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DILJA/072: Südafrika - Statthalterstaat des Imperiums - Teil 11 (SB)


Statthalter westlicher Hegemonialmächte auf dem schwarzen Kontinent - Südafrika vor, während und nach der Apartheid


Teil 11: Die Wahrheitskommission I: Eine "Regierung der Nationalen Einheit" erzwingt mit der "Wahrheits- und Versöhnungskommission" den Schulterschluß mit dem alten Regime

1995 wurde in Südafrika die "Truth and Reconciliation Commission" (TRC, Kommission für Wahrheit und Aussöhnung) unter Leitung des früheren anglikanischen Erzbischofs von Kapstadt, Desmond Tutu, ins Leben gerufen. Zu diesem Zeitpunkt war der letzte Apartheidpräsident, Frederik Willem de Klerk, in die politische Führung des Nachapartheidstaates bereits wieder miteingebunden. Bei den ersten freien und allgemeinen Wahlen am 9. Mai 1994 - den ersten in der Geschichte Südafrikas, bei denen auch schwarze Südafrikaner wahlberechtigt waren -, hatte die Nationalpartei de Klerks 20,4 Prozent der Stimmen gewonnen. Im Parlament wurden führende Mitglieder des ANC in die Schlüsselpositionen der neugebildeten "Regierung der Nationalen Einheit" gewählt. So wurde mit Nelson Mandela der vehementeste Fürsprecher für einen "friedlichen Wandel" ins höchste Staatsamt gewählt. Dem ersten Nichtapartheid-Staatspräsidenten standen Mandelas Vertrauter und späterer Amtsnachfolger, Thabo Mbeki, als Erster Vizepräsident - was dem Amt des Ministerpräsidenten gleichkam - und de Klerk als Zweiter Vizepräsident zur Seite.

Von der Stunde Null an lastete somit auf dem angeblich neuen politischen System Südafrikas eine schwere Hypothek, mußte doch die schwarze Bevölkerungsmehrheit eine Regierungsbeteilung des letzten Repräsentanten des Apartheidregimes akzeptieren. Das Ende der Apartheid war nur unter den von Mandela und dem ANC verhandelten Bedingungen zu haben - eine Alternative gab es nicht. Dabei ist Frederik de Klerk alles andere als ein reuiger Sünder, der angesichts der Verbrechen des Apartheidregimes eine fundamentale Wandlung vollzogen hätte. Er kündigte 1996 seine Mitarbeit an der "Regierung der nationalen Einheit" auf, mit ihm trat auch die Nationalpartei aus dem bis dahin regierenden Drei-Parteien-Bündnis aus und ging in die parlamentarische Opposition. de Klerk, der mindestens in der Zeit zwischen 1989 und 1993 mit dem ANC und auch mit Nelson Mandela bis zu dessen Freilassung noch in der Haft verhandelt hatte, gilt auf Seiten des "weißen" Regimes als der Ziehvater einer Verhandlungslösung, die dem alten Establishment nicht nur ein physisches, sondern auch ein politisches Überleben sowie die Wahrung seiner privilegierten Stellung ermöglichte.

Die Wahrheitskommission wurde ins Leben gerufen, um der schwarzen Bevölkerung Südafrikas den Kuhhandel schmackhaft zu machen, den Mandelas ANC mit dem Regime vereinbart hatte. Die alte Regierung wurde keineswegs gezwungen, die politische Macht vollständig abzugeben, und so erklärte de Klerk sich "bereit", die Schwarzen an der politischen Willensbildung zu beteiligen. Demokratischen Grundsätzen entsprach die vorab verhandelte Regierungsbeteiligung der Nationalpartei keineswegs, denn eine klare Stimmenmehrheit, wie sie der ANC bei den ersten Wahlen 1994 dann mit 62,7 Prozent auch erzielte, hätte ihm in vollem Einklang mit den Gepflogenheiten demokratischer Staaten in Europa die alleinige Regierungsverantwortung beschert. Zu der zwischen de Klerk und Mandela ausgehandelten Friedenslösung hatte offensichtlich gehört, daß der ANC der Nationalpartei nicht nur in Aussicht stellte, (mit) an der Regierung zu bleiben, sondern dies auch einhielt. In Südafrika und mehr noch im westlichen Ausland wurde der Schulterschluß zwischen dem vom ANC dominierten Apartheidwiderstand und dem alten Regime im wesentlichen mit der Bereitschaft Mandelas begründet, im Namen des ANC und Umkhonto we Sizwes, des bewaffneten Arms des ANC, 1990 die Einstellung der Kämpfe zu erklären und dies auch durchzusetzen.

Dies wird schwerlich vonstatten gegangen sein können, ohne innerhalb des ANC sowie anderer Befreiungsorganisationen Widerstände zu brechen. Sehr viele Menschen werden nach all dem, was sie in den vielen Jahren und Jahrzehnten, in denen sie unter diesem äußerst gewalttätigen Regime zu leben gezwungen waren, nicht so ohne weiteres zu "Versöhnung" und "Vergebung" bereit gewesen sein, wie sie von den Protagonisten der neuen Einheitsregierung eingefordert wurden. Selbstverständlich konnten sich Mandela, Mbeki und Tutu nicht in aller Offenheit auf die Seite der Apartheid stellen; dies hätte sie in den Augen "ihrer" Leute sofort und vollständig diskreditiert. Sie mußten der Stimmung im Lande Rechnung tragen und einen Modus operandi finden, der es ihnen ohne allzu großen Gesichtsverlust ermöglichte, die de Klerk gegebenen Zugeständnisse einzulösen.

Die "Wahrheits- und Versöhnungskommission" wurde das Mittel der Wahl. Mit ihr wurden die Kirchen stark eingebunden; auch dies, um etwaigen Unmut oder gar Widerstand gegen den Scheinfrieden, der in den folgenden Jahren von immer mehr Südafrikanern als bitter empfunden und abgelehnt werden sollte, von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen. Gegen die Wahrheitskommission konnte und wollte kaum jemand öffentlich opponieren, wäre doch jede Kritik sofort mit dem Totschlag-Argument gekontert worden, anstelle des fragilen Versöhnungsprozesses einen Bürgerkrieg mit womöglich Millionen Toten zu bevorzugen. Den Schwarzen Südafrikas wurde durch den ANC der Sieg aus den Händen genommen und durch einen Status ersetzt, gegen den zu opponieren nahezu unmöglich war, ohne von den Protagonisten der neuen Einheit und ihren internationalen "Freunden" - bei denen es sich übrigens um dieselben westlichen Staaten handelte, die schon zu Zeiten der Apartheid heimlich mit dem Regime im Bunde waren und dieses tatkräftigst unterstützt hatten - als friedensgefährdend verunglimpft zu werden.

Und so stellte sich die Wahrheits- und Versöhnungskommission (Verhöhnungskommission?) keineswegs als das zentrale gesellschaftliche Gremium heraus, das hielt, was es versprochen hatte. Die höchste Führung des Apartheidstaates blieb nahezu unbehelligt. Pieter Willem Botha, Staatspräsident und ausgewiesener Hardliner des Apartheidsystems - er wurde 1989 durch de Klerk gestürzt - verstarb am 31. Oktober 2006 im Alter von 90 Jahren, ohne sich je vor einem regulären Gericht oder der Wahrheitskommission verantwortet zu haben. Als Nelson Mandela ihn zur Zeit der großen Einigung eigens aufgesucht hatte, ließ er diesen abblitzen und erklärte vor der Presse frei heraus: "Ich habe nichts zu bekennen. Alles, was ich getan habe, habe ich für mein Heimatland und Gott getan." Vielen Menschen Südafrikas war Mandelas Bemühen um Botha schon bitter aufgestoßen; allein dieser Schritt kostete den zweiten Friedensnobelpreisträger des ANC nach Albert Luthuli einiges an Renommee. Es versteht sich von selbst, daß Botha sich weigerte und weigern konnte, vor der Kommission auszusagen. Ihn vor Gericht zu stellen, wäre mit Sicherheit ein Schritt gewesen, mit dem der ANC die engen Grenzen, die er durch die Verhandlungslösung von 1989/90 akzeptiert hatte, verletzt hätte.

Doch nicht einmal Frederik de Klerk, der weiße "Vater" dieses gelungenen Befriedungsmanövers, tat das Seine zur Aufwertung der Wahrheitskommission. Er hatte - mit Erfolg! - 1998 vor dem High Court Kapstadts gegen die Veröffentlichung der Ergebnisse der Wahrheits- und Versöhnungskommission zu seiner Person geklagt. Der Abschlußbericht der Kommission - die ersten fünf Bände erschienen 1998, die letzten beiden erst 2003 - wurde aufgrund de Klerks Klage 1998 mit geschwärzten Passagen veröffentlicht. Am 21. März 2003, dem Sharpeville-Tag, erschienen die fehlenden Bände, in denen gegen de Klerk nun doch wenn auch verspätete Vorwürfe erhoben wurden. Dem letzten Staatspräsidenten der Apartheid wurde zur Last gelegt, davon gewußt zu haben, daß Kabinettskollegen in den achtziger Jahren einem Bombenanschlag auf das Gebäude des südafrikanischen Kirchenrates zugestimmt hätten - als ob dies alles gewesen wäre, was de Klerk zu verantworten gehabt hätte...

Die ursprüngliche Forderung des Apartheidregimes hatte in einer Generalamnestie für alle Angehörigen von Polizei und Militär und sämtlicher Sicherheitsorgane bestanden, um von den verantwortlichen Politikern gar nicht erst zu reden. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission stellt eine Realisierung dieser Forderung in leicht abgespeckter Form dar. So blieben die oberen Ränge im gesamten Staatsapparat nahezu unbehelligt, während auf mittlerer und unterer Ebene viele Betroffene das Prozedere der "Wahrheitskommission" über sich ergeben lassen mußten, um in den Genuß der ihnen in Aussicht gestellten Straffreiheit zu kommen. Diese "Lösung" ließ sich weitaus besser verkaufen als die zunächst geforderte Generalamnestie, auch wenn es für die Täter der Apartheidverbrechen in etwa auf dasselbe hinauslief. Die Kommission trug zur Befriedung der angespannten und von massiven Auseinandersetzungen innerhalb der Befreiungsbewegung gekennzeichneten Lage etliches bei, weil sie wütende Proteste entschärfen konnte durch das Versprechen, den "Opfern" der Apartheid würde Genugtuung widerfahren, weil sie öffentlich angehört und am Ende auch finanzielle Entschädigungen erhalten würden, während die "Täter" immerhin öffentlich und vollständig ihre Taten offenlegen mußten.

In den ersten, 1998 veröffentlichten Bänden ihres Abschlußberichtes hatte die Wahrheitskommission die Zahl der "Opfer" mit 21.000 angegeben, von denen 2.400 als Zeugen ausgesagt hatten vor der 17köpfigen Kommission, die zwischen 1996 und 1998 einer Karawane gleich durchs Land gefahren war und die öffentlichen Anhörungen durchgeführt hatte. 7.000 Betroffene hatten als "Täter" Amnestieanträge gestellt, von denen die meisten positiv beschieden worden waren. Dazu muß man wissen, daß eine solche Entscheidung für sie von großem Interesse ist, da sie sie nicht nur vor strafrechtlicher Verfolgung, sondern auch vor zivilrechtlichen Forderungen jeder Art schützt. Als "Opfer" betroffene Menschen, zumeist hinterbliebene Familienangehörige gefolterter und getöteter Befreiungskämpfer, hatten vor der Kommission nicht die Möglichkeit, eine Amnestierung ihrer "Täter" zu verhindern, und so gab es etliche, die auf dem normalgerichtlichen Klageweg versuchten, eine solche Straffreiheit zu verhindern.

Die prominentesten unter ihnen waren die Angehörigen Steve Bikos, des 1977 ermordeten Führers der Black Consciousness Bewegung, sowie die Familie des schwarzen Anwalts Griffith Mzenge, dem drei Polizisten die Kehle durchgeschnitten hatten, weil er aktive Apartheidgegner vor Gericht verteidigt hatte. Bikos Witwe sowie sein Sohn hatten ebenfalls gegen die Wahrheitskommission geklagt, um zu verhindern, daß die Mörder freikommen können. Doch die von Nelson Mandela und Desmond Tutu, dem kirchlichen Leiter der Versöhnungskommission, so vehement eingeforderte Vergebung beinhaltete nun einmal, daß (geständige) Mörder amnestiert werden, ob die hinterbliebenen Angehörigen dies nun akzeptieren können oder nicht. Nicht wenige Bluthunde des alten Regimes konnten nach ihrer Reinwaschung sogar in ihrem alten Tätigkeitsfeld weitermachen. So etwa Dirk Cotzee, ein ehemaliges ranghohes Mitglied der Sicherheitspolizei des Apartheidregimes, der seine Beteiligung an staatlich befohlenen Anschlägen offenbarte, die Drahtzieher im Apparat benannte und als einer der ersten seinen Amnestieantrag eingereicht hatte. Inzwischen ist er wieder im gleichen Rang bei der Sicherheitspolizei tätig.

1997 schließlich "lud" die Kommission Apartheidpolitiker "ein". Die meisten lehnten es einfach ab, überhaupt zu erscheinen, und nur sehr wenige bequemten sich dazu, einen Amnestrieantrag zu stellen. Was sie dazu bewogen hat, läßt sich am Beispiel Arian Vloks, des ehemaligen Ministers für Recht und Ordnung, leicht nachzeichnen. Vlok, der in seinem Ressort wie kein weiteres Kabinettsmitglied für die vielen, von den staatlichen Organen über Jahre hinweg verübten Folterungen und Morde verantwortlich gewesen war, stritt vor der Kommission jede Verantwortung ab. Er hätte, so behauptete Vloks, niemals auch nur das Geringste gewußt von den Verbrechen, die seine Untergebenen begangen hätten. Diese hätten die oberen Befehlshaber stets "mißverstanden", so Vlok. Dabei hatten Verantwortliche mit hohen Diensträngen vor der Kommission längst ausgesagt, daß ihre Befehlshaber sehr genau Bescheid gewußt und sich nicht selten mit Prämien und Medaillen für besondere "Taten" bedankt hätten. Die Auftritte Vloks vor der Kommission riefen einen Sturm der Entrüstung hervor; gleichwohl wurde er im Jahre 2000 amnestiert, obwohl er die dafür eigentlich erforderliche Bedingung, nämlich vollständig und detailliert die eigene Tatbeteiligung und -Verantwortung offenzulegen, nicht mit einer einzigen Silbe erfüllt hatte.

Und so mehrten sich in Südafrika die Stimmen jener, die sich zweifach verraten fühlten. Einer von ihnen ist Duma Khumalo, der zusammen mit fünf weiteren Männern 1984 wegen Mordes angeklagt worden war. Sie wurden beschuldigt, in Sharpeville einen Gemeindevorsteher getötet zu haben, nachdem dieser begonnen hatte, wahllos auf die vor seinem Haus demonstrierende Menschenmenge zu schießen. Weder Khumalo noch einem der anderen Angeklagten konnte diese Tötung je nachgewiesen wurden. Sie entgingen 1988 ihrer Hinrichtung nur sehr knapp, da ein Richter die Vollstreckung aussetzte, nachdem bekannt geworden war, daß der entscheidende Belastungszeuge gegen die "Sharpeville Six" unter der Folter falsche Angaben gemacht hatte. Doch erst 1991 wurde Khumalo entlassen. Er klagte die Regierung an: "Die Regierung hat viele Täter im Apparat mit hohen Abfindungen in die Frührente geschickt. Andere Täter werden amnestiert." Er sollte noch Jahre vergeblich um eine Entschädigung kämpfen. "Ich will nicht reich werden. Aber meine Kinder leiden immer noch unter meiner langen Haft. Mein Sohn ist verbittert, weil ich ihm keine Ausbildung finanzieren konnte. Er war fünf, als sie mich ins Gefängnis warfen", so Khumalo. "Man hat uns zweimal verraten", sagt er und meint damit neben dem alten Regime auch die neue ANC-Regierung.

Dieser Auffassung ist auch Thandiwe Shezi, die am 8. September 1988 verhaftet und anschließend grausam gefoltert wurde. "Die Kommission ist zu nachsichtig mit den Tätern", sagt sie. "Wir lesen in der Zeitung davon, daß wieder jemand amnestiert worden ist. Uns haben sie gar nicht nach unserer Meinung gefragt. Wir waren also Opfer der Apartheid und nun sind wir noch einmal Opfer der Regenbogennation." Thandiwe Shezi wurde vergewaltigt und mit Elektroschocks gefoltert. Die Folterer banden sie nackt und mit Butter eingerieben an einen Baum, um dann Ameisen auf sie loszulassen. Man drohte ihr die Entführung und Ermordung ihres Kindes an. Sie war eine der gefolterten Frauen, die bereit war, vor der Wahrheitskommission zu berichten, was ihr angetan wurde. Doch entgegen der allgemeinen Behauptung, die von den Folterungen, Mißhandlungen und Morden betroffenen Opfer und ihre Angehörigen würden ihre seelischen Verletzungen überwinden können, wenn sie vor der Kommission öffentlich angehört werden und die Geständnisse der Täter hören, erlebten viele die Anhörung wie eine weitere Entwürdigung.

Sehr schnell bildete sich eine Selbsthilfeorganisation der Apartheidopfer, die Khulumani Support Group, der nach kurzer Zeit 32.000 Menschen, die meisten von ihnen Frauen, Kinder, Schwestern oder Schwägerinnen junger ermordeter Männer, angehörten. Zunächst unterstützte Khulumani die Menschen, die als Opfer vor der Kommission aussagen wollten, doch schon bald entwickelte sich Khulumani zu einer eigenständigen Organisation mit durchaus kritischen Positionen gegenüber der Wahrheitskommission. Diese hatte in Südafrika selbst schon nach kurzer Zeit den ihr gewährten Vertrauensvorschuß verspielt, während interessierte Kreise im Ausland bis heute nicht müde werden, die sie als ein besonderes und historisch einmaliges Beispiel friedlicher Konfliktbeilegung zu loben. Yasmin Sooka, eine engagierte Rechtsanwältin, die selbst in der 17köpfigen Kommission tätig war, teilte die Verbitterung vieler Opfer: "Die Täter haben oft keine echte Reue gezeigt. Sie wußten, was passierte, sie kannten das Ausmaß der Verbrechen und sie haben nichts dagegen unternommen."

So wenig, wie die Anhörungen vor der Kommission den aussagebereiten Opfern tatsächlich helfen konnten, so wenig trugen sie zur "Aussöhnung" bei. Offiziell behandelte die Kommission Verbrechen, die aus politischen Gründen zur Zeit der Apartheid von 1960 an bis zu den ersten demokratischen Wahlen 1994 verübt worden waren. Durch diese Formulierung wurden das Apartheidregime und der Apartheidwiderstand faktisch gleichgestellt durch die Behauptung, auf beiden Seiten seien Gewaltverbrechen verübt worden. Die historisch unanfechtbare Tatsache, daß in Südafrika eine Diktatur herrschte, die in Fortschreibung ihrer nie beendeten kolonialen Vergangenheit eine "Demokratie" betrieb, von der die schwarze Bevölkerungsmehrheit vollkommen ausgeschlossen blieb, wird dadurch ebenso in gezielter Absicht ignoriert wie die ebenfalls unbestreitbare Tatsache, daß der 1912 gegründete ANC ein halbes Jahrhundert (!) lang vergeblich versucht hatte, in strikter Befolgung gewaltfreier Prinzipien eine Verbesserung der Lage der Schwarzen Südafrikas zu erbitten.

Und als er dann - unter aktiver Beteiligung Nelson Mandelas, der der erste Oberbefehlshaber des militärischen Arms des ANC, Umkhonto we Sizwe, wurde - ab 1960 die bewaffnete Gegenwehr gegen ein technologisch überlegenes und international unterstütztes Regime zu entwickeln begann, führte der Apartheidstaat nur umso umbarmherziger Krieg gegen die aufbegehrende schwarze Bevölkerung Südafrikas. Das Ende ist bekannt: Die Konfrontation nahm immer mehr zu. Dem alten Regime gelang es dann allerdings, dem ihm womöglich drohenden totalen Machtverlust zu entgehen. Von der Spitze her konnten die Befreiungsbewegungen eingebunden und zur Akzeptanz einer "Verhandlungslösung" gebracht werden, bei der die spätere "Wahrheits- und Versöhnungskommission" eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Der Apartheidwiderstand wurde dazu gebracht, seinen "Frieden" mit den alten Herrschern und Unterdrückern zu machen, und es darf angenommen werden, daß hier westliche Mächte - erinnert sei an den Besuch des US-Außenministers James Baker bei Nelson Mandela kurz nach dessen Haftentlassung - politisch interveniert haben.

Der Apartheidregierung wirksam zu drohen, hätte für den Westen stets ein Leichtes sein müssen; schließlich war Südafrika politisch und wirtschaftlich so isoliert, daß sich das Regime ohne materielle, finanzielle und vor allem auch militärische Unterstützung aus dem befreundeten Ausland nicht länger hätte am Leben erhalten können. Der Westen jedoch wollte unter gar keinen Umständen seinen Stellvertreterposten am Südzipfel Afrikas aufgeben oder die Kontrolle über die dortigen Verhältnisse verlieren. Um dies zu verhindern, mußte die regierende Nationalpartei dazu gebracht werden, die Apartheidgesetze zu lockern und schließlich aufzuheben - was den Wechsel in der Staatsführung von Botha zu Klerk plausibel macht. Der ANC als führendes Gremium des landesweiten Apartheidwiderstandes wiederum mußte dazu gebracht werden, sich mit der von de Klerk angebotenen "Lösung" einer gemeinsamen Regierung zufriedenzugeben.

Die schwarze Bevölkerung Südafrikas hätte die von der Regierung ursprünglich geforderte Generalamnestie für alle Angehörigen des Repressionsapparates mit Sicherheit nicht akzeptiert; ein empörter Aufschrei oder im zweiten Schritt ein Aufstand gegen den ANC hätten die Folge sein können. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission sollte hier Abhilfe schaffen, wobei das Interesse des alten Apparates, weitgehend unangetastet aus der Geschichte herauszukommen, gewährleistet werden sollte. Nelson Mandela warf sein Renommee als Galionsfigur des Apartheidwiderstandes in die Waagschale, um die noch kaum aus ihrer Unterdrückung befreiten Schwarzen zur "Vergebung" zu bewegen:

Ich lag in Ketten, als ihr in Ketten lagt.
Ich wurde befreit, und ihr seid befreit worden.
Wenn ich also meinen Unterdrückern vergeben kann,
dann könnt ihr es auch.

Den Opfern und Angehörigen, die sich der Amnestieverhandlung vor der Wahrheitskommission widersetzten, weil sie nicht damit einverstanden waren, daß sich Täter, die schwerste Folterungen und Morde begangen hatten, mit einem Geständnis für alle Zeiten freikaufen konnten, hielt der Vorsitzende der Kommission, der frühere Erzbischof Kapstadts, Desmond Tutu, entgegen, daß es nicht im Interesse der nationalen Aussöhnung sei, Hunderte ehemaliger Polizisten, Soldaten und sogar Politiker ins Gefängnis zu stecken. Als am 30. April 1996 die ersten Anhörungen der Wahrheitskommission durchgeführt wurden, nahm der Weltkirchenrat "das bemerkenswerte Fehlen an Bitterkeit" mit Erstaunen zur Kenntnis. Nachdem die ersten, mit Sicherheit ausgewählten Fälle gleich in den ersten Wochen verhandelt worden waren, lobte Erzbischof Tutu die Menschen, die bereit waren, in der Opferrolle als Zeugen auszusagen:

Das ist ein außerordentliches Land mit außerordentlichen Menschen. Ihr seid ein Beispiel dafür, warum wir es in diesem Land schaffen werden. Der Grund, warum wir den Kampf gewonnen haben, waren nicht die Gewehre, aber wir hatten Menschen wie Euch - Menschen mit einer unglaublichen Stärke. Danke, daß ihr Eure Ehemänner geopfert habt.

Dabei hat niemand einen ihm nahestehenden Menschen geopfert oder auch nur opfern wollen. Die meisten Menschen, die in Südafrika für die Befreiung des Landes vom Joch der Apartheid gekämpft und gestritten haben, lehnten es ohnehin ab, vor der Wahrheitskommission zu erscheinen und die ihnen dort angebotene Rolle eines "Opfers" anzunehmen. So muß angenommen werden, daß die von der Kommission in ihrem Abschlußbericht veröffentlichten rund 22.000 "Fälle" nur einen geringen Bruchteil dessen widerspiegeln, was den Menschen Südafrikas vom Apartheidregime angetan wurde. Wenn von internationalen Beobachtern nicht ohne Genugtuung festgestellt wird, daß die Apartheidopfer vor der Kommission gar nicht nach Rache verlangten, sondern nur die "Wahrheit" wissen wollten, nämlich wie und durch wen ihre Angehörigen zu Tode gekommen sind, stellt dies einen argumentativen Zirkelschluß dar, denn Menschen, die zur Vergebung nicht bereit sind und die Mörder ihrer Männer, Väter, Brüder, Söhne oder auch Frauen, Töchter und Schwestern mindestens im Gefängnis sehen wollen, gehen gar nicht erst zur Kommission. Die Kritik an der Kommission kam auch aus dem ANC selbst, denn viele Gruppierungen waren nicht im mindesten damit einverstanden, daß frühere Widerstandskämpfer und -innen nun durch eine von der ANC-Regierung eingesetzte Kommission kriminalisiert wurden.

Als Thabo Mbeki, der Nelson Mandela 1999 im Amt des Staatspräsidenten abgelöst hatte, anläßlich der Entschädigungsempfehlungen der Wahrheitskommission im April 2003 allen benannten Opfern eine einmalige Zahlung von 30.000 Rand (ca. 3.500 Euro) als "Anerkennung für die leidvollen Erfahrungen" in Aussicht stellte, betonte er, daß Millionen Südafrikaner die Mühe des Befreiungskampfes nicht "um monetärer Vorteile willen" auf sich genommen hätten. Somit wird das ohnehin geringe Blutgeld, mit dem Betroffene wie die schwarze Nachapartheidbevölkerung insgesamt zum weiteren Stillhalten gebracht werden sollen, auch noch zum Mittel moralischer Bezichtigung. Währenddessen sind die Chargen des Apartheidregimes, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, längst zur Tagesordnung übergegangen. Der angeblich so friedliche Wandel in Südafrika beinhaltete eben nicht eine tatsächliche Beendigung der gesellschaftlichen Ordnung, die das "Apartheid" genannte System der Gewaltherrschaft hervorgebracht hatte.

(Fortsetzung folgt)

28. Dezember 2007