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WIRTSCHAFT/013: Von Menschen und Maschinen (epoc)


epoc 3/09
Geschichte · Archäologie · Kultur

Von Menschen und Maschinen

Von Dieter Ziegler


Mit seiner Erfindung der Dampfmaschine löste James Watt die Industrialisierung aus. So die Legende. Aber weder hat Watt die Dampfmaschine erfunden noch stand sie am Anfang der Industrialisierung. Sogar ob die Ausstattung der Produktionsstätten mit Maschinen überhaupt eine industrielle »Revolution« war, ist unter Forschern umstritten.


»Die Dampfmaschine war der Prinz, der das Dornröschen Industrie aus ihrem Schlummer erweckte«, schrieb der Begründer der modernen Technikgeschichte Conrad Matschoß 1901 und gab damit einer weit älteren Legende über die Anfänge der Industrialisierung in Europa ein scheinbar wissenschaftliches Fundament. Auch heute noch ist die Ansicht populär, dass am Anfang der Industrialisierung die Erfindung der Dampfmaschine gestanden habe und dass ihr Schöpfer, der Brite James Watt, damit eine epochale Umwälzung, die »industrielle Revolution«, ausgelöst habe.

An dieser Vorstellung ist jedoch kaum etwas richtig: Erstens markiert die Dampfmaschine keineswegs den Beginn der Industrialisierung - weder beim Pionier Großbritannien noch bei den kontinentaleuropäischen Nachfolgern wie Belgien, der Schweiz, Frankreich oder den Staaten des Deutschen Zollvereins. Zweitens war James Watt nicht ihr »Erfinder«. Watts Leistung bestand darin, die bereits seit 1712 existierende Dampfmaschine entscheidend verbessert zu haben. Drittens ist die Charakterisierung der Industrialisierung als »Revolution« höchst zweifelhaft.

Am Anfang der Entwicklung stand keine Erfindung, sondern ein Mangel. In der nordenglischen Grafschaft Lancashire, dem modernsten vorindustriellen Zentrum zur Herstellung von Textilien, fehlte es seit den 1760er Jahren an Baumwollgarn. Die in Heimarbeit produzierten Stoffe waren im In- und Ausland so begehrt, dass die Baumwollspinner den Webern nicht genügend Garn liefern konnten. Deshalb entwickelte der Handweber James Hargreaves 1764 eine äußerst primitive Maschine, mit deren Hilfe ein Spinner auf sechs Spindeln gleichzeitig Wolle zu Garn verarbeiten konnte. Diese »Spinning Jenny« wurde nicht von einer Dampfmaschine angetrieben, sondern durch die Muskelkraft des Spinners.


Pferde- statt Dampfkraft

Doch reine Muskelkraft reichte bald schon nicht mehr aus, denn mit Hilfe der »Jenny« konnte ein Spinner zeitgleich immer mehr Spindeln bedienen. Die Stunde der Dampfmaschine hatte damit aber immer noch nicht geschlagen. Weil sie in der Fabrik als zentraler Produktionsstätte eingesetzt werden sollte, war die nächste Generation von Baumwollspinnmaschinen größer ausgelegt. Die »Jenny« verarbeitete parallel bis zu 100 Spindeln. Damit verband sie erstmals die Funktion der Arbeits- mit der Kraftmaschine, wie es für die Industrialisierung typisch war. Aber die Spindeln wurden nicht mit Dampfkraft angetrieben, sondern durch ein Pferd: Das Tier zog einen Hebel, der eine Welle in Bewegung setzte, den so genannten Göpel. Später wurden die Spindeln auch mit dem Wasserrad angetrieben; für diese Spinnmaschinen bürgerte sich deshalb die Bezeichnung »Waterframe« ein (englische Wortschöpfung aus water für Wasser und frame für Gestell, Rahmen).

Zu dem Zeitpunkt hatte Watt seine Dampfmaschine längst patentieren lassen. Die Nachfrage war anfangs nicht hoch. Damit sich eine Maschine oder ein technisches Verfahren durchsetzt, muss zumindest ein gewisser Bedarf an dem Produkt bestehen, für dessen Herstellung sie benutzt werden kann. Die Anwendung muss wirtschaftlich sein.

Lange vor Watts Erfindung gab es bereits Dampfmaschinen in Steinkohlenbergwerken; sie regulierten dort die Wasserzufuhr. Die Maschine konnte wegen des hohen Energieverbrauchs aber nur dort wirtschaftlich betrieben werden, wo die Kohle als Antriebsenergie direkt anfiel. Die Leistung von James Watt bestand nicht darin, die Dampfmaschine erfunden zu haben, vielmehr schuf er die erste wirtschaftlich einsetzbare Maschine ihrer Art. Dazu musste sie zuverlässig und stetig arbeiten. Die eingesetzte Energie und die Leistung mussten außerdem in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Das Revolutionäre an Watts Erfindung war also nicht das technische Prinzip, Steinkohle nicht nur als Wärmeenergieträger, sondern auch als Antriebsenergieträger einzusetzen. Entscheidend für die erfolgreiche Durchsetzung der Dampfmaschine war der wirtschaftliche Einsatz des Energieträgers.

Watts Erfindung - und damit der Übergang zur »Dampfmaschinen-Ökonomie« - setzte sich nur langsam durch. Erst als die Wasserkraft knapp wurde, weil es inzwischen zu viele Fabriken an den Wasserläufen in Lancashire gab, schlug die Stunde der Dampfmaschine. Mittlerweile hatte man sie so weit verbessert, dass es immer öfter günstiger war, eine Dampfmaschine statt eines Göpels anzuschaffen und zu unterhalten. Eine wichtige Voraussetzung dafür bildete die Erschließung von Steinkohlevorkommen in unmittelbarer Nachbarschaft der Textilfabriken. Denn solange Verkehrswege fehlten und die Kohle mit Fuhrwerken oder gar auf dem Rücken von Pferden transportiert werden musste, vervielfachte sich der Kohlepreis schon, selbst wenn die Fabrik nur zwanzig oder dreißig Kilometer von der Zeche entfernt lag. Denn das war eine Tagesreise.

Damit Dampfmaschinen rentabel arbeiten konnten, musste man die Transportkosten der Kohle senken. Viele Eigentümer von Kohlezechen engagierten sich deshalb für den Bau künstlicher Wasserstraßen, auf denen die Schiffe noch traditionell von Pferden auf Treidelpfaden gezogen wurden. Bereits 1761 hatte der Duke of Bridgewater einen Kanal von seinen Kohlegruben nach Manchester bauen lassen. Die 45 Kilometer lange Wasserstraße war wirtschaftlich so erfolgreich, dass zahlreiche weitere Projekte folgten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts und damit lange vor dem Bau der ersten Eisenbahn verfügte Großbritannien über ein in der Welt einzigartig ausgebautes Verkehrsnetz.

Weil der Brennstoff Steinkohle nicht nur zum Heizen diente, sondern auch zur Befeuerung von Dampfmaschinen, entwickelte sich mit der Zeit ein riesiger Steinkohlemarkt. Die rasant steigende Nachfrage löste wiederum einen Investitionsschub bei den Zechen aus. Denn je mehr Kohle gefördert wurde, desto niedriger waren die Kosten für die Förderung, so dass die Kohle billiger angeboten werden konnte. Deshalb fiel auch der Kohlepreis, obwohl die Nachfrage ständig stieg. Entsprechend verbilligte sich der Einsatz von Dampfmaschinen selbst in immer größerer Entfernung zu den Steinkohlevorkommen. Der Kostenvergleich sprach immer häufiger gegen Göpel und Wasserrad.


Produktion in Städten

Erst jetzt konnte der langfristig vielleicht wichtigste Vorteil der Dampfmaschine zum Tragen kommen: Während das Wasserrad nur an einer ganz bestimmten Stelle an einem Bachlauf errichtet werden konnte, konnte man eine Dampfmaschine fast überall installieren. Die Emanzipation vom Wasserantrieb löste schließlich eine zweite Entwicklung aus, die für die Industrialisierung in den meisten Regionen Europas typisch war: Statt in den vereinzelt liegenden Fabriken an den Wasserläufen konzentrierte sich die Produktion nun in Städten.

In Lancashire entstand mit Manchester die erste industriell geprägte Großstadt der Geschichte. Denn die Anbindung an eine leistungsfähige Infrastruktur erleichterte nicht nur den Transport der Kohle als Brennstoff für Spinnereien. Sie vereinfachte auch den Transport des Rohstoffs Baumwolle aus der nahe gelegenen Hafenstadt Liverpool sowie den Versand der fertigen Garne und Stoffe. Viele der mit Wasserrad betriebenen Fabriken konnten diese Vorteile nicht nutzen, weil sie abseits lagen. Der Bau von Kanälen blieb hier aus, weil sich auf diesem Weg die Peripherie nicht rentabel erschließen ließ. Die fernab gelegenen Fabriken mussten ihren Bezug von Rohstoffen und den Versand der Fertigwaren weiter über schlecht ausgebaute Verkehrswege abwickeln. Da wundert es nicht, wenn ein Unternehmer nach dem anderen seine Fabrik schloss und an anderer Stelle eine neue, mit Dampfmaschine betriebene Produktionsstätte eröffnete.

Eine ähnliche Entwicklung nahm das zweite Symbol der »industriellen Revolution«: die Lokomotive. Lange bevor es Loks gab, existierten bereits Schienenwege. Sie wurden mit Loren befahren, die von Pferden gezogen wurden. In der Regel dienten diese Schienenwege für den Transport von Steinkohle oder Roheisen zum nächstgelegenen Fluss oder Kanal. Erst seit der Wende zum 19. Jahrhundert wurden die Pferde durch die Pferdestärken einer Dampfmaschine ersetzt. Dabei mussten aber viele technische Schwierigkeiten überwunden werden. So waren lange Zeit die Lokomotiven viel zu schwer für die Schienen. Leichter gebaute Loks waren jedoch noch zu anfällig und auch nicht besonders leistungsstark.

George Stephenson (Bildunterschrift 2) und sein Sohn Robert haben zwar nicht die Lokomotive erfunden, wie zu lesen ist. Sie entwickelten aber die erste im regelmäßigen Verkehr zuverlässig einsetzbare Lokomotive. Dies bewies Stephenson 1829 mit seiner »Rocket« bei dem legendären Rennen von Rainhill auf einem Teilstück der ersten modernen Eisenbahnstrecke, der Liverpool & Manchester Railway: Als einziger der fünf Konkurrenten bewältigte die »Rocket« die ungefähr drei Kilometer lange Teststrecke, die 15-mal mit einer Geschwindigkeit von rund 16 Kilometern pro Stunde durchfahren werden musste. Stephenson erhielt daraufhin den Auftrag, der Eisenbahngesellschaft die ersten Lokomotiven zu liefern.

Zwischen der Erfindung der »Spinning Jenny« und der »Rocket« lagen mehr als 60 Jahre. Darüber hinaus blieb die Industrialisierung in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent lange Zeit noch ein sektoral und regional begrenztes Phänomen. Die napoleonischen Kriege und die damit verbundene Kontinentalsperre brachten den Handel Großbritanniens mit dem Kontinent seit 1806/07 fast zum Erliegen. Bis 1814 blieb die (vorindustrielle) Textilproduktion im französischen Machtbereich dadurch vor der englischen Herausforderung geschützt. Kann man angesichts dieser Entwicklung wirklich von einer »Revolution« sprechen?


Die langsamere Revolution

Das ist eine Frage der Perspektive. Mit der Französischen Revolution, die immer wieder als politisches Gegenstück zur industriellen Revolution genannt wird, ist die Entwicklung in der langfristigen Wirkung sicherlich vergleichbar. Nicht vergleichen lässt sich aber das Tempo der Umwälzung. Dagegen sehen viele Historiker zu Recht in der Geschichte der Menschheit nur einen anderen mit der Industrialisierung vergleichbaren Einschnitt: das Sesshaftwerden des Menschen im Neolithikum und seine Folgen für Ackerbau und Viehzucht. Wenn man diese lange Zeit von mehr als 10 000 Jahren einbezieht, erscheint die Industrialisierung Europas, die sich über mindestens eineinhalb Jahrhunderte hinzog, tatsächlich als eine »plötzliche« Umwälzung - als eine industrielle Revolution.

Auch aus Sicht der neueren Geschichte ist die Industrialisierung zweifellos ein epochaler Einschnitt. Vertreter der jüngeren Forschung wie Nick Crafts betonen aber gleichzeitig immer mehr die graduelle Veränderung und damit den evolutionären Charakter der Industrialisierung. So stellt sich die Frage, ob der Umwälzungsprozess nicht sehr viel früher eingesetzt hatte, als man lange Zeit annahm, und ob er - mit Blick auf die Ränder Europas, auf Asien, Lateinamerika und Afrika - überhaupt schon abgeschlossen ist.

Auf dem Kontinent begann die Industrialisierung erst mit etwa einem halben Jahrhundert Verzug. Die rund 25 Jahre Unruhe und Krieg, die der Französischen Revolution folgten, verhinderten den schnellen Technologietransfer aus England. Zwar gab es erste Ansätze, doch die traditionelle Produktionsweise überwog bei Weitem. So soll es in Sachsen um 1800 rund 2000 »Jennies« gegeben haben, weil jeder geschickte Tischler diese weit gehend aus Holz gefertigte Maschine nachbauen konnte. Wie ein knappes halbes Jahrhundert zuvor in Lancashire trieb nicht eine zentrale Kraftquelle die Maschine an, sondern die Muskelkraft des Spinners. Die sächsischen »Jennies« setzte man deshalb nicht in Fabriken ein. Von der Garnproduktion in Fabriken war man zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch weit entfernt.

Eine Konkurrenz der sächsischen Garne mussten die Baumwollspinnereien in England jedoch nicht fürchten. Dort hatte man zudem längst noch leistungsfähigere Maschinen entwickelt, auf die größere Kräfte einwirkten und die deswegen mit einem Metallrahmen versehen werden mussten. Bei dem Stand der Eisenverarbeitung in Sachsen waren Maschinen wie die »Waterframe« nicht so einfach nachzubauen. Doch da die Garnproduktion in Sachsen im mitteleuropäischen Vergleich fortschrittlich war, konnte sich die Garnproduktion mit »Jennies« in Heimarbeit lange halten. England blieb Marktführer und baute diese Stellung im Lauf der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts weiter aus.

Zwischen den 1770er und 1830er Jahren war die Textilindustrie, genauer gesagt die Baumwollindustrie, der Motor der Industrialisierung. Wirtschaftswissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von einem »Führungssektor«, der durch bestimmte Kopplungs- und Begleiteffekte Wachstums- und Modernisierungsimpulse auf andere Sektoren der gewerblichen Wirtschaft aussendet. In Lancashire hatte der Führungssektor Baumwollindustrie Angebots- und Nachfrageimpulse für den Steinkohlenbergbau und die Verkehrsinfrastruktur (Kanalbau) ausgelöst. Die Entstehung industrieller Großstädte kann als Begleiteffekt beschrieben werden. Die Zusammenballung in den Großstädten wirkte sich positiv auf andere Sektoren der gewerblichen Wirtschaft aus, nicht zuletzt auf das Handwerk, insbesondere auf das Bau- und das Nahrungsmittelhandwerk.

Solange die Textilindustrie den Führungssektor der Industrialisierung darstellte, konnte niemand auf dem Kontinent ernsthaft mit den Briten konkurrieren. Im Gegenteil: Immer mehr traditionelle Gewerberegionen gerieten unter Druck, und viele brachen darunter zusammen. Der Durchbruch von Industrie in einer Region führte fast immer zum Niedergang der dortigen traditionellen Gewerbe. Die moderne Industrie war lange Zeit nicht in der Lage, die Arbeitskräfte zu beschäftigen, die durch sie und die Modernisierung der Landwirtschaft ihre Arbeit verloren hatten. Die erste Phase der Industrialisierung war fast überall in Europa mit einer Massenarmut verbunden, für die sich der Begriff »Pauperismus« einbürgerte.


Ein englisches Phänomen

Für viele Betroffene symbolisierte die Maschine ihr Unglück, und sie glaubten, dass deren Zerstörung die alte Ordnung wiederherstellen würde. Wie die Industrialisierung war die »Maschinenstürmerei« ein europäisches Phänomen, auch wenn die Blütezeit der englischen »Ludditen« - Textilarbeiter, die gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen durch die Einführung arbeitssparender Maschinen kämpften - deutlich vor dem Aufkommen der Maschinenstürmerei in der Schweiz, in Frankreich oder Deutschland lag. Tatsächlich haben Historiker das Phänomen lange Zeit überschätzt. Auch war es in der Regel nicht die Dampfmaschine, die die Zerstörungswut der hungernden Massen auf sich zog. Vielmehr richtete sich der Zorn auf die Textilmaschinen. Aus Sicht eines Maschinenstürmers verdrängten sie das Spinnrad und den Handwebstuhl, die lange Zeit die Existenz seiner Familie gesichert hatten. Die Dampfmaschine ersetzte »nur« den Göpel oder das Wasserrad und verrichtete die grobe, monotone Arbeit. Die Textilmaschinen entwerteten jedoch die handwerklichen Fähigkeiten eines Spinners oder Webers.

Der Begriff der Maschinenstürmerei ist auch heute noch fast immer abwertend gemeint. Wer die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung einseitig als Geschichte des Fortschritts begreift, muss in dem Maschinenstürmer einen Faktor erkennen, der sich dem Fortschritt in den Weg stellte. Dabei wird aber übersehen, dass es dem Nottinghamer Textilarbeiter um 1810, dem Lyoner Seidenweber um 1830 oder dem niederschlesischen Handweber um 1845 egal war, ob der technische Fortschritt dazu führen würde, dass es seinen Urenkeln einmal besser ginge. Der Handwerker verlor seine Erwerbsquelle und sah keine Chance, seine Familie zu ernähren. Bei dieser Entwicklung schien es gewissermaßen gar keine Urenkel mehr zu geben. Aus der Perspektive der Ludditen (und ihrer kontinentaleuropäischen Nachfolger) war der technische Fortschritt eine existenzielle Bedrohung. Bis der Wohlstandsgewinn der modernen Industrie auch bei den Unterschichten der Gesellschaft ankam, sollten selbst die Männer nicht mehr leben, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch jung waren. Hätten die Ludditen die von Friedrich Engels in den 1840er Jahren beschriebenen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse erahnt, hätte sie das kaum von ihrem Kampf gegen die moderne Industrie abgebracht.

So gesehen war es ein Segen, dass sich die moderne Industrie doch eher langsam ausbreitete. Denn dadurch blieb zumindest Zeit für eine gewisse Anpassung an die neuen Verhältnisse. In England betraf die Verdrängung der traditionellen Produktionsweise selbst in der Textilindustrie vorerst nur die Baumwollspinnerei; die Baumwollweberei wurde erst sehr viel später mechanisiert. Das Gleiche galt auch für die Verarbeitung anderer Rohstoffe wie Wolle oder Flachs, die zunächst noch nicht mechanisch versponnen werden konnten. Letztlich verschaffte der langsame technische Fortschritt den traditionellen Textilproduzenten jedoch nur eine Atempause, unter dem Strich verlief die Industrialisierung erfolgreich. Dadurch konnte der Pauperismus in England und wenig später auch in Schottland - nicht jedoch in Irland - früher überwunden werden als im übrigen Europa. Das bedeutet natürlich nicht, dass die neuen Fabrikarbeiter nicht arm waren und keine Not litten. Ihre Familien kannten Hunger nur zu gut, ganz zu schweigen von den menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen in Großstädten und Fabriken: Arbeitszeiten von 14 Stunden an sechs Tagen pro Woche und 52 Wochen im Jahr mit einem hohen Invaliditätsrisiko ohne jede Absicherung. In den Wohnquartieren der Städte gab es weder eine brauchbare Wasserversorgung noch eine Abwasserentsorgung oder Klärung. Aber jetzt war immerhin genügend Arbeit vorhanden: die Voraussetzungen für eine langsame Verbesserung der Lebensbedingungen.


Handarbeit für hohe Ansprüche

Auf dem Kontinent gelang es der Textilindustrie nicht, einen vergleichbaren Industrialisierungsschub auszulösen. Erfolge waren nur vereinzelt zu erkennen; und zwar besonders dann, wenn sich eine Region auf die Herstellung hochwertiger Produkte spezialisierte, womöglich unter Verwendung britischer Garne. Denn mit Maschinen stellte man Massenware her. Britische Textilien sollten billig genug sein, um große Käuferschichten mit einer geringen Kaufkraft zu erreichen. Stoffe und Tuche für gehobene Ansprüche wurden indes weiterhin in Handarbeit gefertigt. Das schweizerische Voralpenland gilt als Paradebeispiel für das erfolgreiche Besetzen dieser Nischen: Der hohe Wert der Erzeugnisse von Feinspinnerei und -weberei, der Spitzen, Strickwaren und bedruckten Baumwollstoffe, »Indiennes« genannt, konnte, bei relativ geringem Gewicht, den Transportkostennachteil der Entfernung sowohl von den Einfuhrhäfen für Baumwolle als auch zu den Absatzmärkten wettmachen. Als in den 1780er Jahren die schweizerischen Handspinner von den englischen Maschinenspinnereien unterboten wurden, verarbeiteten die eidgenössischen Unternehmen zunächst fast ausschließlich preiswertes englisches Garn. Doch bereits 1801 eröffnete in St. Gallen die erste erfolgreiche mechanische Spinnerei. An verschiedenen Orten des Landes folgten bald weitere dieser Spinnereien, so dass die Schweiz ab 1830 völlig unabhängig von englischen Garnimporten war. Die heute noch bedeutende schweizerische Chemie- und Maschinenbauindustrie entstand nur wenig später dank der Impulse der zu dieser Zeit modernsten Textilindustrie auf dem Kontinent.

Auch im Bergischen Land lässt sich eine solche Entwicklung nachzeichnen. Die »Barmer Artikel« - Litzen, Kordeln, Spitzen, Seiden-, Baumwoll- und Gummibänder -, überwiegend mit englischen Baumwollgarnen hergestellt, setzten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch auf internationalen Märkten durch. Im Windschatten der erfolgreichen Textil- und Textilveredlungsbetriebe des Wuppertals entwickelten sich andere moderne Industrien als Zulieferer: Die chemische Industrie lieferte Bleichmittel, Farben und Seifen. Knopfbetriebe spezialisierten sich auf Holz- oder Metallknöpfe und gaben sogar den Impuls für den Aufbau kleinerer Walzwerke. Der Maschinenbau gewann ab Mitte der 1830er Jahre zunehmend Bedeutung für die Herstellung von Textilmaschinen. Damit bildete die Textilindustrie auch in Deutschland den Führungssektor für die Industrialisierung einer ganzen Region. Aber das war eine Ausnahme, Impulse für andere Regionen blieben aus.

Lange machten Wissenschaftler die technische Rückständigkeit für die langsame Übernahme der industriellen Errungenschaften in Deutschland verantwortlich. Als sie noch davon ausgingen, dass die Dampfmaschine die Industrialisierung ausgelöst hatte, lag eine solche Sichtweise auch nahe. Denn tatsächlich verbreitete sich die Dampfmaschine auf dem Kontinent nach dem Ende der napoleonischen Kriege nicht schneller als noch ein halbes Jahrhundert zuvor in Großbritannien. Aber wie dort waren es in Deutschland wirtschaftliche und nicht technische Gründe, die eine schnellere Entwicklung verhinderten.

Einer der Pioniere des deutschen Dampfmaschinenbaus, der rheinische Tischlergeselle Franz Dinnendahl, behauptete, er habe ein nach dem wattschen Prinzip gebautes Exemplar nur eine Stunde lang betrachtet und sich dann »stark genug« gefühlt, »eine ebensolche Maschine zu bauen«. Tatsächlich konstruierten Dinnendahl und sein Bruder Johann ab dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Dampfmaschinen, und zwar - soweit bekannt - ohne englische Hilfe. Einige Jahre nach dem Tod des Bruders gab Johann Dinnendahl 1837 das Geschäft jedoch wieder auf, weil ihm die Wachstumsperspektiven nicht gut genug erschienen.

Ihren Durchbruch als Lokomotive schaffte die Dampfmaschine erst in der zweiten Jahrhunderthälfte - dafür aber fast auf dem gesamten Kontinent. Die heutige Weltmarktführerschaft des deutschen Maschinenbaus geht deshalb auch nicht auf den Bau von stationären Dampfmaschinen oder gar auf den Bau von Textilmaschinen zurück, sondern auf den Bau von Lokomotiven! 1853 stammten fast alle Lokomotiven der preußischen Eisenbahnen, die mindestens zehn Jahre alt waren, aus England. Seit etwa 1850 waren alle neuen Lokomotiven jedoch in Deutschland gebaut worden. Ähnlich schnell wurde der Import von Schienen und anderem Eisenbahnmaterial überflüssig. Jetzt produzierten die Deutschen selbst.


Von der Lok zum Marktführer

Gut ein halbes Jahrhundert nach der Textilindustrie in England bildete die Eisenbahn in Deutschland und vielen anderen europäischen Staaten den Führungssektor der Industrialisierung. Auch im übertragenen Sinn war die Eisenbahn also die Lokomotive, die die deutsche Wirtschaft in das Zeitalter der Industrialisierung zog: Sie benötigten enorme Mengen an Eisen und Stahl. Zur Herstellung von Stahl sowie zum Betrieb der Loks brauchte man große Mengen Steinkohle, zum Bau der Bahnanlagen und Gebäude viel Baumaterial. Gleichzeitig verbilligten die Eisenbahnen den Warentransport und erfüllten damit eine ähnliche Funktion wie zuvor die Kanäle in England. Auch auf dem Kontinent entstanden nun industriell geprägte Großstädte. Das Ruhrgebiet, gegen Ende des 19. Jahrhunderts der größte Industriebezirk der Welt, wäre ohne den schwerindustriellen Führungssektorkomplex aus Eisenbahn, Steinkohlenbergbau, Eisen- und Stahlindustrie sowie Maschinenbau als industrieller Ballungsraum Ballungsraum gar nicht entstanden. Bei aller Begeisterung für dieses Transportmittel sollten wir aber nicht unterschlagen, dass die Erschließung weiter Teile des Kontinents sich auch verheerend auswirken konnte.

So verbilligte die Eisenbahn fabrikindustriell hergestellte Waren auch in solchen Regionen, in denen sich traditionelles Gewerbe bisher auf Grund der zuvor schlechten Verkehrswege noch hatte halten können. Die Ausweitung des Schienennetzes führte nun zum Zusammenbruch dieses Gewerbes. Die Eisenbahn führte auch zu wirtschaftlichen Entleerungseffekten: Arbeitskräfte, Kapital und unternehmerische Talente zogen ab und suchten ihr Glück in den entstehenden Industrierevieren. Die Eifel ist ein Beispiel für diese Entwicklung. Die Standortvorteile der Verfügbarkeit von Holz, Holzkohle und Wasserkraft waren durch Steinkohle und Dampfmaschine fast vollständig entwertet worden. Damit gab es genügend Gründe, ins nahe gelegene Aachener und Lütticher Montanrevier oder gar ins Ruhrgebiet abzuwandern.

In der Eifel brachte erst der Tourismus des 20. Jahrhunderts den Anschluss an das Wohlstandsniveau der Industriegesellschaft, also gar keine Industrie im eigentlichen Sinn. Auch viele andere der heute (beziehungsweise vor der Wiedervereinigung) wirtschaftsstärksten Regionen Deutschlands entstanden als Industrieregionen erst nach dem Zeitalter der Eisenbahn als Führungssektor: das Rhein-Main-Gebiet mit Chemie- und Elektroindustrie, der Großraum Stuttgart mit seiner Automobil- und Zulieferindustrie, das mitteldeutsche Chemiedreieck Leuna-Buna-Bitterfeld dank seiner Braunkohlevorkommen oder auch die Magdeburger Förde mit ihrer Zuckerindustrie und dem Maschinenbau.

Das Dampfmaschinenzeitalter ist lange vorbei, und auch das Zeitalter der Kohle. Das bringt für die Regionen, deren Wirtschaftskraft auf Kohle basierte, ganz neue, in gewisser Weise aber auch längst bekannte Probleme. Sie müssen einen ihren regionalen Gegebenheiten angemessenen Weg in das postindustrielle Zeitalter finden. Das ist nicht einfach. Aber die vielen Wege in das Industriezeitalter sollten Mut machen, dass es auch für Lancashire, das Ruhrgebiet, Oberschlesien und SarLorLux eine Zukunft als Wirtschaftsstandorte gibt.


Dieter Ziegler ist Professor für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum.


Literaturtipp

Dieter Ziegler
Die Industrielle Revolution
Geschichte kompakt VII
[Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, 152 S., EUR 14,90]
www.science-shop.de/epoc


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1:
Im 19. Jahrhundert benötigte der Lokomotivbau viel Eisen und Stahl. In Hüttenwerken wurde das Roheisen aus dem Eisenerz geschmolzen.

Bildunterschrift 2:
Der englische Ingenieur George Stephenson (1781 - 1848) baute 1814 die erste dauerhaft einsetzbare Dampflokomotive.

Bildunterschrift 3:
Im Jahr 1829 konstruierte George Stephenson zusammen mit seinem Sohn Robert die legendäre »Rocket«. Die Lokomotive belegte beim Rennen von Rainhill den ersten Platz. Ende 1835 fuhr die von ihnen gebaute »Adler« auf der ersten regelmäßigen Eisenbahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth.

Bildunterschrift 4:
Bereits 1762 experimentierte James Watt (1736 - 1819) mit Wasserdampf. Er erfand die doppelwirkende Dampfmaschine.

Bildunterschrift 5:
Ab 1820 entstanden immer mehr Maschinenwebereien in England. Die Baumwollindustrie arbeitete dadurch noch rentabler.

Bildunterschrift 6:
Der Sezessionskrieg in den USA (1861 - 1865) führte zur Baumwollknappheit, zahllose Menschen verloren ihre Arbeit. Die Quäker richteten in Manchester Suppenküchen ein.


ZUSATZINFORMATIONEN:

Kinderarbeit

Seit 1833 galt in englischen Fabriken ein Arbeitsverbot für Kinder unter neun Jahren. Später wurden ähnliche Regelungen auch in Preußen und anderen europäischen Staaten eingeführt.

Von einer Beendigung der Kinderarbeit konnte jedoch noch lange nicht die Rede sein. Denn die Gefahr, dass ein staatlicher Fabrikinspektor einen Verstoß entdeckte, war denkbar gering. Es waren einfach lange Zeit viel zu wenige. Entsprechend hielten sich zahlreiche Unternehmer und Eltern nicht an diese Vorschrift. Davon abgesehen kontrollierte niemand die Ausbeutung von Kindern außerhalb der Fabriken, im Handwerk oder in der Landwirtschaft.


© 2009 Dieter Ziegler, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
epoc 3/09, Seite 40 - 51
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2009