Vor 95 Jahren wurde Antonio Gramsci vom Sondertribunal verurteilt
In Mussolinis Kerker danach durch "langsames Sterben" ermordet
von Gerhard Feldbauer, 16. Juni 2023
Am 4. Juni 1928 wurde der Begründer der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) Antonio Gramsci vom Sondertribunal des Mussolini-Regimes zu 22 Jahren und 9 Monaten Kerker verurteilt. Vom Staatsanwalt des Sondertribunals nach der Bedeutung der in seinen beschlagnahmten Schriften gebrauchten Begriffe Krieg und Machtübernahme gefragt, gab der IKP-Generalsekretär die berühmte Antwort, dass "alle Militärdiktaturen früher oder später zu einem Krieg führen und dass es in einem solchen Fall dem Proletariat zukomme, die herrschende Klasse zu ersetzen und die Zügel des Landes zu ergreifen, um das Schicksal der Nation zu wenden". Als der Staatsanwalt ihn unterbrechen wollte, fügte er hinzu: "Ihr werdet Italien ins Verderben führen, uns Kommunisten wird die Aufgaben zufallen, es zu retten." Ein Minister des Mussolini-Kabinetts erklärte danach, "dieser Kopf muss für 20 Jahre gehindert werden zu arbeiten". Das gelang nur teilweise. Zweifelsohne hätte dieser geniale Kopf aber in Freiheit einen noch größeren Beitrag für die IKP, für den antifaschistischen Widerstand und auch die kommunistische Weltbewegung leisten können.
Bis zu seiner Verurteilung hatte Gramsci bereits als Erster in der kommunistischen Weltbewegung eine Analyse des im Oktober 1922 in Italien an die Macht gekommenen Faschismus erarbeitet [1]. Während die faschistische Gefahr in der Resolution des Gründungsparteitages in Livorno mit keinem Wort erwähnt worden war [2], hatte Gramsci noch vor dem Marsch auf Rom den Faschismus als eine "degenerierte Kraft der Bourgeoisie", eine "bewaffnete Garantie des Klassenstaates", ein "Phänomen der bourgeoisen Reaktion" eingeschätzt und vor einem "Staatsstreich der Faschisten" gewarnt [3]. Nun kam er "dem wahren Charakter des Faschismus auf die Spur, analysierte die reaktionäre Einstellung seiner führenden Vertreter, die Borniertheit der Kleinbürger, die ihm wie Schafe nachliefen. Vor allem sah er die Gefahr, die von ihm drohte und die von den meisten Kommunisten damals noch unterschätzt wurde" [4]. Er sah, dass es nicht lediglich ein Führungswechsel innerhalb der Bourgeoisie war, sondern der "Faschismus als Instrument einer Industrie-Agraroligarchie (handelt), um in den Händen des Kapitals die Kontrolle des gesamten Reichtums des Landes zu konzentrieren."
Er schlussfolgerte, dass die Frage der proletarischen Revolution zunächst nicht mehr auf der Tagesordnung stand, die Arbeiterklasse ihre politische Hegemonie auf der Grundlage der Freiwilligkeit und Überzeugung erringen müsse und ihr Masseneinfluss voraussetze, das Sektierertum zu überwinden. Das Verlangsamen der Massenaktionen erfordere von der revolutionären Partei eine viel komplexere Strategie und Taktik, die weit von der entfernt ist, die für die Bolschewiki zwischen März und November 1917 notwendig war.
In seiner Konzeption vom "Historischen Block" entwickelte Gramsci ein Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft, den Mittelschichten und der Intelligenz, in das er die katholischen Volksmassen einbezog. Er folgte damit Lenins Hinweisen für die italienischen Kommunisten auf dem III. KI-Kongress, dass die Partei im revolutionären Kampf "die Massen", die "Mehrheit der Arbeiterklasse" gewinnt [5]. Gramsci hielt Zugeständnisse für notwendig, betonte gleichzeitig, es müsse um einen "ausgeglichenen Kompromiss" gehen, bei dem die Zugeständnisse der KP "nicht das Wesentliche", nämlich "die entscheidende Rolle (...), die ökonomischen Aktivitäten der führenden Kraft", betreffen dürften, worunter er die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft und die Herstellung einer sozialistischen Ordnung verstand. Seine Konzeption wurde auf dem Parteitag in Lyon 1926 als Parteiprogramm ("Thesen von Lyon") angenommen und er als Nachfolger Amadeo Bordigas [6] zum Generalsekretär gewählt.
Gramsci lehnte die auf dem VI. KI-Kongress aufgestellte Sozialfaschismusthese ab, was hieß, dass die IKP die Sozialdemokratie als Teil der Arbeiterbewegung anerkannte. Das war die Voraussetzung, 1934 mit der ISP ein Aktionseinheitsabkommen zu schließen, das im Juli 1937 in Spanien mit einem klaren antiimperialistischen Bekenntnis vertieft wurde.
Mit seiner weiteren Arbeit im Kerker leistete er ungeheures Pensum an theoretischen Erkenntnissen für den revolutionären Kampf. Aufschlussreich ist dazu die von Giuseppe Fiori 2013 im Rotbuchverlag neu aufgelegte Biographie "Das Leben des Antonio Gramsci". Fiori gibt mit vielen kaum oder auch nicht bekannten Positionen einen fundierten Einblick in den gewaltigen Beitrag, den Gramsci zur Verbreitung des Marxismus-Leninismus und zur Schaffung einer revolutionären Partei des italienischen Proletariats geleistet hat. Kaum ein anderer Verfasser hat so einfühlsam darüber geschrieben, unter welchen Bedingungen Gramsci im Kerker arbeitete.
Gramsci, der einen Buckel hatte und von zwergenhafter Gestalt war, litt von früher Kindheit an unter einer schwachen Gesundheit. Während die bisherigen Publikationen zu Gramsci das verbal abhandeln, geht Fiori detailliert darauf ein und legt dar, mit welch geradezu übermenschlicher Willenskraft Gramsci arbeitete. Die Wahrheit war, dass Gramsci sich schon 1933 "in einem Prozess des langsamen Sterbens befand", schreibt Fiori. "Seine Zähne waren ausgefallen und er hatte ein schmerzhaftes Magenleiden. Fortschreitende Lungentuberkulose, Arterieosklerose und Pott'sche Krankheit (eine tuberkulöse Wirbelsäulenentzündung) verursachten unerträgliche Schmerzen."
Mit der jahrelang abgelehnten medizinischen Betreuung und der Weigerung, den Gefangenen in ein Gefängniskrankenhaus zu verlegen, betrieb das Mussolini-Regime systematisch die Ermordung Gramscis. "Ohne ärztliche Hilfe seinen Krankheiten ausgeliefert, starb er unter schrecklichen Qualen einen langsamen Tod." Versuche, ihn zu einem Gnadengesuch zu bewegen, die nicht nur von Mussolini, sondern auch von seiner Familie und Freunden ausgingen, lehnte Gramsci ganz entschieden ab, da er darin eine Distanzierung vom antifaschistischen Widerstand und eine Auswirkung auf dessen Kampfkraft sah. Trotz dieses Krankheitszustandes arbeitete Gramsci weiter. Aus dem Jahr 1933 stammen die Gefängnishefte 1 (Notizen zu verschiedenen Themen), 2 (Grundlagen der Politik), 4 und 22 (Verschiedenes).
Togliatti verwirklichte, unterstützt von Luigi Longo, nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 in einer Palastrevolte im April 1944 mit der "Wende von Salerno" (Eintritt der Kommunisten und Sozialisten zusammen mit den bürgerlichen Parteien in die nach dem Sturz des "Duce" von Marschall Pietro Badoglio gebildete Regierung) Gramscis These vom "Historischen Block" in der Praxis. So bestätigte sich die Einschätzung von Georg Lukács, Togliatti sei "eine der bedeutendsten taktischen Begabungen, welche die Arbeiterbewegung hervorgebracht hat" [7]; auch wurde die überragende Bedeutung der theoretischen Leistung Gramscis damit verdeutlicht [8].
Fiori führt auch an, dass von der UdSSR durch den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Maxim Maximowitsch Litwinow, über den italienischen Botschafter in Moskau ein Austausch Gramscis versucht wurde, was Mussolini "schroff abgelehnt" habe.
Im März 1933 bildete eine breite antifaschistische Protestbewegung in Paris ein internationales Komitee, dem u. a. Romain Rolland und Henri Barbusse angehörten. Es machte die unmenschlichen Haftbedingungen Gramscis publik und forderte seine Freilassung. Danach wurde Gramsci im November 1933 in ein Gefängniskrankenhaus in Civitavecchia nordöstlich von Rom und später nach Formia in der römischen Region Latium in eine kleine Klinik unter strenger polizeilicher Bewachung verbracht. 1934/35 verfasste er hier elf seiner Gefängnishefte und überarbeitete frühere Aufzeichnungen.
Fiori geht auch auf die problematische Ehe Gramscis mit seiner Frau Giulia Schucht ein, die er während seines Aufenthaltes als Delegierter der IKP bei der Komintern 1922/23 kennenlernte und heiratete und mit der er zwei Söhne hatte. "Er war 31 Jahre alt und zum ersten Mal verliebt", schreibt Fiori, der kein Urteil fällt. Aber was er darlegt, vermittelt den Eindruck, dass Giulia nicht dazu fand, Antonio in den letzten und schwersten Jahren seines Lebens im Kerker auch nur annähernd beizustehen und ihm ein Trost zu sein. Vergeblich wartete Gramsci auf einen Besuch von ihr im Gefängnis, ja oft erhielt er monatelang nicht einmal Post von ihr [9]. Das erschwerte sein Schicksal zusätzlich. "Er hatte", so Fiori, "seine Vergangenheit schonungslos analysiert und war zu der Überzeugung gekommen, dass er Giulia gegenüber 'schuldig' sei, was er mit seiner politischen Aktivität" in Zusammenhang brachte. Sie an sich gebunden zu haben, sah er als einen "Irrtum". Er habe "nicht den Mut gefunden, allein zu leben, niemanden an sich zu binden, keine Zuneigung und kein enges Verhältnis usw. entstehen zu lassen", gibt Fiori ihn wieder. Gramsci befasste sich mit der Lösung, das wiedergutzumachen, "in die Einsamkeit zurückkehren und Giulia freizugeben". Menschlich tief ergreifend sind auch die einfühlsamen Briefe Gramscis an seine beiden Söhne Delio und Giuliano, die er ihnen bis kurz vor seinem Tod schrieb [10]. Der Haltung Giulias steht die entgegengesetzte ihrer Schwester Tanja gegenüber, die in Italien verblieb und Gramsci aufopferungsvoll zur Seite stand, ihn im Gefängnis besuchte, Literatur besorgte und alles tat, um sein schweres Los etwas zu erleichtern. Mit ihr besprach er auch die Probleme mit seiner Frau.
Anfang April 1937 wurde der todkranke Gramsci aus der Haft entlassen. Er verstarb am 27. April um 4.10 Uhr. Er wurde nur 46 Jahre alt. Fiori schließt die Biographie mit einem Brief, den Gramsci vor der Verkündung des Urteils 1928 an seine Mutter geschrieben hatte: "Damit ich ganz ruhig sein kann, möchte ich, dass Du nicht erschrickst oder Dich aufregst, wie immer auch das Urteil ausfallen mag. Ich möchte, dass Du verstehst und fühlst, dass ich ein politischer Gefangener bin und dass ich mich dessen nicht schäme und nie schämen werde. Ich möchte dir sagen, dass ich es im Grunde genommen nicht anders gewollt habe, weil ich nie meine Meinung aufgeben wollte, und ich bin bereit, dafür nicht nur ins Gefängnis zu gehen, sondern sogar mein Leben zu opfern. Deshalb kann ich ruhig und mit mir selbst zufrieden sein. Liebe Mama, ich möchte Dich gern ganz fest umarmen, damit du spürst, wie lieb ich dich habe und wie ich Dich für diesen Kummer trösten möchte, den ich Dir bereitet habe - aber ich konnte nicht anders handeln. Das Leben ist sehr hart, und manchmal müssen die Kinder ihren Müttern großes Leid zufügen, wenn sie ihre Ehre und Menschenwürde bewahren wollen."
Anmerkungen:
[1] Was Togliatti in seiner Rede auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 in Moskau verschwieg. Siehe "Die Vorbereitung des imperialistischen Krieges und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale", in: Pieck, Dimitroff, Togliatti: "Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus", Berlin/DDR 1960.
[2] Luigi Longo/Carlo Salinari: Tra reazione e rivoluzione. Mailand 1972, S. 120 f.
[3] Harald Neubert (Hg): Antonio Gramsci. Revolutionär und Internationalist. Berlin/DDR, 1978, S. 18.
[4] Giuseppe Fiori: Das Leben des Antonio Gramsci. Rotbuchverlag Hamburg 2013.
[5] Lenin, Werke, Bd. 32. Berlin/DDR 1961, S. 491 ff.
[6] Amadeo Bordiga war ab 1910 Mitglied der ISP, verteidigte den Marxismus gegen die Reformisten, bezog 1914 Antikriegspositionen. Seit 1919 führender Vertreter der Kommunisten in der ISP, 1921 Mitbegründer der IKP, bis 1926 ihr Generalsekretär. Repräsentierte sektiererische Positionen, trat gegen die Teilnahme der IKP an Wahlen und des parlamentarischen Kampfes ein, wurde deswegen 1931 auf dem illegalen Parteitag in Köln aus der IKP ausgeschlossen.
[7] In: Theo Pinkus: Gespräche mit Georg Lukács. Hamburg 1967, S. 71.
[8] Siehe dazu auch Togliatti: Antonio Gramsci. Ein Leben für die italienische Arbeiterklasse. Berlin/DDR 1954.
[9] Laut Aldo Natoli "Tanja Schucht und Antonio Gramsci" (Frankfurt/Main 1993) war sie 1926 mit Sohn Delio in Rom, kehrte aber noch im selben Jahr nach Moskau zurück.
[10] Gramsci, Gedanken zur Kultur. Leipzig 1987, S. 115 ff.
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Quelle:
© 2023 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 23. Juni 2023
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