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NEUZEIT/197: Lateinamerika - vor 200 Jahren begann die Ablösung von den europäischen Monarchien (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 11 vom 19. März 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Widersprüche aus der Identität
Vor 200 Jahren wurde die Ablösung Lateinamerikas von den europäischen Monarchien begonnen

Von Günter Pohl


"Wofür feiern wir das Bicentenario? Vom geschichtlichen Standpunkt aus: was wollen wir machen? Eine offizielle Geschichte bekräftigen, die vor allem lügenhaft ist? Wir haben eine Gelegenheit für die Einbeziehung z. B. der Mapuche-Indianer in Ländern wie Argentinien oder Chile durch eine geschichtliche Neubewertung. Oder wollen wir unseren Kindern weiter von der tollen 'Befriedung der Araucanía' erzählen?"(1)

(Felipe Pérez Cruz, Vorsitzender der Historikerunion Kubas in Havanna und Mitglied der Arbeitsgruppe "Bicentenario" des Lateinamerikanischen Sozialwissenschaftsrats
(CLACSO))


"Bicentenario" - der Begriff der Jahre 2009 und 2010 in Lateinamerika und einigen Ländern der Karibik. Es geht um den epochalen Einschnitt in das Kolonialsystem zweihundert Jahre zuvor, das Spanien und Portugal in Amerika aufrechterhalten hatten. Und wenn dabei meist nur die spanischsprachigen Inseln der Karibik (Kuba, Dominikanische Republik, Puerto Rico) eingeschlossen werden, dann offenbart sich ein Aspekt der Problematik, deren Teil just die Sichtweisen der Lateinamerikaner auf das Bicentenario sind.

Denn Haiti, französische Kolonie auf der Insel "Hispaniola", deren östlicher Teil die Dominikanische Republik ist, hatte seine formale Unabhängigkeit bereits am 1. Januar 1804 erlangt. Auf dem Kontinent hingegen wurde der "Primer Grito de la Independencia" (Erster Schrei nach Unabhängigkeit) in einem der spanischen Vizekönigreiche am 10. August 1809 in Quito getan. Die Auslassung Haitis ist korrekt, wenn von "Lateinamerika" gesprochen wird, steht aber in einem merklichen Widerspruch zu dem, was heute als "Bolivarianismus" vereinfachend für die lateinamerikanische Integration herhält; denn Haiti und die englischsprachigen Karibikinseln, die ihre Unabhängigkeit erst im 20. Jahrhundert erhielten oder - im Fall der niederländisch- und französischsprachigen Kolonien - bis heute nicht erreicht haben, durchliefen eine sehr ähnliche Geschichte von Unterwerfung, Ausbeutung und Abhängigkeit. Folglich müsste ihnen über Sonntagsreden hinaus auch im geschichtlichen Rückblick, der immer auch eine Bestandsaufnahme der Gegenwart sein muss und gegebenenfalls eine Orientierung für die aktuellen Aufgaben sein kann, die entsprechende Rolle gegeben werden. Wenn man richtig analysiert, dass Haiti durch das Erdbeben im Januar 2010 vor allem deshalb so hart getroffen wurde, weil es die faktische Abhängigkeit unter anderem deshalb nicht loswurde, da es immer - von außen gestützte - Unterdrückung durch Diktaturen gab, die weitere, ungestörte Ausbeutung zum Ziel hatte, dann darf natürlich der Blick auf die seit 2004 anhaltende Besetzung des Landes durch die UN-Mission zur Haiti-Stabilisierung (MINUSTAH) nicht fehlen. Von manchen der links- oder Mitte-links-regierten Staaten wird das aber deshalb unterlassen, weil es eben sie - unter brasilianischer Führung - sind, die das Gros der Besatzer stellen. Und im Entkolonisierungsausschuss der Vereinten Nationen ist, vorwiegend dank Kuba, jährlich vom USA-annektierten Puerto Rico die Rede, aber wenig wird von Aruba, Curaçao, Bonaire, Guadeloupe, Martinique oder Französisch-Guayana geredet.

Diese Limitierung der Lateinamerikaner (per Definition die in ehemals spanischen oder portugiesischen Kolonien Lebenden) auf das eigene Problem ist in gewisser Weise hausgemacht, denn sie hat ihren geschichtlichen Ursprung in der Politik des Libertador Simón Bolívar selbst. Bolívar, unbestritten einer der fortschrittlichsten politisch-militärischen Führer der Befreiung, die den Ereignissen ab 1809/10 folgte, war weniger Moralist, der einer Einbeziehung aller Völker das Wort geredet hätte, sondern vielmehr Pragmatiker, der die Widersprüche der europäischen Mächte nutzte. Für die Unterstützung Großbritanniens im Kampf gegen die Spanier war er bereit Nicaragua den Briten zu überlassen, und der politisch-wirtschaftliche Einfluss Großbritanniens konnte sich so über die karibischen Kolonien wie Jamaika oder Barbados durch das 19. Jahrhundert nach Lateinamerika ausdehnen. Das Empire hielt, trotz des größer werdenden Einflusses der USA, bis 1964 mit Britisch-Guyana sogar noch eine Kolonie in Südamerika. Natürlich war das nicht in Bolívars Interesse, aber es ist auch nicht hilfreich die Bolívarsche Geheimdiplomatie zu verschweigen, wie es heute gern getan wird, um ihn auf den unbestreitbaren sozialen und politischen Aspekt zu limitieren. Im Gegenteil: Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Befreier ohne Hilfen des britischen Empire hätten durchsetzen können. So zu handeln, war zu dem Zeitpunkt richtig, und wäre nicht die Strategie des Lateinamerikanismus (lateinamerikanische Nation statt Nationalstaaten) beim Kongress von Panama 1826 gescheitert, hätten auch die Briten und - nach ihrer weltgeschichtlichen Ablösung durch den US-Imperialismus - auch die USA in Lateinamerika nicht Fuß fassen können. Leider zeigte aber der Kongress von Panama (2) selbst, dass diese Strategie bereits die Keimzelle für das Scheitern der Integrationsbestrebungen in sich trug. Da Bolívar zu dem Zeitpunkt noch militärisch in Hochperu, dem heutigen Bolivien, engagiert war, konnte er diese Widersprüche in Panama nicht persönlich lösen, und sein Statthalter in Bogotá, Francisco Paula de Santander, setzte sein Nationalstaatenkonzept durch.

Dem Problem des lateinamerikanischen Widerspruchs hinsichtlich ihrer Geschichte und ihres Weges zu ihrer ersten, noch unvollendeten, und ihrer möglichen - derzeit nur in Kuba durchgesetzten - zweiten Befreiung inhärent ist ihre Selbstdefinition als "Lateinamerikaner/innen". Diese kommt ganz gut zum Ausdruck, wenn z. B. in Bolivien 2009 zweihundert Jahre Freiheit vom spanischen Joch gefeiert wurden, aber Präsident Evo Morales als Aymara-Indianer dabei auf eine fünfhundertjährige Unterdrückung hinwies. Denn in keiner der neu entstehenden nationalstaatlichen Republiken wurde der ethnisch-rassistischen Zweiklassenstruktur ein Ende gesetzt; allenfalls formal, nicht aber in der Praxis. Bolívar und einige der anderen Befreier hatten die volle Gleichstellung der amerikanischen Ureinwohner vorgesehen, aber weder die den "Criollos" (in Amerika geborene Nachfahren von Spaniern) innewohnenden Vorurteile und noch weit weniger ihre wirtschaftlichen Erwägungen einerseits, noch die Skepsis der Ureinwohnerschaft hinsichtlich der neuen Herrscher andererseits waren dazu geeignet, in dieser Frage Gerechtigkeit herzustellen. Immerhin waren die nun herrschenden Schichten zuvor Teile des Statthaltersystems der Spanischen Krone gewesen, und ihr Interesse war mehrheitlich nicht ihre gerade gewonnenen Privilegien mit denen zu teilen, die von ihren Vorfahren noch als Minderwertige verfolgt und dann als Feld- und Minenarbeiter durchweg ausgebeutet wurden. Die neu entstehende Bourgeoisie konnte dieses Interesse demnach gar nicht gehabt haben; die aus Frankreich herüberschwappenden Ideen des Liberalismus hatten schon für Haiti kaum Liberté und keine Egalité und schon gar nicht Fraternité gebracht. Noch weniger konnten sie das in die spanischen Kolonien bringen, da sich im Stammland Spanien die Monarchie trotz napoleonischer Besatzung halten konnte und wo die Katholische Kirche jahrhundertelang die Erziehung und das Bewusstsein der "Hidalgos", der Adligen, geprägt hatte. Was auf das ehemals spanische Amerika zukam, war ein politischer Liberalismus, der auf die eigene Staatlichkeit und ansonsten in reinem Eigeninteresse auf die Nutzbarmachung der existierenden Wirtschaftsbeziehungen zu Europa begrenzt war. Auch Simón Bolívar war ein Verfechter des Freihandels, der sich allerdings im Gegensatz zu heute nicht nur auf gleichen Rechten gründete, sondern vor allem auf einer damit einhergehenden Entwicklung der Produktivkräfte auch in Amerika.

Das Verhältnis der Criollos zu den Indianern war also von den "Gritos de Independencia" zunächst gar nicht, und von den dann notwendigen militärischen Auseinandersetzungen kaum berührt worden. Allenfalls als soldatisches Fußvolk wurden die Ureinwohner - mehr oder weniger freiwillig - gebraucht, und ihre Situation änderte sich über das Papier hinaus nicht, auf dem die Verfassungen geschrieben wurden. Kuba hatte mit der Revolution leider keinen Nachweis einer anderen Politik führen können, weil dort die Ureinwohner lange vernichtet waren. In mehreren lateinamerikanischen Staaten (vor allem im Andenraum wie in Kolumbien, Ecuador oder Peru) brachten Landreformen im 20. Jahrhundert den indianischen Gemeinden Verbesserungen, die dann schrittweise wieder zurückgenommen wurden. Hilfreich waren universale Bestimmungen, wie die ILO-Artikel zum Recht der Ureinwohner über ihren angestammten Landbesitz. Es sollte bis zur Bolivarianischen Revolution in Venezuela mit ihrer Verfassung des Jahres 2000 dauern, bis den wenigen dort verbliebenen Ureinwohnern vollständige Rechte gegeben wurden, auch bezogen auf Sprache und Kultur. Heute ist Bolivien Vorreiter der fortschrittlichsten Entwicklung, bedingt vor allem dadurch, dass es dort den höchsten indianischen Anteil an der Bevölkerung gibt, was sich 2005 mit der ersten Wahl eines Indigenen in das Präsidentenamt manifestierte.

Der erwähnte Widerspruch zwischen 300 oder 500 Jahren Unterdrückung ist also eine politisch-ethnische Auseinandersetzung. Fragt man heute in Lateinamerika nach der Identität, so würde sich kaum jemand finden, die oder der sich dabei noch auf Spanien bezieht. Unter dem Begriff "Latino" fassen sich gern die Nachfahren der Kolonisatoren, aber schon weit weniger die Indígenas. Mit den nachkolonialen Jahrhunderten hat sich bei den Criollos - und auch bei den Bourgeoisien, die sich ebenfalls auf Bolívar beziehen - eher eine Denkweise herausgebildet, in der sie sich als Opfer der Spanier betrachten, seit dem vorigen Jahrhundert natürlich auch mit einer Opferrolle gegenüber dem Imperialismus vermischt, hier in Gestalt des "Yankee"-Imperialismus. Während die erstere mit einer gewissen Portion Verdrängung zu tun hat, ist die zweite Definition korrekt, weshalb diese von den lokalen Bourgeoisien auch nicht umfassend geteilt wird.

Wenig berücksichtigt wird auch, dass die seit dem 16. Jahrhundert nach Amerika versklavten Schwarzen bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf ihre formelle Befreiung warten mussten, obwohl König Petión von Haiti 1816 die logistisch-militärische Unterstützung für Bolívars Pläne an die Abschaffung der Sklaverei bedingt hatte. Zweihundert Jahre nach der Befreiung von Spanien und Portugal herrscht in den lateinamerikanischen Ländern immer noch Rassismus, auch bei Indianern und Schwarzen untereinander.

Bei den Indígenas hat es mit den unterschiedlichen Sichtweisen auf die 500-Jahr-Feiern 1992 - von den damaligen Regierungen unter Auslassung der kolonialen Vernichtung zur "Begegnung zweier Welten" phantasiert - einen Aufschwung der Suche nach Identität gegeben, die sich seitdem in neuem Selbstbewusstsein manifestierte. Heute sind als deren Hauptausdrucksformen einerseits die mehrheitliche einer Suche nach Gleichberechtigung innerhalb der Staatlichkeit, andererseits eine minoritäre, die ein "Amerika den Indigenen" fordert, zu beobachten. Gesucht wird heute eben die "Dignidad" - die Würde.


Anmerkungen:

(1) Die Versuche einer Vernichtung der araukanischen Indianer, aus denen später die heute noch unterdrückten Mapuche hervorgingen, werden in chilenischen Geschichtsbüchern noch heute beschönigt.

(2) Mehr in UZ vom 23.6.2006
(http://www.dkp-online.de/internat/amerika/latam/382503t1.htm)


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Die Ereignisse der Jahre 1809 und 1810, als die örtlichen Statthalter der Spanischen Krone in den Vizekönigreichen für abgesetzt erklärt wurden, zogen über eineinhalb Jahrzehnte andauernde militärische Auseinandersetzungen nach sich. Spanien war seit 1808 in der Folge der napoleonischen Kriege französisch besetzt; in Chile und Argentinien waren die Umstürzler daher zunächst in Abgrenzung zur französischen Herrschaft über den Madrider König aufgestellt. Erst in Quito wurde 1809 die Unabhängigkeit erklärt. Spanien versuchte nach der Restaurierung der monarchischen Herrschaft Fernandos VII. ab 1814 mit aller Macht seine Kolonien in Amerika zu verteidigen. Mit der Schlacht von Ayacucho (Peru) waren die Spanier 1824 auch in ihrer letzten Bastion in Mittel- und Südamerika besiegt worden, nachdem sie das nordamerikanische Florida 1819 an die USA verkauft hatten; in der Karibik dauerte ihre Präsenz noch bis 1898.

Chile:
18. September 1808: In Santiago bildet sich ein Rat, der gegen die Entmachtung von Spaniens König Fernando VII durch Napoleon rebelliert, sich bald entzweit und in der Folge republikanische Staatsformen und ein eigenes Heer einführt. Der militärische Befreier Bernardo O'Higgins vollendet mit seinem Heer die nationale Eigenständigkeit Chiles zwischen 1814 und 1817.

Bolivien:
Im Mai 1809 gab es einen Aufstand in Chacras, dem heutigen Departement Chuquisaca, dem im Juli die Absetzung der Kolonialregierung in La Paz folgte. Das heutige Bolivien gehörte als Hochperu zum Vizekönigreich La Plata. Voraus ging der bis dato bedeutendste indianische Kampf 1780/81, der unter der Führung von Tupac Amaru II. bis zu seiner Niederschlagung hunderttausend Menschen in 24 Provinzen vereinte.

Ecuador:
10. August 1809: Die Criollos um Montúfar, die von den emanzipatorischen Idealen von Eugenio Espejo inspiriert waren, erklären in Quito den ersten Schrei nach Unabhängigkeit, und formieren mit Unterstützung aus dem Volk eine Provisorische Regierung gegen den Vorsitzenden der Königlichen Audienz, Ruiz de Castilla. Die Regierungsjunta wurde bald gestürzt und ein Jahr später wurden die Anführer und dreihundert Unterstützer/innen ermordet.

Venezuela:
19. April 1810: Die anstehende Neubesetzung der politischen Führung der "Capitanía Caracas" durch den spanischen Statthalter Emperán wird nicht anerkannt. Die Regierungsjunta übernahm die Behörden, entwickelte internationale Beziehungen und rief zu einem verfassunggebenden Kongress auf. Dem Befreier Miranda folgt der junge Simón Bolívar, dessen Truppen zwischen 1819 und 1824 weite Teile Südamerikas befreien.

Argentinien:
25. Mai 1810: In Buenos Aires wird das Vizekönigreich La Plata für beendet erklärt, Vizekönig Baltasar de Cisneros abgesetzt und eine Regierungsjunta gegründet. Als militärischer Führer der Aufständischen erreicht José de San Martín auf dem Weg der Befreiung auch Chile und Peru und gibt im Mai 1822 das Oberkommando der militärischen und politischen Befreiung bei ihrem historischen Zusammentreffen in Guayaquil an Simón Bolívar.

Kolumbien:
20. Juli 1810: In Bogotá beginnt der Aufstand der Criollos gegen die koloniale Unterdrückung. Vorangegangen waren im 18. Jahrhundert bewaffnete Aktionen in vielen Teilen des Vizekönigreichs Bogotá, die Massaker der Spanier zur Folge hatten. Mit der Schlacht von Boyacá war dieses Vizekönigreich 1819 das erste befreite in Spanisch-Amerika.

Mexiko:
16. September 1810: Der Priester Miguel Hidalgo y Castilla, "Oberster General Amerikas" stieß mit dem Läuten der Kirchenglocken den "Schrei von Dolores" aus, der den bewaffneten Aufstand gegen die Regierung bedeutete. Am 6. Dezember 1810 erklärte sein Dekret die Abschaffung der Sklaverei.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 11,
19. März 2010, Seite 9
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2010