Schattenblick → INFOPOOL → GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE


MEMORIAL/207: Vor 50 Jahren verstarb Ho Chi Minh - 1. Teil (Irene und Gerhard Feldbauer)


Vor 50 Jahren, am 3. September 1969, verstarb Ho Chi Minh

Für Irene und Gerhard Feldbauer gehörten die Begegnungen mit ihm zu den großen und unvergesslichen Erlebnissen ihres politischen Lebens
1. Teil

Von Irene und Gerhard Feldbauer, 2. September 2019



Foto: Public domain via Wikimedia Commons

Ho Chi Minh in einer Aufnahme von 1946
Foto: Public domain via Wikimedia Commons

Unsere Arbeit als Journalisten und im Diplomatischen Dienst der DDR führte uns in viele Länder Asiens, nach Italien und Afrika. Wir trafen mit nicht wenigen führenden Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur auch persönlich zusammen. Herausragend waren und sind bis heute die unvergesslichen Begegnungen während unserer über dreijährigen Arbeit (von 1967 bis 1970) als Korrespondenten in Vietnam mit Ho Chi Minh.

Darunter waren zwei für mich und für Irene drei persönliche, bei denen wir direkt mit ihm zusammen trafen, mit ihm sprachen, er uns die Hand drückte, uns freundschaftlich umarmte, sich nach unserem Befinden erkundigte, wir in einer unvergesslichen Weise die kaum wiederzugebende Ausstrahlung dieser faszinierenden Persönlichkeit spürten, an der nichts von Personenkult zu bemerken war.

Auf einer Festveranstaltung im Dezember 1967 zum Beginn des Widerstandskrieges gegen Frankreich am 19. Dezember 1946, des 23. Jahrestages der Volksarmee und des 7. Jahrestages der Gründung der FNL Südvietnams fotografierte Irene auf der Bühne, als Ho Chi Minh sie zu sich rief, sie umarmte und sich mit ihr unterhielt. Er erkundigte sich, wie es ihr in Hanoi gefalle, wie es ihr gehe und ob sie Vietnamesisch spreche. Er erzählte, dass er in der DDR war und etwas Deutsch spricht.

Er war aber auch anwesend bei den Begegnungen, die wir mit den Menschen Vietnams hatten, bei den vielen Gesprächen, er war einfach dabei und er lebte, auch nach seinem Tod, im Kampf seines Volkes weiter.


Foto: Bundesarchiv, Bild 183-48550-0036 [CC-BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)] via Wikimedia Commons

28. Juli 1957 - Ho Chi Minh als Präsident der Demokratischen Republik Vietnam zu Besuch in der DDR, hier mit Jungen Pionieren
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-48550-0036 [CC-BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)] via Wikimedia Commons


Der Onkel

Die Vietnamesen nannten ihn verehrungsvoll Onkel Ho. Keinem seiner Nachfolger wurde diese vertrauliche Anrede zuteil. Darin lag sicher keine Geringschätzung, eher eine Herausstellung der einmaligen Persönlichkeit dieses legendären Führers. Journalisten und die vielen Besucher, die sich ihm freundschaftlich verbunden fühlten, nannten ihn einfach (verbunden mit Genosse, Lieber oder Verehrter) Ho. Seine sprichwörtliche Bescheidenheit, seine Anspruchslosigkeit, die seine Gegner gern als gekünstelt, als einstudiert, als politisches Kalkül darstellten, entsprachen seiner Verbundenheit mit den Menschen aus dem Volk. Er wollte nicht besser leben als sie, es hätte ihn unglücklich gemacht, soll er einmal gesagt haben. Schon das ein wunderbares Vermächtnis, das er hinterlassen hat.

Im Park des Hanoier Präsidentenpalastes, in den er sich zu den Amtsgeschäften begab, bewohnte er einen kleinen hübschen Holzbau mit nur zwei Zimmern. Wenn er Freunde in Hanoi besuchte, ging er meist zu Fuß. Sicher war das auch ein bewusster Verzicht, mit dem er seine Verbundenheit mit den Millionen einfacher Menschen ausdrücken wollte. Die Revolution hatte sie vom Hungerdasein befreit, konnte ihnen aber zunächst nichts weiter als einfache menschenwürdige Lebensbedingungen garantieren, verlangte von ihnen bei der Verteidigung der Unabhängigkeit hohe Opfer bis zum Einsatz des Lebens. Damit hat er ein ausschlaggebendes persönliches Beispiel für den Massenheroismus seines Volkes gegeben, aber auch ausgestrahlt auf die Menschen in der Dritten Welt. Sein Testament, das er vier Monate vor seinem Tod, im Mai 1969, verfasste, ist durchdrungen von der Liebe zu seinem Volk und der unerschütterlichen Gewissheit, dass es bis zum Sieg kämpfen werde. [1]

Man möchte fast sagen, dass seine herausragende Führerpersönlichkeit erst nach seinem Tod sichtbar wurde. Denn als er während des erbitterten Befreiungskrieges gegen die US-Aggressoren und das südvietnamesische Marionettenregime im September 1969 starb, hinterließ er nicht, worauf seine Feinde spekuliert hatten, ein Vakuum, sondern eine kampfgestählte Partei mit einem starken Führungskollektiv und ein von seinem Unabhängigkeitswillen beseeltes Volk, die sein Werk fortsetzten. Während in der Öffentlichkeit in Hanoi nicht bekannt geworden war, dass der Gesundheitszustand des Präsidenten sich verschlechterte, war das seinen Feinden offensichtlich nicht verborgen geblieben. Denn als wir im Frühjahr 1969 in Vientiane, der Hauptstadt des von den USA beherrschten Teils von Laos, Gespräche mit französischen und amerikanischen Journalisten und Diplomaten hatten, konzentrierten sich vor allem bei letzteren die versteckten Fragen immer wieder auf dieses Thema. Washington erwartete, dass der Tod Ho Chi Minhs die Widerstandskraft Vietnams lähmen würde. Nichts dergleichen geschah jedoch. Seine Nachfolger verfügten zwar nicht über seine menschliche Ausstrahlung, aber sie setzten sein Werk fort, ohne in innerparteiliche Machtkämpfe zu verfallen.


Die Führerpersönlichkeit

Nach der Niederlage des Sozialismus in Europa ist es dem Zeitgeist entsprechend Mode geworden, die Rolle einer führenden Partei beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu negieren, sie einfach auszuklammern, nicht zu erwähnen, wenn sie nicht überhaupt diffamiert und verleumdet wird. Gerade die Beschäftigung mit Ho Chi Minh vermittelt indessen in besonderem Maße Erkenntnisse, Lehren und Erfahrungen über sein jahrzehntelanges Wirken beim Aufbau und dann an der Spitze des Staates und der kommunistischen Partei. Dabei hat Ho die meiste Zeit seiner politischen Laufbahn in der DRV darauf verzichtet, die in anderen sozialistischen Staaten übliche Konzentration von Partei- und Staatsführung in einer Hand zu praktizieren. Er hatte nie den Posten des Generalsekretärs inne, war aber auch ohne diesen Rang stets der unbestrittene Führer. Zwangsläufig zwingt das zum Nachdenken über die Bedeutung von wirklichen Führerpersönlichkeiten.

Ho Chi Minh, auf Vietnamesisch »der weise Gewordene«, ist das bekannteste von mehreren seiner Pseudonyme. Er führte es seit den dreißiger Jahren und behielt es bis zu seinem Lebensende. Er wurde am 19. Mai 1890 in Kim Lien in der Provinz Nghe An in Zentralvietnam geboren. Der Vater war Büffelhirte und Knecht auf einem kleinen Gut, ehe er die Tochter des Besitzers heiratete. Ab 1913 bis 1919 arbeitete er als Schiffskoch, Matrose und Transportarbeiter auf französischen und britischen Schiffen, lebte einige Zeit in Großbritannien und hielt sich mehrfach in den USA auf, wo er sich auch als Tellerwäscher durchschlug. Danach siedelte er nach Frankreich über, wo sein Weg zum Kommunisten beginnt.


Foto: Agence de presse Meurisse [Public domain] via Wikimedia Commons

Nguyen Ai-Quoc, der später Ho Chi Minh genannt wurde, beim Kongress französischer Kommunisten 1921 in Marseilles als Delegierter Indochinas
Foto: Agence de presse Meurisse [Public domain] via Wikimedia Commons


Der Leninist

In Frankreich waren vietnamesische Emigranten, zumeist Intellektuelle und Matrosen, bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Klassenkampf des Proletariats und seinen Zielen und dabei mit den Lehren des Sozialismus in Berührung gekommen. Ihre Zahl stieg sprunghaft an, als während des Krieges fast 100.000 Vietnamesen für den Dienst in der französischen Armee oder für die Arbeit in der Rüstungsindustrie rekrutiert und nach Frankreich verbracht wurden. Viele von ihnen traten in die Gewerkschaften, linke Jugend- und Studentenorganisationen ein, nicht wenige auch in die sozialistische und später die kommunistische Partei. Frühzeitig gingen die meisten auf Distanz zur Politik der sozialistischen Parteiführung und damit zu den Parteien der II. Internationale. Keiner von ihnen wusste wohl zu dieser Zeit etwas von Lenins Schriften über den Opportunismus und seine verheerenden Auswirkungen in den sozialistischen Parteien. Aber sie erkannten, dass deren Führungen, aber auch ein Teil der Mitglieder, die Politik ihrer Regierungen der Ausbeutung und Unterdrückung der Kolonialvölker billigten bzw. sie auch unterstützten. Vom Marxismus wussten die vietnamesischen Emigranten meist wenig. Diejenigen, die sich nach und nach zum Marxismus-Leninismus und zur Kommunistischen Internationale bekannten, gingen diesen Weg unter dem Einfluss der Oktoberrevolution und der Haltung Lenins zur kolonialen Frage.

Ho selbst hat dazu in der ihm eigenen Einfachheit und Ehrlichkeit 1960 in einem Beitrag für die Juli-Ausgabe des Pariser »Echo du Vietnam« unter dem Titel »Der Weg, der mich zum Leninismus führte« geschrieben, dass er die Frage, welche Internationale den Kampf der unterdrückten Völker unterstütze, in einer Versammlung der Sozialisten stellte. »Einige Genossen antworteten: Die Dritte Internationale und nicht die Zweite! Ein Genosse gab mir die Thesen Lenins über das Problem der Nationalitäten und der Kolonialvölker zu lesen, die die 'Humanité' veröffentlicht hatte. In diesem Buch gab es politische Ausdrücke, die ich nur schwer verstand. Indem ich sie aber las und immer wieder las, begriff ich schließlich den Sinn. Lenins Gedanken bewegten mich stark, und ich war begeistert. Ein großes Vertrauen half mir, die Probleme klar zu sehen. Meine Freude war derartig, dass mir manchmal Tränen in die Augen traten. Allein in meinem Zimmer, rief ich aus, als stünde ich vor einer großen Volksmenge: 'Liebe Landsleute, Unterdrückte und Elende! Hier ist, was wir brauchen, hier ist der Weg zu eurer Befreiung!' Von nun an hatte ich absolutes Vertrauen in Lenin und die Dritte Internationale.«


Mitbegründer der FKP

Ho Chi Minh wurde schon bald nach seiner Ankunft in Frankreich politisch aktiv. Während er sich als Fotograf und mit anderen Gelegenheitsarbeiten durchs Leben schlug, arbeitete er für die »Humanité« und »La Vie ouvrière«, die Zeitung der CGT, für die er zahlreiche Beiträge zum antikolonialen Widerstand schieb. Er lernte den Enkel von Karl Marx, Jean Longuet, kennen, in dessen Zeitung »Populaire« er ebenfalls publizierte. Bald gründete er eine eigene Zeitung, das Wochenblatt »Le Paria«, in dem er scharf die französische Kolonialpolitik attackierte. Die auch in Indochina verbreitete Zeitung widmete sich gleichzeitig der sozialistischen Bildungsarbeit. Aufsehen unter den vietnamesischen Emigranten erregte Ho, der zu dieser Zeit seinen Namen Nguyen Ai-Quoc noch nicht abgelegt hatte, als er während der Versailler Friedenskonferenz den Teilnehmern ein Memorandum mit der Forderung übergab, den Völkern Indochinas die Unabhängigkeit zu gewähren.

Als Vertreter der Emigranten der französischen Kolonien wird Ho im Dezember 1920 zum sozialistischen Parteitag in Tours delegiert, auf dem er mit dem die Mehrheit stellenden linken Flügel für die Konstituierung der FKP und für ihre Aufnahme in die III. Internationale stimmt. In den Jahren seiner Tätigkeit in der FKP ist Ho Chi Minh einer der fähigsten und aktivsten Experten für Kolonialfragen und Sprecher der FKP-Mitglieder aus den Kolonien. Im Juni/Juli 1924 nimmt er in Moskau am V. Weltkongress der KI teil. In seiner Rede zur kolonialen Frage fordert er von den kommunistischen Parteien der »Mutterländer«, die Volksmassen der kolonial unterdrückten Völker in ihren eigenen antiimperialistischen Kampf einzubeziehen. Während seiner Moskauer Zeit ist er vielseitig tätig. Er studiert und lehrt gleichzeitig an der Universität der Völker des Ostens, arbeitet in der KI und der Bauerninternationale mit, wird Mitglied der Asiensektion der KI und Leiter ihrer Südostasienabteilung.

Sein Hauptaugenmerk gilt der Schaffung einer kommunistischen Partei in Vietnam. Er arbeitet, wie es schon zu dieser Zeit, da er zu den hervorragenden Funktionären der KI zählt, seine Art war, im Stillen, lässt seine Ideen reifen und hebt sich abzeichnende Erfolge nicht hervor, was wohl dazu beitrug, dass er von den großen Auseinandersetzungen in der kommunistischen Weltorganisation nicht erfasst wurde.


Wegbereiter der Partei

Während er sich 1925 in China aufhält, bildet er in Kanton mit vietnamesischen Emigranten die Liga der Revolutionären Jugend Vietnams, die zum wichtigsten Vorläufer der KPV wird. Zu seinen engsten Kampfgefährten gehört Pham Van Dong, der spätere Ministerpräsident der DRV. Als Vertreter der Komintern delegiert er Mitglieder der Jugendliga zum Studium nach Moskau, darunter an die Militärakademie der Roten Armee, sowie an die militärische Lehranstalt Huang Pu bei Kanton, an der sowjetische Militärs Offiziere der Volksbefreiungsarmee als auch der Truppen Tschiang Kai Scheks ausbildeten. [2] Sie alle werden später in den Reihen der Roten Garden der Sowjets von Nghe Tinh kämpfen. Andere Mitglieder gehen nach Vietnam, um dort bereits Basiszellen für die künftige Partei vorzubereiten.


Foto: Stiftung Haus der Geschichte [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)] via Wikimedia Commons

Solidarität mit Ho Chi Minh in Westdeutschland - Internationaler Vietnamkongress im Audimax der TU Berlin 1968
Foto: Stiftung Haus der Geschichte [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)] via Wikimedia Commons

In seiner Schrift »Der revolutionäre Weg«, die 1926 erscheint, skizziert er in seiner für das Volk leicht verständlichen Sprache Grundfragen des nationalen Befreiungskampfes und die Notwendigkeit, dazu eine revolutionäre Kampfpartei zu schaffen. [3] Zwischen 1927 bis 1929 befasst er sich im Auftrag des EKKI in verschiedenen Ländern Europas und Asiens mit dem Kampf nationaler Befreiungsorganisationen. Das EKKI drängt auf die Schaffung einer einheitlichen KP in Vietnam. Nach mühevoller Arbeit erreicht Ho am 3. Februar 1930, dass in Hongkong Vertreter der drei kommunistischen Organisationen Vietnams bzw. Indochinas die Vereinigung zu einer einheitlichen KP beschließen: Es sind die aus der Revolutionären Jugendliga hervorgegangene Kommunistische Partei Indochinas, die Kommunistische Partei Annams und die Indochinesische Kommunistische Liga. Da alle Organisationen mehrheitlich aus Vietnamesen bestehen, nimmt die Organisation zunächst den Namen Kommunistische Partei Vietnams an. Das Zentralkomitee nimmt seinen illegalen Sitz in Haiphong. In ihrem Programm definiert die Partei den nationalen Befreiungskampf zur Beseitigung des Kolonialregimes als seinem Charakter nach bürgerlich-demokratische Revolution, die dann aber immer spezifische vietnamesische Züge aufweist. Die Partei unterscheidet - was in den meisten KPs innerhalb der nationalen Befreiungsbewegung in dieser Zeit nicht der Fall ist - zwischen der nationalen Bourgeoisie als einem Verbündeten und der auf der Seite der Kolonialmacht stehenden Kompradorenbourgeoisie und richtete den Hauptstoß gegen die Kolonialmacht und ihre feudalen Stützen. Das EKKI nimmt auf seiner Tagung im März/April 1931 die Partei in die KI auf.

Um ihre Zuständigkeit für den nationalen Befreiungskampf in der ganzen Kolonie Indochina zu betonen, nennt sich die KPV ab Oktober 1930 Kommunistische Partei Indochinas. Zugleich wird der Sitz des Zentralkomitees nach Saigon verlegt. Als im Herbst 1930 in Zentralvietnam spontan ein Bauernaufstand ausbricht, stellt sich die junge Partei an seine Spitze.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] Léo Figuères: Ho Chi Minh, Notre Camarade, Paris 1970, S. 263 ff.

[2] Die Lehranstalt wurde von der KP Chinas und der Guo Min Dang während der Periode der Einheitsfront gemeinsam unterhalten.

[3] »Nhan Dan«, 3. Jan. 1970

*

Quelle:
© 2019 by Irene und Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang