Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE

PORTRAIT/015: Franz Boas - Als Eskimo mit den Eskimos leben (epoc)


epoc 4/09
Geschichte · Archäologie · Kultur

»Als Eskimo mit den Eskimos leben«

Von Alexander Grau


Kultur ist nicht durch die Rasse bedingt, sondern eine Reaktion auf die Umwelt, postulierte der Begründer der modernen Anthropologie, Franz Boas, nach Expeditionen in die Arktis. Eine Erkenntnis, die Kritik erntete - nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland.


»Das Verhalten eines Volkes wird nicht wesentlich durch seine biologische Abstammung bestimmt, sondern durch seine kulturelle Tradition. Die Erkenntnis dieser Grundsätze wird der Welt und besonders Deutschland viele Schwierigkeiten ersparen.« Am 30. Juli 1931 richtete ein betagter Jubiliar diese mahnenden Worte an die Gäste im Auditorium der Universität Kiel: Franz Boas, Jude, Wegbereiter der Ethnologie und der modernen Anthropologie, zu diesem Zeitpunkt bereits Emeritus der New Yorker Columbia University. 50 Jahre davor hatte er an der Hochschule promoviert, nun wollte man ihn feiern. Doch der 73-Jährige ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, eine Entwicklung anzusprechen, die ihm Sorge bereitete: das Erstarken des Nationalsozialismus. Er sah in dieser Ideologie eine Krankheit, die Deutschland infolge des Ersten Weltkriegs befallen hatte, und deren Ziel es war, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die Errungenschaften der Aufklärung durch pseudowissenschaftliches Gefasel und Rassenwahn zu ersetzen. Leidenschaftlich argumentierte Boas in seinem Vortrag gegen die Vorstellung, kulturelle Unterschiede seien biologisch bedingt, bewiesen überdies die natürliche Überlegenheit - beziehungsweise Minderwertigkeit - einer Rasse. Geradezu als Hohn muss er es wohl empfunden haben, als nur wenige Jahre später Deutsche seine Ideen verdrehten, um den Nationalsozialismus als notwendige Entwicklung der deutschen Kulturgeschichte erscheinen zu lassen.

Franz Boas wurde am 9. Juli 1858 im westfälischen Minden als drittes von sechs Kindern geboren. War der Urgroßvater noch streng im Glauben verwurzelt, hatten sich Franz' Eltern längst davon abgewandt. Sie waren typische Vertreter einer Generation von Juden, die sich den Idealen der Aufklärung und der Weimarer Klassik verbunden sahen und als Teil eines liberalen Bürgertums fühlten. Finanzielle Sicherheit gehörte zu dessen Maximen, Franz sollte deshalb nach dem Abitur in die Fußstapfen des Vaters treten und den Beruf des Kaufmanns erlernen. Und wenn er doch studieren wollte, dann die einträgliche Medizin. Der Junge aber träumte von den Naturwissenschaften. Wohl unter dem Eindruck der deutschen Polarexpeditionen 1868 und 1869/70 faszinierten ihn überdies die arktischen Zonen.

Schließlich gab der Vater nach, und am 15. April 1877 bestieg der 19-Jährige den Zug nach Heidelberg, um dort Physik, Geografie und Philosophie zu studieren: »Ich sah so lange noch meine gute alte Vaterstadt, bis die Marienkirchturmspitze hinter den Portabergen verschwand, und dann sah ich auch diese Berge, die ich so oft durchstreifte, für lange Zeit zum letzten Mal«, schrieb er etwas pathetisch nach Hause.

Am Neckar hielt es Boas aber nur ein Semester lang, er wechselte noch im gleichen Jahr an die Universität Bonn. Dort lernte er den Geografen Theobald Fischer kennen, der sich durch seine Erforschung der Mittelmeerländer einen Namen gemacht hatte. Als dieser zwei Jahre später einen Ruf an die Universität Kiel erhielt, ging Boas mit. Denn obgleich er dort noch im Fach Physik promovierte, galt sein berufliches Interesse längst der Geografie.

Diese Passion zeigte sich auch in einer Bewerbung an der Johns Hopkins University in Baltimore. Boas gab als Forschungsziel an, er wolle studieren, ob die Wanderungsbewegungen der Eskimos von den physikalischen Bedingungen der Umgebung abhängig seien. Allerdings hatte der Antrag wohl zu einem Gutteil private Gründe - Boas war verliebt. Während eines Urlaubs hatte er Marie Krackowitzer kennen gelernt, die Tochter eines Wiener Revolutionärs, der in die Vereinigten Staaten emigriert war. Auch wenn Boas Stellengesuch keinen Erfolg hatte, blieb die transatlantische Verbindung bestehen und sollte viele Jahre später in die Ehe münden

Im Oktober 1882 wechselte Boas an die Universität Berlin, um von dort aus sein Vorhaben voranzutreiben: eine Reise in die Arktis; Ziel war die südwestlich von Grönland gelegene Insel Baffin, in der Sprache der Inuit Qikirtaaluk genannt (siehe Karte S. 68). Kühn bat er Rudolf Mosse, den einflussreichen Besitzer und Herausgeber des »Berliner Tageblatt«, um finanzielle Unterstützung. Vermutlich erhoffte dieser sich einen Werbeeffekt, denn die deutschen Polarexpeditionen waren 20 Jahre zuvor mit großem Interesse von der Öffentlichkeit verfolgt worden. Boas erhielt 3000 Mark, Mosse eine 15-teilige Artikelserie.


Akribische Reisevorbereitung

Um dem eigenen wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden, übte der Forscher in den nächsten Monaten das kartografische Zeichnen und studierte Fotografie an der Technischen Hochschule, er eignete sich Kenntnisse in Meteorologie und Astronomie an, und erlernte Grundlagen des Dänischen und des Inuktitut, der Sprache der Inuit. Bei Rudolf Virchow, dem großen Mediziner der Berliner Charité, belegte Boas Kurse im anthropologischen Messen, zudem arbeitete er in der arktischen Sammlung des Museums für Völkerkunde. Dessen Direktor und Mitgründer, der Ethnologe Adolf Bastian, machte den jungen Wissenschaftler mit Georg von Neumayer bekannt, dem Nestor der deutschen Polarforschung und Direktor der Deutschen Seewarte in Hamburg. Dieser beantwortete bereitwillig alle Fragen zur notwendigen Ausrüstung, Unterkunft und Versorgung.

Als Basislager kamen zwei winterfeste Stationen im Cumberlandsund in Frage: entweder die deutsche Polarforschungsstation Kingawa oder die schottische Walfangstation auf der im Sund gelegenen Insel Kerkerten; die Entscheidung würde erst vor Ort fallen, denn auch während der Sommermonate verhinderte das Eis jeden Kontakt mit den Niederlassungen, die aktuelle Lage war also unklar. Sicherlich würde Boas bereits dort Eskimos treffen, denn die ständig besetzten Stationen beschäftigten Einheimische als Jäger und Führer. Doch Boas wollte auch zu abgelegenen Dörfer vorstoßen, um unverfälschten Alltag der Inuit zu erleben. Da ihm keine Mannschaft zur Verfügung stand, er folglich mit leichtem Gepäck reisen musste, plante er enthusiastisch, »als Eskimo mit den Eskimos zu leben, mit ihnen zu jagen und zu fischen«.

Am 20. Juni 1883 verließ Boas, begleitet nur von seinem Diener Wilhelm Weike, an Bord des Forschungsschiffs »Germania« den Hamburger Hafen und erreichte, nach sechs Wochen Festsitzen im Packeis, Ende August sein Ziel. Boas Plan sah zwei Expeditionsphasen vor. Weil Kingawa mit Eintreffen der »Germania« geschlossen wurde - die Stationsbesatzung kehrte mit dem Schiff in die Heimat zurück -, nahm er auf Kerkerten Quartier. An Bord der »Germania« reisten auch Artikel für das »Berliner Tageblatt«, Briefe an die Familie und an Marie Krackowitzer; in der Folgezeit hatte der Forscher noch zweimal die Gelegenheit, Post nach Deutschland zu schicken.


Zuflucht bei den Inuit

Mit den Inuit kam Boas zum ersten Mal beim Einlaufen in den Hafen von Kerkerten in Kontakt - und war keineswegs sonderlich erfreut. Den Berliner Lesern bekannte er: »Die kleinen krummbeinigen Gesellen, welche lachend und kauend auf dem Verdeck des Schiffs herumgingen, ihre langen, schwarzen Haare, die platten Gesichter und triefenden Augen machten einen abschreckenden Eindruck.« Auch der Besuch eines Sommerlagers der Eskimos ernüchterte den jungen Forscher: »Wir waren noch nicht allzu nahe gekommen, als sich die Zelte durch einen bedenklichen Geruch bemerkbar machten, der von gegerbten Seehundfellen ausströmte.«

Mit einem Walfängerboot erkundete Boas in der ersten Expeditionsphase den Cumberlandsund und nahm zahlreiche geografische und metrologische Messungen vor. Dabei waren fast immer Wilhelm Weike und der als Führer angeheuerte Eskimo Ssigna, von den Schotten Jimmy genannt. Wenn Eis und Wind es zuließen, segelten sie, meist aber mussten sie sich in die Riemen legen. Nach seinem ersten Ausflug Ende September schrieb Boas an seine Familie: »Am 23ten kamen wir wieder und wir hatten an dem Tage zwölf Stunden zu rudern, da könnt ihr denken, wie müde ich war.«

Kurz vor Weihnachten unternahm der Forscher seine erste Expedition mit einem Hundeschlitten. Sie wurde zu einem einschneidenden Erlebnis und sollte seine Haltung gegenüber den Einheimischen verändern. Sein Ziel war Anarnitung, eine Siedlung im Norden der Meerenge. Am 12. Dezember brach die Gruppe auf. Die Temperaturen erreichten tagsüber nur noch bis zu 45 Grad unter null, die langen Nächte verbrachten sie in Iglus, die »Jimmy« baute. Doch drei Tage später setzte heftiger Schneefall ein, und sie mussten einen Großteil des Brennmaterials und Proviants in ihrem letzten Lager zurücklassen - der schwere Schlitten wäre bei voller Beladung im lockeren Neuschnee immer wieder versunken. Dann sank die Temperatur auf minus 55 Grad und zwang die Gruppe, in einem Iglu besseres Wetter abzuwarten.

Doch die Nahrung wurde knapp, eine Jagd auf Seehunde war nicht mehr möglich, denn die Munition war aufgebraucht. Obendrein blieb ein Versorgungsschlitten aus, den die Walfangstation schicken sollte, denn bei diesem Schneetreiben kam auch er nicht mehr durch. Boas beschloss, das Risiko einzugehen und zu der immer noch 35 Kilometer entfernten Eskimosiedlung aufzubrechen. Unterwegs mussten sie erneut pausieren: Dichter Nebel war aufgekommen und selbst der Inuit verlor die Orientierung. Erst als die Sicht wieder frei war und der Mond den Weg erhellte, marschierten sie weiter. Nach 26 Stunden erreichte die Gruppe endlich Anarnitung (siehe Karte links), völlig erschöpft, hungrig und durchgefroren.

Dort wurden sie herzlich aufgenommen und versorgt. Boas war von der Gastfreundschaft der Eskimos überwältigt. »Ich frage mich oft, welche Vorzüge unsere Gesellschaft vor den so genannten Wilden hat und finde, je mehr ich von ihren Gebräuchen sehe, dass wir wirklich keinen Anlass haben, verächtlich auf sie herabzusehen.«

Da sich Weike Erfrierungen zugezogen hatte, kehrte der Forscher ohne ihn nach Kerkerten zurück. An Heiligabend traf er in der Station ein und machte sich am zweiten Weihnachtsfeiertag wieder auf den Weg, um seinen Diener abzuholen.


Feldstudie im ewigen Eis

Nach 16 Fahrten innerhalb des Sunds begann im Mai 1884 die zweite Expeditionsphase. Boas und sein Diener folgten Baffins Ostküste Richtung Norden bis zur Inuitsiedlung Siorartijung, die sie am 4. Juli erreichten. In diesen Monaten hatte er weit mehr Gelegenheit als bisher, die sozialen Strukturen und die Sprache der Eskimos zu studieren. Insbesondere ihr geografisches Wissen dokumentierte er ausführlich. Wie Boas feststellte, spiegelten vor allem Ortsnamen historische Siedlungsräume und Wanderungsbewegungen sowie die Verbreitung und Nutzung von Ressourcen. Sie lieferten damit wichtige Anhaltspunkte für seine Untersuchung der Mensch-Umwelt-Beziehung in der Arktis.

Ende Juli kehrten die beiden Deutschen wieder zurück ins Basislager, dann begann das sehnsüchtige Warten auf ein Walfängerschiff. Am 26. August war es endlich so weit. Über Neufundland reisten sie nach New York. Während Weike umgehend nach Deutschland zurückkehrte, blieb Boas bei Marie Krackowitzer, mit der er inzwischen verlobt war. In den USA verfasste er auch die letzten Artikel für seinen Berliner Sponsor. Erneut bemühte er sich um eine Anstellung, wiederum erfolglos.

Als Geograf war Boas in die Arktis aufgebrochen, doch als Anthropologe kehrte er zurück. Mehr noch: Auf Baffin Island hatte der junge Wissenschaftler die methodischen Grundlagen der modernen ethnologischen Feldforschung gelegt. Er führte die teilnehmende Beobachtung ebenso ein wie systematische Interviews, kartierte präzise und sammelte akribisch Erzählungen der Einheimischen, die nur mündlich tradiert wurden. Anders als zu seiner Zeit üblich verfolgte Boas einen »kulturökologischen « Ansatz, der die Kultur eines Volkes als Produkt einer spezifischen Mensch-Umwelt-Beziehung begreift.

In die Arktis sollte er nie wieder zurückkehren. Denn während er in erlin an seiner Habilitation arbeitete, lernte er Bella-Coola-Indianer kennen, die mit der Hagenbeck'schen Völkerschau in die Stadt gekommen waren. Nun erwachte ein Interesse an den Völkern der Kanadischen Pazifikküste.

Ein wohlhabender Onkel ermöglichte ihm nun endlich, in die Vereinigten Staaten zu übersiedeln. Im Auftrag der British Association for the Advancement of Science reiste er im Herbst 1886 zu den Kwakiutl auf Vancouver Island, einer Insel vor der Westküste British Columbias (Kanada). Es folgten zwölf weitere Forschungsreisen, unter anderem im Rahmen der berühmten »Jesup North Pacific Expedition«, deren Leitung und Planung Boas von 1897 bis 1900 innehatte. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob die Indianer einst aus Sibirien eingewandert waren.

Der Anthropologe war vom gedanklichen Reichtum und der Vielfalt der indianischen Kultur fasziniert. In den mündlichen Überlieferungen, die er sammelte und veröffentlichte, wie in den Ritualen der Kwakiutl (siehe Bild oben) offenbarte sich seines Erachtens eine komplexe Spiritualität. Energisch trat er dem gängigen Klischee vom Indianer als eher primitivem Jäger und Sammler entgegen.

Auf Grund seiner hervorragenden wissenschaftlichen Qualifikation arbeitete er in den ersten Jahren in den Staaten außerdem als Redakteur der Wissenschaftszeitung »Science«, ab 1892 assistierte er dem in Harvard lehrenden Anthropologen Frederik Putnam bei Planungen zur Weltausstellung in Chicago 1893. Doch seine Idee, im Rahmen eines anthropologischen Pavillons einen wissenschaftlich fundierten Einblick in das Leben der Indianer zu vermitteln, musste Boas bald aufgeben: Im Zuge der Vorbereitungen schrumpfte die dafür zur Verfügung gestellte Fläche mehr und mehr. Eine ähnliche Erfahrung machte er zwei Jahre später als Kurator für Ethnologie und Somatologie im American Museum of Natural History in New York. Dort widmete er eine große Halle den Kulturen der amerikanischen Nordwestküste, doch weder der Museumsdirektor noch der Stifter zeigten Interesse, diese Sammlung systematisch zu erweitern.

1899 erhielt Franz Boas schließlich den Lehrstuhl für Anthropologie an der Columbia University, den er bis zu seiner Erimitierung 1936 bekleidete. Seine wichtigste Aufgabe sah er zunächst darin, eine Studienordnung auszuarbeiten. Er wollte die Professionalisierung seines Fachs und dazu bedurfte es umfassend ausgebildeter Studenten. Zudem engagierte er sich in der Bürgerrechtsbewegung und kämpfte gegen die Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung. In Artikeln und Vorträgen widerlegte er pseudowissenschaftliche Argumente über die mangelnde Intelligenz der Farbigen - die sozialen Umstände der meisten Schwarzen seien nicht auf angeborene Dummheit und Faulheit, sondern vor allem auf die Folgen der Sklaverei und den Verlust ihrer kulturellen Traditionen zurückzuführen.


Allen Anfeindungen zum Trotz

Im Jahr 1911 erschien sein Buch »The Mind of Primitive Man«. Darin fasste der Forscher alle wissenschaftlichen Argumente gegen rassistische Theorien zusammen und analysierte zugleich die Ursachen für entsprechendes Gedankengut - ein bis heute lesenswertes Buch, das eine zeitgemäße Übersetzung verdient hätte. Drei Jahre später kam es unter dem Titel »Kultur und Rasse« in Deutschland auf den Markt, doch für Boas war dieses Jahr vom Eintritt des Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg überschattet. Auf das Schärfste verurteilte er die Ambitionen seiner Heimat, gleichzeitig war er bemüht, das Seinige zu tun, um einen Kriegseintritt der USA gegen Deutschland zu verhindern und der aufkeimenden antideutschen Stimmung im Land entgegenzuwirken. Und allen Anfeindungen zum Trotz protestierte er nach Kriegsende gegen die harten Bedingungen des Versailler Vertrages, da »die Friedensbedingungen nicht den Keim zukünftiger Kriege beinhalten dürften«.

Seinem Eintreten für die Afroamerikaner stand man noch meist positiv gegenüber, das prodeutsche Engagement brachte Boas Feinde ein. Als er 1919 öffentlich die Spionagetätigkeit amerikanischer Forscher während des Kriegs in Mexiko kritisierte - mit dem Argument, sie hätte künftige Forschung dort gefährdet - wurde er nach heftigen Debatten aller Ämter der von ihm gegründeten American Anthropological Association enthoben.

Das Aufkommen des Nationalsozialismus dürfte den Gelehrten in mehrfacher Hinsicht betroffen haben: als deutschen Patrioten jüdischer Herkunft, als Liberalen und als Wissenschaftler, der sein Leben dem Kampf gegen Rassismus gewidmet hatte. Am 27. März 1933, drei Tage nach der Verkündung des Ermächtigungsgesetzes, das Hitlers Regierung erlaubte, ohne jede parlamentarische Kontrolle Gesetze zu erlassen, schrieb Boas in einem offenen Brief an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg: »Ich habe mich immer mit Stolz einen Deutschen genannt, heute ist es fast so gekommen, dass ich sagen muss, ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.«

Boas prominentester wissenschaftlicher Gegner in Deutschland war Eugen Fischer, der Begründer des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Fischer versuchte schon lange vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, die Idee minder- oder höherwertiger Völker auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen. 1932 trat er in die NSDAP ein und befürwortete mit Nachdruck die drei Jahre später erlassenen Nürnberger Rassengesetze, die beispielsweise eine Ehe zwischen Juden und Nichtjuden verboten. Doch wer Jude sei und wer nicht, war keineswegs so sicher zu sagen, wie es die Nationalsozialisten gern gehabt hätten. Ein Dogma des wissenschaftlichen Rassismus, die Aussagekraft des »Zephalindex«, war von Boas widerlegt worden. Im Auftrag amerikanischer Behörden hatte er von 1908 bis 1910 die Schädel von 18.000 Einwanderern und deren Kindern vermessen. Sein Ergebnis: Unter dem Einfluss der neuen Lebensumstände veränderte sich die Schädelform schon in der ersten Generation. Fischer stimmte Boas' Kritik an der Methode zu: »Die Ansichten des Herrn Boas sind teilweise sehr geistreich.« 1941 gab er sogar eine vergleichbare Studie bei ostjüdischen Immigranten in Auftrag und kam zum gleichen Ergebnis. Damit war für den Eugeniker aber nicht der Rassismus, sondern lediglich die gängige wissenschaftliche Methode in Frage gestellt.

Ab 1942 leitete Otmar von Verschuer das Institut und setzte die Arbeiten seines Vorgängers konsequent menschenverachtend fort. Unter anderem schickte ihm sein Assistent Josef Mengele 200 Blutproben aus dem KZ Auschwitz. Aus dem Serum hoffte Verschuer wohl eindeutigere Rassenmerkmale zu gewinnen. Anders als der berüchtigte KZ-Arzt Mengele musste er nicht fliehen, sondern wurde dank der Unterstützung durch den Nobelpreisträger Adolf Butenandt und guten Kontakten zur evangelischen Kirche rehabilitiert. 1951 erhielt er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Humangenetik der Universität Münster.


»Einer der letzten Geistesriesen«

Angesichts dieser Kontinuitäten in der deutschen Wissenschaftslandschaft ist es nicht überraschend, dass Boas' Werk hier zu Lande nach 1945 kaum mehr wahrgenommen wurde. Einzig »The Mind of Primitive Man« erschien 1955 in neuer Übersetzung in einem kleinen Berliner Verlag unter dem Titel »Das Geschöpf des sechsten Tages«.

Ganz anders stellt sich die Situation im Ausland dar, insbesondere in den USA. Dort erinnert man sich an Boas als Begründer einer akademischen Disziplin, der auch eine Reihe von Nachbarfächern der Anthropologie beeinflusst hat. Eine Vielzahl von Schülern sorgt überdies dafür, dass die Erinnerung an diesen leidenschaftlichen Humanisten nicht verloren geht, darunter auch die Ikone der Studentenbewegung Margaret Mead. Als Boas am 21. Dezember 1942 während eines Treffens mit Fachkollegen einen Schlaganfall erlitt und verstarb, war auch Claude Lévi-Strauss zugegen, einer der bedeutendsten Ethnologen und Anthropologen der Nachkriegszeit. In einem Interview nannte er Franz Boas den »Letzten unter den Geistesriesen, die das 19. Jahrhundert hat hervorbringen können und wie wir sie wahrscheinlich niemals wieder sehen werden.«


Der promovierte Philosoph Alexander Grau ist freier Autor. Er dankt dem Kulturgeografen Ludger Müller-Wille von der McGill University (Montreal) und dem Franz-Boas-Projekt der Stadt Minden für die Unterstützung.


Literaturtipp

Hans-Walter Schmuhl (Hg.)
Kulturrelativismus und Antirassismus
Der Anthropologe Franz Boas (1858 - 1942)
[Transcript, Bielefeld 2009]
www.science-shop.de/epoc


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1:
Franz Boas als Eskimo: Für ein Erinnerungsfoto, entstanden um 1885 in einem Studio in Minden, legte der junge Forscher Kleidung an, wie er sie auf seiner Arktisexpedition (1883 - 1884) getragen hatte.

Bildunterschrift 2:
Von der Walfangstation Kerkerten aus unternahm Franz Boas von 1883 bis 1884 gemeinsam mit seinem Diener Wilhelm Weike zwei Expeditionen im Bereich des Cumberlandsund, die sein Leben als Wissenschaftler veränderten. Sie nahmen unter anderem geografische Messungen vor und studierten die Sozialstruktur der Eskimos.

Bildunterschrift 3:
Im Sommer 1883 reiste Boas (Bildmitte) an Bord der »Germania« in die Arktis. Das Schiff war 1869 für die zweite deutsche Nordpolarexpedition gebaut worden - die ein großes Medienecho ausgelöst hatte.


ZUSATZINFORMATIONEN:

Potlatch

Das Ritual des Schenkens, der »Potlatch«, festigte die Stellung eines Häuptlings an der Nordwestküste Amerikas. Anlass dazu konnte beispielsweise der Tod eines Ranghohen sein, den der Schenkende mit seinen Gaben ehrte, dabei steigerte er aber auch den eigenen sozialen Wert. Weil diese Tradition unter dem Einfluss europäischer Wertesys teme ausuferte und manchen Häuptling und seinen Stamm in den Ruin trieb, wurde der Potlatch von der kana dischen Regierung 1884 untersagt. Doch die Tradition lebte weiter. Franz Boas setzte sich dafür ein, dieses Verbot aufzuheben und veranstaltete 1894 selbst einen Potlatch.


© 2009 Alexander Grau, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


*


Quelle:
epoc 4/09, Seite 66 - 71
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69126 Heidelberg
Telefon: 06221/91 26-600, Fax 06221/91 26-751
Redaktion:
Telefon: 06221/91 26-711, Fax 06221/91 62-769
E-Mail: redaktion@epoc.de
Internet: www.epoc.de

epoc erscheint zweimonatlich.
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro,
das Abonnement 40,50 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2009