werden. Es galt als sicher, dass zumindest eine der Maschinen manipuliert worden war. Die beiden Piloten waren nämlich am 27. Juni 1980 als Jagdflieger über Ustica im Einsatz und nach der Flugschau zur Vernehmung vorgeladen.

Es kam ans Licht, dass bis dahin über ein Dutzend Zeugen, alle Mitwisser der Umstände des Absturzes, auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen bzw., wie in italienischen Medien immer wieder offen geäußert wurde, umgebracht worden waren. Darunter befanden sich: der Luftwaffengeneral Licio Giorgio, Radarexperte und Mitglied des Flugleitstabes, der sich in der Absturznacht in einer PD 800, einem Spezialflugzeug für elektronische Kriegführung, über Ustica befand. Der Geheimdienstoffizier Alessandro Marcucci, der am Abend des 27. Juni im Einsatzstab Dienst hatte, stürzte vor seiner Vernehmung mit einem Sportflugzeug ab. Der Kommandant der Radarzentrale "Martina Franca", General Roberto Boemio, wurde in Brüssel von unbekannten Tätern erstochen.


Überlebende Passagiere kaltblütig umgebracht

Ein ungeheuerliches Verbrechen wurde mit der Verschleppung der Such- und Bergungsarbeiten der DC 9 begangen. Obwohl die Absturzstelle genau bekannt war, wurden die Bergungskommandos in ein weit abseits liegendes Gebiet geschickt. Die "Rettungsversuche" begannen erst zehn Stunden nach dem Absturz. Eindeutiges Ziel war, es sollte keine Überlebenden geben, die aussagen konnten, dass die Maschine von einer Rakete getroffen wurde. Das Mailänder Nachrichtenmagazin "Panorama" berichtete 1989, die DC 9 sei von dem Piloten aufs Wasser aufgesetzt worden und habe sich noch einige Stunden über Wasser gehalten. Sie sei erst gesunken, nachdem ihr Rumpf im Morgengrauen von Froschmännern eines britischen U-Bootes gesprengt wurde. "Panorama" zitierte einen Zeugen aus Militärkreisen, dass es bis zu dieser Sprengung noch Überlebende gegeben habe.

Den Durchbruch in den Ermittlungen erzielte - nachdem zuvor vier Untersuchungsrichter das Handtuch geworfen hatten oder dazu gebracht worden waren - der in Terrorfragen erfahrene Staatsanwalt Rosario Priore. Er stellte Tonbänder der Radarzentrale sicher, die dem Chef der CIA-Residentur in Rom, Duane Clarridge, ausgehändigt worden waren. Der USA-Botschafter in Rom hatte bereits einen Tag nach dem Abschuss der DC 9 einen "Sonderstab Ustica" gebildet, der alle verfügbaren Beweise sicherstellte und unter Verschluss nahm.

Ex-Verteidigungsminister Lagorio sagte aus, dass alle Fäden bei den Geheimdiensten zusammengelaufen seien, welche die Ermittlungen in falsche Richtungen lenkten. Der General räumte ein, dass auch Zeugen "beseitigt" worden seien.


Haupträdelsführer blieben ungeschoren

Staatsanwalt Priore bestätigte in seiner Anklage die in der Öffentlichkeit seit langem bekannten Enthüllungen, dass die DC 9 von einem NATO-Jäger abgeschossen wurde. Dass der Todesschütze ein US-Pilot war, konnte er nicht nachweisen. In seinem 5000 Seiten umfassenden Abschlussbericht verdeutlichte er jedoch, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach ein Amerikaner war. Priore erhob schließlich Anklage gegen neun italienische Generäle und Offiziere wegen Hochverrats, Irreführung der Behörden, Beweisunterdrückung und Zeugenbeeinflussung. Eine Anklage wegen Mittäterschaft bei der Ermordung oder zumindest des Totschlags der 81 Insassen der DC 9 wurde nicht zugelassen, auch nicht eine wegen Zeugenbeseitigung. Und natürlich kamen auch die eigentlichen Drahtzieher des Verbrechens - die Verantwortlichen aus CIA, MAD (der BRD) und anderen westlichen Geheimdiensten sowie der NATO, unter ihnen deren damaliger Sekretär Wörner - nicht vor die Schranken des Gerichts.

Die Urteile fielen vergleichsweise mild aus. Die Verurteilten kamen auch bald wieder auf freien Fuß, ihre Karrieren litten darunter nicht. Der verurteilte General Lamberto Bartolucci stieg später sogar zum Generalstabschef des Verteidigungsministers auf.


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Quelle:
© 2011 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2011