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WISSENSCHAFT/085: Disziplinen im Fluss (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! - Mai 2011 - Forum der Universität Tübingen

Disziplinen im Fluss

Von Hans-Jörg Rheinberger


Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist mehr als ein Postulat. Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt am Beispiel der Lebenswissenschaften, wie Disziplinengrenzen aufweichen und neue Entwicklungen einsetzen.


Die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen und Forschungsfelder befinden sich ständig im Fluss. So sind etwa die Biowissenschaften, insbesondere im 20. Jahrhundert, ein lebendiges Beispiel für Verschiebungen, die man im Nachhinein als geradezu dramatisch bewerten muss. Die Biologie war aus dem 19. Jahrhundert als eine eigenständige, gegenüber Physik und Chemie relativ konsolidierte Formation hervorgegangen, in deren Zentrum immer noch Botanik und Zoologie standen. Doch hatte sich daneben die Physiologie als Wissenschaft "von den Erscheinungen des Lebens, die den Tieren und den Pflanzen gemein sind", wie der französische Physiologe Claude Bernard es ausdrückte, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kräftig bemerkbar gemacht. Ihr schloss sich am Ende des Jahrhunderts die experimentelle Entwicklungsbiologie an, und das beginnende 20. Jahrhundert war gekennzeichnet durch den kometenhaften Aufstieg eines Spätankömmlings im Verband biologischer Disziplinen: der Genetik. Physiologie, Entwicklungsbiologie und Genetik bildeten den Kern dessen, was in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als "Allgemeine Biologie" bezeichnet wurde.

Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts sollte sich diese Disziplinen-Landschaft noch einmal grundlegend verändern. Zunächst waren es zwei Zwitterwissenschaften, zwei Hybride, die das Terrain neu sondierten und die Grenzen zur Chemie und zur Physik zur Disposition stellten. Die eine war die Zwitterwissenschaft der Biochemie, deren Aufstieg in den 1920er- und den 1930er-Jahren eng mit einer neuen Form der Untersuchung biologischer Prozesse verbunden war: der Charakterisierung von Enzymen und anderen biologischen Wirkstoffen im Reagenzglas. Die Biochemie stellte sich dar als eine Biologie "in vitro". Das andere Hybrid war die Biophysik, deren Aufstieg etwas verschoben in den 1930er- und 1940er-Jahren stattfand. Er fiel zusammen mit der Entwicklung einer ganz neuen Generation von Forschungstechniken, mit denen man die Struktur biologischer Großmoleküle untersuchen konnte. Beispiele für solche Techniken sind - um nur einige zu nennen - die Ultrazentrifugation, die Elektronenmikroskopie und die Röntgenstrukturanalyse.

Um die Mitte des 20. Jahrhunderts entstand schließlich die Molekularbiologie. Sie stellte sich dar als eine Amalgamierung von biophysikalischen und biochemischen Techniken mit genetischen Fragestellungen. In der Molekularbiologie und ihrem Kern, der molekularen Genetik, wurden Physik, Chemie und Biologie in ganz neuer Form aufeinander bezogen. Genau aus dieser Konstellation entwickelte sich dann auch eine neue, bisher nicht da gewesene Vorstellung von der Besonderheit des Biologischen, von biologischer Spezifität. In deren Zentrum standen die Nukleinsäuren, insbesondere die DNA (Desoxyribonukleinsäure), und sie verschaffte sich auch in einem neuen Vokabular Ausdruck. Es kreiste um die Begriffe der genetischen "Information" und des genetischen "Programms". Mit dem von Francis Crick so genannten molekularbiologischen Dogma - "DNA macht RNA, RNA macht Protein" - wurden die Biowissenschaften insgesamt auf eine neue Grundlage gestellt. Das führte in den späten 1950er-Jahren in Amerika und in den 1960er-Jahren in Europa auch zu einer kompletten Reorganisation der nun auf ihre molekularen Grundlagen ausgerichteten Biowissenschaften an den Universitäten.


Neue Schnittstelle für die Biowissenschaften

Genau diese Molekularbiologie brachte in den 1970er-Jahren schließlich die Gentechnologie in ihren mannigfaltigen Formen hervor. Mit der Aussicht auf eine technologische Handhabung der molekularen Grundlagen des Lebens eröffneten sich für die Biowissenschaften aber wiederum ganz neue Schnittstellen: Die Molekularbiologie war nicht länger ein esoterisches Unternehmen einer kleinen Schar von reinen Grundlagenforschern, sondern wurde zu einem Feld, auf dem ökonomische und soziale Interessen sich mit den technologischen Entwicklungsaussichten dieser Wissenschaft in Medizin und Landwirtschaft zu verbinden begannen. Das Humangenomprojekt war der erkenntnistheoretische Ausdruck dieser neuen Konstellation, die Entwicklung der Biotechnologie-Industrie mit ihren eng geknüpften Beziehungen zur universitären Forschung ihr ökonomischer. Damit stellten sich aber auch neue soziale, kulturelle und ethische Fragen, die um die Anwendung der Gentechnik und Reproduktionsbiologie in der Humanmedizin und menschlichen Fortpflanzung wie auch in der Landwirtschaft, insbesondere in der Produktion von Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen kreisten. Hier berührten sie sich auch mit der Ökologie in ihren Bemühungen um die Biodiversität.

Dieses Bild wäre jedoch wesentlich unvollständig ohne die Erwähnung zweier weiterer Bereiche, die ebenfalls mit der facettenreichen Entwicklung der molekularen Biologie zusammenhängen. Da ist zum einen das Feld der molekularen Entwicklungsbiologie, die heute dabei ist, sich unter Verwendung des Methodenarsenals der Gentechnik und parallel dazu der Bioinformatik zu einer neuen Systembiologie auszubilden. Und da ist zum anderen der molekulare Zugriff auf die höheren Funktionen des Organischen, insbesondere auf die Leistungen des menschlichen Gehirns. Die Debatten der letzten Jahre, nicht nur um den Albtraum einer Klonierung von Menschen, sondern eben auch um seinen freien Willen und dessen mögliche Begrenzungen, sind nur der sichtbarste Ausdruck einer Rekonfiguration, welche die gesamten Lebenswissenschaften ergriffen hat und diese als die Leitwissenschaften - technologisch wie auch auf das zukünftige Menschenbild bezogen - des 21. Jahrhunderts erscheinen lässt.

Es ist deshalb kein Zufall, dass eine Universität wie etwa die Berliner Humboldt-Universität im Kontext ihres zweihundertjährigen Bestehens - als eines ihrer größten Zukunftsprojekte - ein breit angelegtes "Institut für integrative Lebenswissenschaften" einrichtet. In ihm sollen die molekularen Lebenswissenschaften, die theoretisch orientierten biologischen Wissenschaften wie Systembiologie und Evolutionsbiologie, die Humanbiologie, aber auch Geistes- und Sozialwissenschaften, soweit sie lebenswissenschaftliche Fragen berühren, in ein produktives Austauschverhältnis zueinander gesetzt werden. Es gibt heute kaum mehr eine relevante Fragestellung in den Lebenswissenschaften, die zu ihrer Lösung nicht Kompetenzen erforderte, die früher auf ganz unterschiedliche Disziplinen verteilt waren. Das gilt für Physik, Chemie und Biologie im Rahmen der molekularen Biowissenschaften schon seit einem halben Jahrhundert. Das gilt aber in zunehmendem Maße auch für die Sozialwissenschaften, insbesondere die Wissenschaftsund Technikforschung, wenn man etwa an die Probleme denkt, die eine genetisierte Medizin mit sich bringen wird. Es gilt gleichermaßen für die Geisteswissenschaften im engeren Sinne, vor allem in der Form philosophischer und historischer Reflexion, die auch und gerade in Zukunft für ein verantwortbares Menschenbild unverzichtbar sein wird. Sie alle sind aufgefordert, nicht so sehr bereits vorhandene Kompetenzen in ein bereits definiertes Projekt einzubringen, sondern vielmehr sich auf einem wissenschaftlichen Arbeitsfeld von höchster Dynamik so miteinander in Verbindung zu setzen, dass ihre produktiven Kapazitäten wechselseitig fruchtbar werden können.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Apfelbirne oder Birnenapfel? Die Biowissenschaften sind ein lebendiges Beispiel dramatischer Grenzverschiebungen wissenschaftlicher Disziplinen.

Jugendjahre der Biochemie: In der Tübinger Schlossküche, dem ersten biochemischen Labor der Welt, isolierte 1869 der Schweizer Mediziner Friedrich Miescher bei Experimenten mit Zellkernen eine Substanz, die er Nuklein nannte - Jahrzehnte später wurde sie als Träger der Erbinformation DNA identifiziert.


Prof. Hans-Jörg Rheinberger studierte Philosophie und anschließend Biologie in Tübingen und Berlin. 1982 Promotion in Biologie, 1987 Habilitation im Fach Molekularbiologie. Seit 1997 ist er Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Biowissenschaften und die Geschichte und Epistemologie des Experiments.


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Quelle:
attempto! - Mai 2011, Seite 8-9
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2011