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NEUZEIT/135: Multikultur in der Frühen Neuzeit (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2007

Multikultur in der Frühen Neuzeit

Von Sabine Ullmann


Vertrieben aus den Städten fanden Juden im Bayern der Frühen Neuzeit Zuflucht im ländlichen Franken, Schwaben und der Oberpfalz. Ein Forschungsprojekt widmet sich der multikulturellen Koexistenz von Christen und Juden auf dem Land.


Neben Böhmen, dem oberen und mittleren Rheingebiet zählte Bayern zu den zentralen jüdischen Landschaften der Vormoderne. Wie im gesamten frühneuzeitlichen Reich waren die jüdischen Wohnorte auch hier nicht breitflächig gestreut, sondern konzentrierten sich vielmehr in unterschiedlichen Kernregionen: in den drei fränkischen Regierungsbezirken Mittel-, Ober- und Unterfranken, im schwäbischen Regierungsbezirk und in der Oberpfalz. Dagegen konnten sich in Ober- und Niederbayern keine Gemeinden etablieren. Zum größten Teil lebten die Juden Bayerns während der Frühen Neuzeit in Kleinstädten, Märkten und Dörfern. Orte wie Binswangen und Buttenwiesen (Landkreis Dillingen an der Donau), Bechhofen (Landkreis Ansbach) und Georgensgmünd (Landkreis Roth) oder Floß (Neustadt an der Waldnaab) hatten in der jüdischen Welt einen klingenden Namen, der für ein reges Gemeindeleben stand - hier konnte sich z.B. in Fürth eine der bedeutendsten Stätten talmudischer Gelehrsamkeit in Süddeutschland entwickeln.

Die Juden waren keineswegs freiwillig auf das Land gezogen, sie wurden vielmehr aus den großen Städten, in denen sie während des Mittelalters lebten, sukzessive ausgewiesen. Diese Vertreibungen waren ein generelles Phänomen, das sich mit mehr als 300 Fällen auf das gesamte Reich erstreckte: In Nürnberg musste die jüdische Bevölkerung 1499, in Nördlingen 1507, in Donauwörth 1518 und in Weißenburg 1520 ihre Häuser räumen. Auch die größeren Landesfürstentümer schlossen sich an: das Herzogtum Bayern-München 1442, das Herzogtum Bayern-Landshut 1450. Für das Hochstift Eichstätt erließ Bischof Johann III. von Eich 1445 den Befehl zur Ausweisung. Von den mittelalterlichen städtischen Gemeinden bestanden im frühen 16. Jahrhundert schließlich nur noch Worms, Würzburg, Frankfurt am Main und Prag. Ökonomische Konkurrenz, die Ressentiments des aufstrebenden Bürgertums und die Autonomiebestrebungen des städtischen Rates gegenüber den territorialen bzw. kaiserlichen Schutzherren der Juden sowie nicht zuletzt das Weiterwirken der langtradierten antijüdischen Legenden gaben dafür den Anstoß. Nach diesem fast vollständigen Verlust einer durch die städtischen Zentren bestimmten Siedlungsstruktur kam es so zu einem fundamentalen Wandlungsprozess des jüdischen Siedlungsmusters im Alten Reich, einer deutlichen Verschiebung der Wohnorte in Klein- und Kleinstgemeinden, die ihren Höhepunkt zwischen 1481 und 1520 erreichte. Mit dem beginnenden 16. Jahrhundert wurde daher das urbane Judentum des Mittelalters durch das frühneuzeitliche Landjudentum abgelöst - weite Teile des jüdischen Lebens in Mitteleuropa waren bis ins 19. Jahrhundert hinein nun von einer ländlichen Umwelt geprägt.

Dabei waren es in erster Linie historische Landschaften Deutschlands mit kleinräumigen territorialen Einheiten, in denen die Juden nun Zuflucht fanden, wie etwa Franken oder Schwaben. Die Forschung hat diese Zonen im Reich je nach historischer Wertung einmal abschätzend als Zonen mit territorialer Zersplitterung oder positiv gewendet als reich gegliederte Regionen kategorisiert. Wie immer man diese Gebiete einschätzen mag - ob man ihre Komplexität im Sinne einer politisch-kulturellen Vielfalt unterschiedlicher Herrschaftsformen vom Reichskloster über das Hochstift bis zum reichsritterschaftlichen Dorf lobt, oder die mangelnde Funktionalität im Sinne moderner Flächenstaaten kritisiert - für die jüdische Bevölkerung waren sie ein überlebenswichtiges Refugium. Innerhalb Bayerns waren das vor allem die Herrschaftsgebiete der pfälzischen Wittelsbacher, die Länder der brandenburgischen Markgrafen Ansbach und Bayreuth-Kulmbach, die Markgrafschaft Burgau in Schwaben, die fränkischen Hochstifte Würzburg und Bamberg sowie die Gebiete des Erzstifts Mainz und vor allem und in erster Linie die kleinen Besitzungen der Reichsgrafen und Reichsritter, wie etwa die der Familien von Pappenheim an der Altmühl, der Grafen von Castell oder der Freiherren von Seckendorff. Im Zuge der nach dem Dreißigjährigen Krieg einsetzenden Peuplierungspolitik entwickelten sich hier in einzelnen Dörfern sehr große jüdische Gemeinden - der jüdische Bevölkerungsanteil erreichte bis zu 50 Prozent. Diese sogenannten "Judendörfer" waren Räume vielfältiger kultureller Interaktion. Juden und Christen unterhielten intensive Beziehungen zueinander, die sich zum einen auf den geschäftlichen Bereich - vor allem im Vieh- und Viktualienhandel - bezogen, zum anderen aber in nachbarschaftlich-geselligen Kontakten greifbar sind. Diese Orte sind daher geradezu Laboratorien, in denen wir die Funktionsweisen gemischtreligiöser Gemeinschaften, ihre spezifischen Konfliktfelder und deren alltägliche Bewältigung beobachten können.

Kennzeichnend für die Koexistenz in den Dörfern Schwabens, Frankens und der Oberpfalz war eine unmittelbare Nähe von Christen und Juden, sowohl im Hinblick auf die Wohnsituation - christliche und jüdische Häuser standen in Nachbarschaft zueinander - als auch im Hinblick auf das Gegenüber von Kirche und Synagoge. Dabei galt es eine schwierige Aufgabe zu bewältigen: Die Akzeptanz einer anderen Religion mit konkurrierendem Wahrheitsgehalt innerhalb des als "eigen" empfundenen Dorfes. Die zwangsläufig aufkommenden Spannungen waren fester Bestandteil der laufenden Interaktionen. In den meisten dieser Orte entwickelten sich immer wiederkehrende klassische Konfliktmuster um den Zugang zur Allmende oder die Aufteilung der Gemeindelasten - am heftigsten aber wurde stets um die religiöse Praxis im Dorf gerungen.

Die unterschiedliche Religionszugehörigkeit hatte weitreichende kulturelle Konsequenzen. Der jüdische Ritus mit seinen Speise- und Reinheitsgesetzen führte zu einer Abgrenzung in zahlreichen alltäglichen Lebensbereichen gegenüber der christlichen Umwelt. Hinzu kamen Unterscheidungen in elementaren Gebieten wie der Zeitrechnung, der Kultsprache und des Dialektes. Am folgenreichsten war für die Koexistenz der beiden Gruppen innerhalb des Dorfes die unterschiedliche Einteilung der Woche in Arbeits- und Ruhetage, die zu einem anderen Lebensrhythmus führte. Christen und Juden waren zudem nicht nur gezwungen sich die Dörfer als gemeinsamen Lebens- und Wirtschaftsraum zu teilen, sondern auch als gemeinsamen sakralen Kultusraum. Für die Religionsausübung bedeutete dies, dass Juden und Christen ihren religiösen Pflichten auf engstem Raum, nebeneinander nachkommen mussten. Die dabei auftretenden Konflikte drehten sich in erster Linie um die Einhaltung der Feiertags- und Sonntagsruhe im Dorf, um die Arbeitsdienste von Christen für Juden - die so genannten Sabbatmägde - sowie um unterschiedliche Formen der öffentlichen Frömmigkeitspraxis durch die Judengemeinde.

Mit einem Forschungsprojekt widmet sich die Professur für Landesgeschichte an der KU diesem Phänomen der frühneuzeitlichen Judendörfer und setzt dabei auf einer regionalgeschichtlichen sowie auf einer ortsgeschichtlichen Ebene an. Auf der ersten Ebene erfolgt eine systematische Erfassung der Siedlungssituation innerhalb der modernen Grenzen Bayerns für den Zeitraum zwischen 1500 bis 1820. Die dabei auf datentechnischer Basis erstellte thematische Siedlungskarte soll nach ihrer Fertigstellung auch die unterschiedlichen Zeitschichten der Siedlungsentwicklung sowie die spezifischen Muster (Atomisierung bzw. Konzentration) erschließen. Da jüdische Siedlungsformen weit mehr berichten als nur "harte" Fakten wie Bevölkerungsdichte, wird diese Karte auch vielfältige, weiterführende Aussagen zur Judenpolitik der jeweiligen Landes- und Ortsherrschaften erlauben. Im Zuge der Ausbildung frühmoderner Staatlichkeit ging auch der Judenschutz, das Recht zur Ansiedlung und Besteuerung von Juden, als ein zunächst königlich-städtisches Privileg an die Landesfürsten über. Nicht nur die rechtlich-normativen Rahmenbedingungen jüdischer Existenz, die von Fragen der Religionspraxis bis zum Ausmaß des wirtschaftlichen Handlungsspielraums sowie der gemeinderechtlichen Integration reichten, wurden nun in Form landesherrlicher Schutzbriefe fixiert, sondern auch die grundsätzliche Frage an welchem Ort bzw. in welchem Land Juden überhaupt siedeln konnten, wurde auf dieser Ebene entschieden. Die spezifischen Korrespondenzen zwischen dem Siedlungsmuster und der politischen Landkarte Bayerns während der Frühen Neuzeit stehen mithin im Zentrum. Dieser Teil des Projekts wird über die an die Professur angegliederte Maximiliana-Kocher-Stiftung finanziert.

Neben der topographischen Spurensuche stehen qualitative Aspekte jüdischer Existenz im Zentrum: Wie gestaltete sich christlich-jüdische Nachbarschaft im engen Dorfraum? Welche wirtschaftlichen Handlungsräume standen den Schutzjuden und ihren Frauen offen? Wie fanden die verstreut siedelnden Judenschaften zu einer überörtlichen Gemeindeorganisation? Welche familiären, religiös-kulturellen und ökonomischen Netzwerke kamen dabei zum Tragen? Dabei stehen die inneren Strukturen der Dörfer im Mittelpunkt: die Ortstopographie, die dörflichen Ausformungen jüdischen Gemeindelebens sowie nicht zuletzt die Qualität der christlich-jüdischen Koexistenz. Zur zentralen Frage nach dem Verhältnis zwischen Christen und Juden vor der Emanzipation des 19. Jahrhunderts hat sich im letzten Jahrzehnt ein Perspektivwechsel vollzogen, der eine intensive Debatte auslöste und dazu führte, dass sich das Interesse der jüdischen Forschung zunehmend auf die Epoche vor 1800 richtet. Deutsch-jüdische Geschichte ist nicht länger ausschließlich ein Erinnerungsort des Holocaust, sondern steht auch für eine lange Phase multikultureller Koexistenz.

Mit diesem zweiten Ansatz wird folglich eine mikrogeschichtliche Betrachtungsweise anvisiert, bei der ausgewählte Dörfer aus dem historischen Umfeld der Universität Eichstätt im Mittelpunkt stehen. Dabei werden künftig im Rahmen des neuen Studiengangs "Zeiten, Räume und Kulturen" an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät auch Studentinnen und Studenten über einzelne Lehrprojekte mit eingebunden werden.


Prof. Dr. Sabine Ullmann ist seit 2006 Inhaberin der Professur für Landesgeschichte unter besonderer Berücksichtigung Bayerns mit Schwerpunkt Spätmittelalter/Frühe Neuzeit. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört jüdische Geschichte in Bayern während der Frühen Neuzeit.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
23. Jahrgang, Ausgabe 2/2007, Seite 24-25
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Ruprecht Wimmer
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2007