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WIRTSCHAFT/012: Europäische und globale Vernetzungen von 1780 bis 2008 (Unimagazin Hannover)


Unimagazin Hannover - Ausgabe 3/4 - 2008
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.

Innovation, Technik, Unternehmen
Europäische und globale Vernetzungen von 1780 bis 2008

Von Dr. Georg Wagner-Kyora


Globale Vernetzungen im Bereich des Warenim- und -exports bestehen seit der Antike. Von einer industriellen Massenproduktion spricht man allerdings erst seit dem 18. Jahrhundert. Ein Wissenschaftler des Historischen Seminars veranschaulicht den Weg von der technologischen Entwicklung der Dampfkraft zu den Großforschungszentren der Raketentechnologie und schließlich zu den neuen Computertechnologien.


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I. Industriegeschichte

Wendet man allein die ökonomischen Bestimmungskriterien für Handel und Produktion und damit einen weit gefassten geschichtswissenschaftlichen Begriff von »Industrie« an, dann dauert die globale Geschichte der Industrie schon weitaus länger als die letzten 250 Jahre.

Sie beinhaltet erstens die weite Streuung von Gütern des Massenbedarfs durch den Fernhandel und zweitens das Kriterium der zunehmenden Produktdiversifikation, also die stete Verbesserung der Güter entlang der Marktnachfrage. Aber in einem modernen Sinne spricht man von Industrie erst dann, wenn man drittens auch die Maschinenfertigung in großen Fabriken meint, die auf künstlichen Energieressourcen und auf standardisierten Produktionsabläufen basierte. Und diese setzte erst Mitte des 18. Jahrhunderts ein, als die Mechanisierung von Antriebsmaschinen durch die Dampfkraft ermöglicht wurde. Damit wurden natürliche Energieträger, wie die Wasserkraft und das Pferd, ersetzt.

Für die Zeitgenossen des späten 18. Jahrhunderts veränderten sich damit sichtbar die industriellen Produktionsbedingungen in den Werkstätten der Eisenindustrie, der Spinnerei und der Weberei. Sehr schnell wurde es möglich, große Fertigungsstätten zu bauen, in denen Maschinen aufgestellt wurden, die auf der neuen Energiebasis angetrieben wurden. Zunächst waren es die großen Spinnereien, in denen viele Arbeiter/innen beschäftigt wurden, die im gleichen Rhythmus Webgarn produzieren konnten. Später, in den 1830er Jahren, wurden auch die Webstühle mechanisiert und vergrößert. Sie wurden schließlich auch in größeren Fabriken zusammengefasst, wenn der Massenbedarf dies erforderte und standardisierte Webmuster nachgefragt wurden. In der Eisenindustrie blieb die Produktion an Eisenhämmern nahezu gleich, aber die Rahmenbedingungen veränderten sich fundamental. Hämmer konnten seit den 1840er Jahren mit Dampfkraft und nicht mehr nur mit Wasserkraft angetrieben werden und damit ihre Schlagzahl wesentlich erhöhen. Auch sie wurden in großen Produktionsstätten, den frühen Eisenfabriken, zusammengefasst.

Rückblickend, aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts, sprach man dann von einer »industriellen Revolution«, welche die Menschheitsgeschichte auf eine neue, bessere Entwicklungsstufe gehoben habe, weil sie dank neuer Produkte für den Massenbedarf insgesamt bessere Lebensverhältnisse mit sich gebracht habe. Daran ist immerhin so viel richtig, dass erst jetzt mittellose junge Erwachsene aus den gewerblichen Unterschichten regelmäßige selbstständige Arbeitseinkommen erzielen konnten.

Das war die Voraussetzung für die eigene Haushaltsgründung und eine Ehe in der Kleinfamilie. Vor allem aber verbesserten sich die ökonomischen Chancen der alten Handelshäuser, die das finanzielle Rückgrat der neuen Großindustrien bildeten. Neue Unternehmer-Dynastien entstanden und verdrängten zunehmende das alte städtische Kaufmannsbürgertum.

Aber die Schattenseite der Industrialisierung lag in großen Umweltbelastungen und vor allem in der extremen Gesundheitsbelastung der Arbeiter/innen durch die schädigenden Arbeitsbedingungen. Selbst ganz besonders starke und ausdauernde junge Arbeiter, die im Eisenwerk den Walzstahl mit überdimensionierten Zangen drehten so wie sie Adolph Menzel auf seinem berühmten Gemälde »Das Eisenwalzwerk« von 1875 verewigt hat (Nationalgalerie Berlin) -, wurden kaum älter als 45 Jahre, weil sie spätestens mit 40 Jahren völlig ausgelaugt und sprichwörtlich am Ende ihrer Kräfte waren. Innerhalb des Produktionsprozesses zählte ihre Arbeitskraft nur als Leistung, nicht als Humankapital. Von der Mechanisierung der Produktionsabläufe, die verstärkt erneut in den 1920er Jahren, so etwa mit der Fließbandfertigung in der Fertigwarenindustrie, einsetzte, hat dieser Arbeitsgang im Übrigen niemals so recht profitieren können. Noch heute wird in vielen Spezialfertigungen auf nahezu dieselbe Art und Weise Eisen gegossen und manuell gehämmert, einfach weil die manuelle Präzision über die maschinelle hinausgeht.

Auch die Erfindertätigkeit wechselte die Fronten: Waren es zuerst und über lange Jahrhunderte vor allem die Arbeiter selbst, die Weber, die Spinnerinnen und vor allem die äußerst innovativen Eisenarbeiter in den protoindustriellen Eisengewerben, wie der Messer- und der Sensenschmiederei und -schleiferei, die Verbesserungen im Produktionsprozess einführten und ihre Verbreitung durch das Kopieren von Innovationen ermöglichten, wurden es zunehmend die Unternehmenseigner selbst, die auf Innovationen im Produktionsprozess sannen, indem sie den Maschinenpark ihrer Fabriken verbesserten.

Spätestens seit 1820 hatten Arbeiter auch gar kein primäres Interesse mehr an solchen Innovationen, weil sie ihre Arbeitsplätze, die auf manuellen Arbeitsprozessen basierten, überflüssig machten. So genannte Maschinenstürmer versuchten dann und wann in besonders explosiven Arbeitergemeinden solche Neuerungen durch die kollektive Zerstörung zu verhindern.

Heute analysiert man nicht mehr nur eine bestimmte Zeitspanne der Industrialisierung, sondern man ist dazu übergegangen, industrielle und gewerbliche Entwicklungen in unterschiedlichen Zeitphasen nach ähnlichen Entwicklungskriterien zu untersuchen.

Hierbei spielen erstens Fragen nach dem Innovationspotenzial in den Entscheidungsebenen industrieller Produktion eine zunehmend wichtige Rolle, wobei erst die Arbeiter ihre Führungsrolle an die Unternehmer und diese sie schließlich an die Ingenieure abgaben. Zweitens ist auch die Geschichte der Technikentwicklung, jene der Produktionsbedingungen und ihrer Entwicklungsdynamiken, in den Fokus des Interesses gerückt. Man fragt also danach, welche technischen Voraussetzungen Innovationen ermöglichten und welche Produkte entstanden. Welchen Einfluss nahmen darauf die unterschiedlichen Kommunikationsbedingungen innerhalb der überregional agierenden Unternehmerschaft? Und schließlich interessiert man sich drittens mehr und mehr für das jeweilige Wirtschaftsunternehmen selbst, welches diese innovativen Industrieprodukte und Produktionsweisen hervorgebracht hatte. Und zwar geschieht das nicht mehr nur als eine biographische Geschichte der vermeintlich großen Männer, welche als Firmengründer und TechnikInnovatoren ins Rampenlicht traten, sondern als eine Geschichte großer Netzwerk-Konstellationen von Technikern und Managern.

Zu denen gehörten auch die Familien-Netzwerke der vielen alten Unternehmer-Dynastien, die aus den großen städtischen und ländlichen Handelshäusern hervorgegangen waren. Viele dieser Familiengeschichten sind in Festschriften dargestellt worden, weil sie zum Traditionsbestand solcher großen Wirtschaftsunternehmen zählen. Die Geschichte ihrer Arbeiter/innen ist jedoch weithin unbeachtet geblieben und diese Tendenz, über die Entscheider und die Besitzer, aber nicht über die Produzenten und Besitzlosen zu forschen, hat sich eher noch verstärkt.

So wissen wir heute wenig über die Lebens- und Arbeitsbedingungen und auch nichts über die Innovationsfreudigkeit der Hannoverschen Arbeiterschaft in den letzten zweihundert Jahren, aber viel über Familienunternehmen aus der Sicht ihrer Eigner.


II. Fabrik-Industrialisierung 1780-1920

Dass die moderne Fabrik durch die Erfindung der Dampfkraft Mitte des 18. Jahrhunderts und durch ihre Verbesserung zum universalen Energieträger, die auf Erfindungen von James Watt in den 1780er Jahren zurück geht, ermöglicht wurde, wirft die Frage auf, welche Faktoren darauf hinwirkten, dass diese Innovation zu diesem Zeitpunkt in England auf den Weg gebracht wurde. Warum haben nicht schon die Römer oder die Chinesen die für den Massenbedarf erforderlichen Textilgüter auf maschinenbetriebenen Webstühlen hergestellt, wenn ein äußerst lukrativer transkontinentaler Markt solche Güter hätte aufnehmen können?

Max Weber, der große Soziologe, der auch über die Forschungsergebnisse der jüngeren Schule der Nationalökonomie Bescheid musste, welche die Wirtschaftsleistung in Unternehmen erforschte, argumentierte zu Beginn des letzten Jahrhunderts, es habe so etwas wie eine spezifisch westlich-europäische Rationalität des vernünftigen Wirtschaftens und Erfindens gegeben, die auf einer protestantischen Ethik des pflichtbewussten Handelns in geschlossenen Familien-Netzwerken beruhte. Sie habe schließlich die Industrialisierung durch eine Kumulation von Entwicklungsfaktoren ermöglicht.

Aber es war nicht die Konfession und auch nicht die Nation, sondern es waren schon immer Gruppen in offenen Kommunikationsräumen, welche eine dynamische Innovationsfreudigkeit in technologischen Wachstumsregionen bewirkten. Besonders begabte Individuen machten in solchen Regionen von Fall zu Fall wegweisende Erfindungen. Aber sie waren in der Regel nur dann erfolgreich, wenn sie über das erforderliche Investivkapital verfügten oder es sich leihen konnten, um ihre neue Maschinen auch zu erproben. Das setzte funktionierende Kapitalmärkte und eine bürgerliche Öffentlichkeit voraus.

Immer wirkten eine Vielzahl von Faktoren zusammen, um das Erfindergenie verschiedener europäischer Handelsherren zu stimulieren und das war während der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts nicht anders. Diese Kaufleute waren zunächst auf Produktionsmaximierung aus, um damit Geld zu verdienen und sie wollten in der Konkurrenz mit anderen bestehen können. Letztendlich konnte ein innovatives technologisches Klima für die Massenindustrie schließlich nur dort entstehen, wo bereits ältere Massenindustrien angesiedelt waren, also jene Gewerbe, die noch ohne Fabrik für überregionale Märkte produzierten, weil nur dort das entsprechende technologische und organisatorische Know-how anzutreffen war.

Solche industriellen Dynamiken gab es in Sachsen, in Süd- und Ostwestfalen, in Nordwestitalien, in Nordostfrankreich und in Nordengland sowie in Barcelona, Aachen und in anderen traditionsreichen Industriestädten.

Große Schritte in der Industrialisierungsgeschichte machten Unternehmer in jenen ländlichen Regionen und wenigen Städten, in denen Textil- und Eisenprodukte erzeugt wurden, so wie in Ostwestfalen mit seinem städtischen Zentrum Bielefeld oder in Lyon. Hier war in Jahrhunderten eine langlebige Infrastruktur technischer Kompetenz entstanden, ein industrielles Know-how, das kontinuierlich weiterentwickelt wurde.

Der Wirtschaftshistoriker Sidney Pollard hat nachgewiesen, dass die industrielle Dynamik ein weit verbreitetes Phänomen in den vielen europäischen Industrieregionen des 18. und des 19. Jahrhunderts gewesen war. Sie folgten zudem einer gleichen Rationalität und bildeten damit eine lange anhaltende Ähnlichkeit wirtschaftender Industriegesellschaften in Europa heraus. Gemeinsam war allen, dass sie Innovationen nach ähnlichen Mustern hervorbrachten, weil sie den gleichen Wachstumsdynamiken folgten.

Mit dieser protoindustriellen Rationalität, also einem spezifischen Wissen, wie man Innovationen hervorbrachte, weil man wusste, dass man sie brauchte, um im internationalen Konkurrenzkampf um Märkte bestehen zu können, wurden europäische Gemeinsamkeiten industriellen Produzierens und Wirtschaftens stabilisiert, die uns noch heute mental eng verbinden. So gab es in der nordenglischen Eisenregion von Yorkshire in und um Sheffield schon seit Jahrhunderten eine exportorientierte Massenindustrie von Messern, die man in sehr ähnlicher Weise produzierte und verkaufte wie es in den traditionellen deutschen Eisenregionen Berg und Mark - in der südlichen Ruhrregion - ebenfalls schon seit dem Spätmittelalter geschah.

Das rheinisch-westfälische Industriegebiet südlich der Ruhr sollte im frühen 19. Jahrhundert zur Keimzelle der deutschen Industrialisierung werden. Nicht zufällig entstand die erste auf Dampfkraft umgestellte Maschinenfabrik: die Eisenfabrik des Handelsherren Friedrich Harkort auf Burg Wetter. Alle Standortfaktoren hatten in diesem protoindustriellen Wachstumsraum um die südwestfälische Kleinstadt Hagen darauf hingewirkt, wobei die Unternehmensentscheidung für diese Innovation ausschlaggebend gewesen war.

Solche Protoindustrien gab es für die Seidenfertigung seit vielen Jahrhunderten in und um Lyon und deshalb war es kein Zufall, dass es ein Lyoner Kaufmann war, J.-M. Jacquard, der im Jahr 1804 den ersten maschinenbetriebenen Webstuhl erfand, während in England schon länger hochindustrialisierte Spinnmaschinen in großen Fabriken für die Massenproduktion von Baumwollgarnen eingesetzt wurden.


III. Die moderne Aktiengesellschaft und das 20. Jahrhundert

Die Tradition des europäischen Familienunternehmens, das aus dem städtischen Kaufmannsbürgertum hervor gegangen war, brach niemals ab, aber sie wurde im frühen 20. Jahrhundert erweitert durch den Siegeszug der modernen Aktiengesellschaft. Nachdem im Verlauf des 19. Jahrhunderts die großen und besonders erfolgreichen Unternehmen in den beiden industriellen Leitsektoren von Eisen und Textil so unüberschaubar große Fertigungsstätten und so weit ausgestreute, vor allem aber zunehmend fragile Handelsbeziehungen hervorgebracht hatten, nahm das industrielle Management verstärkt die Schlüsselrolle in unternehmerischen Entscheidungsprozessen ein. Damit verlagerte sich die strategische Entscheidungskompetenz von der Eignerfamilie auf das Management eines Unternehmens. Erstmals konnten im Verlauf der europäischen Industriegeschichte Nicht-Eigner aus dem aufstiegsorientierten bildungsbeflissenen Kleinbürgertum über wichtige Zukunftsentscheidungen eines großen Wirtschaftsunternehmens selbst bestimmen. Je komplizierter diese Prozesse waren, desto mehr nahm die Bedeutung ihrer Entscheidungskompetenz zu und damit auch ihr Gehalt.

Ein idealtypisches Beispiel dafür ist die »Interessengemeinschaft Farbenindustie Aktiengesellschaft«, jener Zusammenschluss mehrerer Familienunternehmen der chemischen Industrie aus dem Jahre 1925, der den weltweit größten Chemiekonzern in Frankfurt/Main ins Leben rief. Seine administrativen Spitzenpositionen in Vorstand und Aufsichtsrat nahmen prominente Firmeneigner ein, die dennoch eine große Fachkompetenz in der universitär vermittelten Fachwissenschaft der Chemie aufweisen mussten. Hatten sie diese nicht mehr, mussten sie ihren Platz allerdings für akademische Aufsteiger räumen, die nur noch durch ihr brillant absolviertes Chemiestudium ausgewiesen waren, aber nicht mehr durch das Portefeuille ihres Familien-Netzwerkes.

Innovation und Know-how wurden bei der IG Farbenindustrie AG in einem kontinuierlichen Prozess universitäts-adäquater Wissensgenerierung hervorgebracht: Alle Spitzenchemiker und auch die Ingenieure eines Werkes, ob in Ludwigshafen, Leverkusen, Merseburg-Leuna oder Schkopau-Halle, trafen sich wöchentlich im Rahmen eines gemeinsamen Wissenskolloquiums und besprachen technische Innovationen, neue Verfahren und auch betriebspolitische Entscheidungen von Rang. Man traf sich mittags im Casino und beredete Kooperationsbeziehungen zwischen den Produktionsbetrieben und die Chancen für die Erfindung neuer Verfahrenstechniken. Die daraus entstehende Praxis eines kooperativen Produktions-, Innovations- und Management-Handelns bezeichnet man als corporate governance, um ihre Ähnlichkeit mit der Praxis des staatlichen Verwaltungshandelns dieser Zeit zu betonen.

Aus diesen ungeheuer produktiven Arbeitszusammenhängen entstanden eigenständige Forschungs- und anwendungsorientierte Technikzentren, die leider ausschließlich ergebnisorientiert und damit wertneutral ausgerichtet waren. Deshalb waren sie offen für eine enge Verstrickung in die Machenschaften der NS-Kriegswirtschaft und hier vor allem in die Mordpolitik gegenüber jüdischen Zwangsarbeitern. Sie war auf der Baustelle des IG-Werkes Buna IV in Auschwitz, eines der größten Chemiewerke Europas, besonders ausgeprägt, aber auch anderswo, etwa in den Leunawerken, allgegenwärtig. Chemiker und Ingenieure waren deshalb so anfällig für eine Kooperation mit dem NS-Regime, weil sie nur an technokratischer Effizienz, nicht aber an den Werten einer modernen Zivilisationsgemeinschaft ausgerichtet waren, die an der Würde und an der Freiheit des Menschen orientiert sind. Deshalb störte sie auch nicht der Umgang mit den anti-intellektuellen NSDAP-Parteigrößen, solange diese die Großforschung durch massive Staatsinvestitionen in die Rüstungsindustrie ermöglichten.

Das Vorbild der kompakten »Think Tanks« in industrieller Großforschung wurde dann von der sowjetischen und der US-Militärforschung für die Erfindungen ihrer Raketen- und Atomtechnologie adaptiert. Nachdem die Raketentechnologie bereits gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im NS-faschistischen Deutschland in Peenemünde, das später nach Dora-Mittelbau in den Harz verlagert worden war, erstaunlich bedrohliche Fortschritte im Rahmen eines weiteren Großforschungszentrums gemacht hatte, übernahmen die Siegermächten dieses Innovationspotenzial und ließen in Deutschland eine große technologische Lücke zurück.

Auch die deutsche Raketentechnik basierte auf der Sklavenarbeit von KZ-Arbeitern, die in den riesigen Raketen-Versuchsanlagen von Peenemünde und Dora-Mittelbau zwischen 1943 und 1945 unter grauenhaften Bedingungen zu Tode geschunden wurden. Weil die USA (und auch die Sowjetunion) in diesem Innovationssektor über kein anwendungsreifes Technologiepotenzial verfügten, wurde die erste US-Mondrakete schließlich von einem deutschen ehemaligen SS-Offizier gebaut, dem deutschen Star-Ingenieur Wernher von Braun, der bis zuletzt an der deutschen V2-Bombenrakete gebastelt hatte. Mit dieser waren noch in der Endphase des Zweiten Weltkrieges mehrere Tausend Londoner umgebracht worden und große Schäden in der Stadt angerichtet worden. Braun erhielt schließlich sein eigenes Großforschungszentrum im Mittleren Westen der USA, allerdings erst ein Jahrzehnt nach Kriegsende, im Jahre 1955. Denn erst nachdem die Fortschritte der sowjetischen Raketentechnologie für die Amerikaner uneinholbar erschienen, entschlossen sie sich dazu, diesen Pakt mit ausgewiesenen NS-Wissenschaftlern einzugehen.


IV. Der Computer und das Ende der Großforschung

In den 1930er Jahren erfand ein Deutscher, Konrad Zuse, auch den Computer. Etwa 1940 lief das erste funktionierende Gerät von monumentalen Ausmaßen in seiner Berliner Wohnung - und im Bombenkrieg wurde es zerstört.

Aber die Computertechnologie für die Massennutzung wurde in den USA und nicht in Europa entwickelt und zwar nicht in den Großforschungszentren der Militärtechnologen, die dafür eigentlich prädestiniert gewesen wären, sondern von mittellosen Studenten in Kalifornien, die selbstverantwortliche, dezentrale Arbeitsgemeinschaften gebildet hatten und ihr Genie gegenseitig stimulieren konnten, weil sie permanent miteinander kommunizierten.

Diese vorläufig letzte Etappe in der langen Geschichte vorwärtsstrebender globaler Innovationstechnologien belegt erneut, dass es ohne die Entwicklungsmöglichkeiten einer freien Gesellschaft keine erfolgsorientierten Innovationsindustrien geben kann. Auch im 21. Jahrhundert bleibt die universitäre Ausbildung die essenzielle Voraussetzung, um Innovationspotenziale überhaupt erst zu begründen.

Denn nur an der Universität kann man innerhalb der Studierendenschaft jene man power rekrutieren, die für kollegiale Forschergruppen benötigt wird. Je größer dieses Potenzial angelegt ist, also je mehr Studierende es in den technischen Fächern geben wird, je breiter ihr Studium in der Anwendungs- und Grundlagenforschung diversifiziert ist und je unabhängiger, also je dezentraler die Studierenden zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Entwicklung eigenverantwortlich forschen können, desto größer wird das Innovationspotenzial einer europäischen Gesellschaft im weltweiten Maßstab auch künftig sein können. Kluge politische Reformen im deutschen Bildungswesen, ausgestattet mit dem entsprechenden finanziellen Rückhalt, könnten dieses Humankapital besser fördern helfen, aber auch kluge Innovationsstrategien der Lehrenden an den bereits existierenden Arbeitsbereichen, die ihren Studierenden mehr Freiheiten geben.


PD Dr. Georg Wagner-Kyora, Jahrgang 1962, ist Historiker an der Leibniz Universität Hannover und seit 2006 als Privatdozent am Historischen Seminar in Hannover tätig.
Kontakt: wagner-kyora@hist.uni-hannover.de


Literatur

Sidney Pollard: Peaceful Conquest. The industrialization of Europe 1760-1970, Oxford 1981.

ders. (Hg.): Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte, Göttingen 1980.

Carroll Pursell: The Machine in America. A Social History of Technology, 2nd edition, Baltimore 2007.

Joachim Radkau: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, Frankfurt/Main, Campus Verlag 2008.

Hermann-Josef Rupieper/Friederike Sattler/Georg Wagner-Kyora (Hg.), Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert, Halle 2005.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bild 1
Chemiker im Labor, 1910er Jahre. Der individuell durch seine eigenen Forschungsleistungen ausgezeichnete Chemiker dominierte das Bild des Technikers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und sicherte ihm ein uneinholbares Sozialprestige vor allen anderen zivilen Innovationsberufen.

Bild 2
Verfahrenstechniker vor Industrieanlage, 1920er Jahre. Ingenieure gewannen zunehmend an Prestige, weil sie die aufwändigen Verfahrenstechniken für die industriellen Produktionsprozesse konzipierten, die in der Chemieindustrie monumentale Dimensionen erreichten.

Bild 3
Maschinenbetriebener Websaal in den 1960er Jahren. Unter vergleichbaren Produktionsbedingungen war bereits ein Jahrhundert zuvor gearbeitet worden: Wenige Arbeiter/innen beaufsichtigten mehrere Webstühle und minimierten damit die Lohnkosten, während der Anlagenpark erhebliches Investivkapital erforderte.

Bild 4
Konrad Zuse vor dem Z3. Die Maschine Z3 wurde am 12. Mai 1941 fertig gestellt und gilt heute als der erste funktionsfähige, frei programmierbare, auf dem binären Zahlensystem und der binären Schaltungstechnik basierende Rechner der Welt.


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Quelle:
Unimagazin Hannover, Ausgabe 3 / 4 - 2008, Seite 40-44
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Leibniz Universität Hannover e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2009