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DILJA/079: Südafrika - Statthalterstaat des Imperiums - Teil 18 (SB)


Statthalter westlicher Hegemonialmächte auf dem schwarzen Kontinent - Südafrika vor, während und nach der Apartheid


Teil 18: Aids - die tödliche Immunschwächekrankheit dünnt die (unproduktive) Bevölkerung Südafrikas immer mehr aus. Ein Narr, wer nichts Böses dabei denkt

Aids wird zum Sicherheitsproblem erklärt

Als die USA im Januar 2000 im Weltsicherheitsrat den Vorsitz führten, widmeten sie diesen Monat dem afrikanischen Kontinent und brachten schon in der Auftaktsitzung das Thema Aids auf die Tagesordnung des höchsten Gremiums der Vereinten Nationen. Al Gore - zum ersten Mal leitete ein US-Vizepräsident eine Sicherheitsratssitzung - sprach von "globalen Herausforderungen", denen sich der Sicherheitsrat zu widmen habe, und subsumierte darunter neben Umwelt, der Bekämpfung von Drogen und Korruption sowie des Terrors auch "neue Pandemien" wie eben - und das vor allem in Afrika - Aids. "Sicherheit" müsse, so Gore vor dem Weltsicherheitsrat, "durch ein neues und weiteres Prisma gesehen werden". Daß eine Weltordnungsmacht wie die USA ihren Einfluß geltend machte, um das Thema Aids in Afrika auf die Tagesordnung des Weltsicherheitsrates zu bringen, darf allerdings nicht fehlinterpretiert werden als eine humanitär begründete Sorge um das Wohl und Wehe des ohnehin ärmsten Teils der Menschheit.

Der Aids-Sitzung im Januar folgte ein halbes Jahr später, am 17. Juli 2000, die Annahme der Resolution 1308 durch den Weltsicherheitsrat. Der Kampf gegen Aids solle intensiviert werden, hieß es darin, zudem wurden die Staaten aufgefordert, langfristige Strategien zur Aids-Bekämpfung auszuarbeiten. Die Position der USA, Aids als ein Problem der "nationalen Sicherheit" zu bewerten, konnte im Weltsicherheitsrat durchgesetzt werden, enthielt doch Resolution 1308 die Zielvorgabe, "alle nationalen uniformierten Kräfte, besonders die international eingesetzten" nicht nur aufzuklären, sondern auf eine Aids-Infektion hin zu testen. Für diese Art "Entwicklungshilfe" standen im Haushalt des Pentagon (!) bereits 10 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Allem Anschein nach sah sich die US-Regierung zu diesen Schritten veranlaßt aus der Überlegung heraus, daß das weltweite Ordnungsgefüge und darauf beruhend auch die Vormachtstellung der westlichen Staaten und somit der USA gefährdet werden könnten, wenn regionale und überregionale Repressionsorgane wie Polizei und Militär infolge der Immunschwächekrankheit nicht mehr über ausreichend Personal verfügten.

Zu diesem Zweck, schöngeredet als eine Kampagne, die, wie Weltbankpräsident James Wolfensohn vor dem Weltsicherheitsrat erklärte, Afrika "frei von Armut und frei von Aids" machen sollte, wurden erhebliche Geldmittel freigesetzt. Die Weltbank sicherte 2000 auf der gemeinsam mit dem IWF abgehaltenen Frühjahrskonferenz sogar "unbegrenzte" Geldmittel zu. Afrika brauche einen "Marshall-Plan", hieß es auch in den USA. Im August desselben Jahres unterzeichnete der damalige US-Präsident Bill Clinton ein Gesetz ("Global Aids and Tuberculosis Relief Act of 2000"), durch das der Weltbank in einem Zeitraum von zwei Jahren 300 Millionen US-Dollar übergeben sowie eine weitere Milliarde US-Dollar in Sachen Aidsbekämpfung zugeführt werden sollten. Die US-amerikanische Im- und Export-Bank verkündete im Juli 2000, für eine Milliarde US-Dollar Kredite für den Ankauf von Aids-Medikamenten in Afrika zur Verfügung zu stellen. Ein weiteres, von Clinton im Mai 2000 unterzeichnetes und der "Entwicklung" Afrikas gewidmetes Gesetz ("Africa Growth and Opportunity Act", AGOA) wurde von der amerikanischen Regierung als das erste Handelsgesetz gepriesen, das die "Herausforderung" Aids/HIV direkt angehe; tatsächlich wurden den afrikanischen Regierungen im Gegenzug zu Krediten bzw. Kreditversprechen neoliberale Daumenschrauben angelegt durch die Verpflichtung, Staatseigentum zu privatisieren und die öffentlichen Ausgaben zu senken.


Aids in Südafrika

Da die USA in Südafrika als die stillen Geburtshelfer des Nachapartheidstaates angesehen werden können und somit über Mittel und Wege verfügen werden, durch die sie sicherstellen können, daß auch die ANC-Regierung keine ihren Interessen zuwiderlaufende Politik betreibt, darf angenommen werden, daß die als "Aids-Bekämpfung" firmierende Afrika-Politik Washingtons nicht ohne Auswirkungen auf den Kapstaat geblieben ist. In Südafrika war Aids zum Jahrtausendwechsel längst zu einem extremen und sehr viele Menschen betreffenden Problem geworden. Innerhalb von nur zehn Jahren, zwischen 1990 und 2000, war die Zahl der Aids-Infizierten von 0,8 auf 13 Prozent gestiegen; Südafrika wies eine Ausbreitungsgeschwindigkeit auf wie kaum ein anderes Land.

Die neue Regierung unter Präsident Nelson Mandela hatte sich im eigenen Land durch ihre zögerliche Haltung in der Aids-Bekämpfung recht schnell unbeliebt gemacht. Schon in den ersten Jahren ihrer Amtszeit waren Proteste laut geworden, und so sah es die ANC-Regierung im Jahre 1997 schließlich als geboten an, sich zumindest den Anschein zu geben, in Sachen Aids-Bekämpfung aktiv zu werden. So wurde im Parlament ein Gesetz ("Medicines and Related Substances Control Amendment Act No 90") verabschiedet, durch das die Regierung Zwangslizenzen auf patentierte Arzneimittel hätte vergeben können, um, wenn schon nicht eine kostenlose, so doch eine kostengünstigere medikamentöse Versorgung Infizierter zu ermöglichen. Diese Option ist im Patentschutzabkommen (TRIPS) der Welthandelsorganisation (WTO) ausdrücklich vorgesehen. Offensichtlich hatte sich in dieser Agentur zur Zurichtung aller Regionen der Erde unter das westlich dominierte Verwertungsdiktat, genannt Weltwirtschaft, das Kalkül durchgesetzt, es sei um der weltweiten Akzeptanz dieser Ausbeutungsordnung willen zweckdienlich, in extremen Notfällen wie etwa der seuchenhaften Ausbreitung gefährlicher oder gar tödlicher Krankheiten Ausnahmen vom internationalen Patentschutz zuzulassen.

In Südafrika war ein solcher Notfall durch Aids fraglos gegeben, mögen die Krankheit selbst, ihr Entstehungszusammenhang sowie die Test- und Behandlungsmöglichkeiten auch umstritten sein. Die damals bestehenden und in den westlichen Staaten durchaus bewährten Aids-Medikamente waren mit Behandlungskosten von ca. 500 Euro pro Kopf und Monat für die überwiegende Mehrheit der Betroffenen in Südafrika schier unerschwinglich. In den Gemeinden und ehemaligen Townships, in denen besonders viele Menschen an Aids erkrankten und starben, regte sich gegen diese Mangelversorgung Widerstand. Die Basisgesundheitsdienste, die 1996 eingerichtet worden waren mit der Behauptung, für alle Südafrikaner und Südafrikanerinnen eine kostenlose und ausreichende medizinische Versorgung zu gewährleisten, hielten dieses Versprechen ohnehin nicht. Noch im Jahre 2000 starben in Südafrika durchschnittlich 20mal mehr schwarze Frauen bei der Geburt oder während der Schwangerschaft als weiße.


Aids-Politik in Südafrika

Im Jahre 1998 trat zum ersten Mal die Nichtregierungsorganisation TAC ("Treatment Action Campaign") in Erscheinung, die sich neben der praktischen Unterstützung für Aids-Infizierte und -Kranke vehement für die medikamentöse Versorgung der Betroffenen einsetzte und zu diesem Zweck anfangs mit der ANC-Regierung zusammenarbeitete. Das 1997 erlassene und vom damaligen Präsidenten Nelson Mandela ausdrücklich befürwortete Gesetz zur Vergabe von Zwangslizenzen an einheimische Pharmaunternehmen wurde bis heute nie umgesetzt. Die Regierung des Nachapartheid-Südafrikas stellte die Interessen ausländischer Pharma-Unternehmen respektive befreundeter westlicher Regierungen stets über die Überlebensinteressen ihrer eigenen Bevölkerung, schöpfte sie doch nicht einmal den Handlungsspielraum aus, den die WTO den Entwicklungs- und Schwellenländern gewährte.

Von grundlegenden politischen Differenzen zwischen Nelson Mandela und seinem Nachfolger Thabo Mbeki, ANC-Präsident seit Dezember 1997 und Staatspräsident seit Juni 1999, kann nicht die Rede sein; gleichwohl sollte sich Mbeki mehr noch als Mandela in der Aids-Politik als Hemmschuh für die von den Basisgruppen geforderte medikamentöse Versorgung erweisen. Denkbar wäre allerdings auch, daß Mandela als die im ganzen Land hochverehrte Galionsfigur des ANC von der politischen Bühne zurücktrat, damit sein Nachfolger Mbeki den von der ersten ANC-Regierung eingeschlagenen Kurs, die Ausbreitung der tödlichen Immunschwächekrankheit als ein Phänomen zu interpretieren, für deren Bekämpfung sie nicht zuständig sei, nur um so vehementer fortsetzen könne. Dazu könnte ihm eine Klage einen juristischen Vorwand geliefert haben, die von 40 internationalen Pharmakonzernen - unter ihnen auch sieben deutsche Firmen bzw. deren Tochtergesellschaften, nämlich Bayer, Boehringer Ingelheim, Byk Gulden, Hoechst Marion Roussel, Knoll, E. Merck und Schering - am 18. Februar 1998 gegen die Regierung der Republik Südafrika gegen die Umsetzung des im Jahr zuvor zur Verbilligung der Aids-Medikamente erlassenen Gesetzes eingereicht worden war.

Drei Jahre später, am 5. März 2001, kam die Sache vor den Obersten Gerichtshof in Pretoria zur Verhandlung und wurde durch einen Vergleich beigelegt, durch den sich die Unternehmen verpflichteten, ihre Markenartikel zu verbilligten Preisen abzugeben, wofür ihnen im Gegenzug weiterhin Patentschutz gewährt wurde. Die Behandlungskosten sanken dadurch von zuvor 500 auf etwa 80 Euro pro Monat, was jedoch keineswegs zu Einkommenseinbußen der westlichen Pharmakonzerne geführt haben wird, da der vorherige Preis in Südafrika ohnehin nur von den wenigsten hätte bezahlt werden können. Der Handel mit Nachahmer-Medikamenten, sogenannten Generika, die für rund 30 Euro pro Monat hätten verkauft werden können, blieb in Südafrika zunächst weiterhin verboten.

Wiederum zwei Jahre und viele, viele Aids-Tote später - in jenen Jahren starben bereits 600 Menschen pro Tag an der Immunschwäche bzw. ihren Folgekrankheiten -, am 16. Oktober 2003, erklärte die südafrikanische Wettbewerbskommission zwei von TAC verklagte Unternehmen für schuldig, unter Ausnutzung ihrer Patentrechte den Menschen den Zugang zu den lebensverlängernden Medikamenten zu verwehren. Zwei Monate später kam es abermals zu einer außergerichtlichen Einigung zwischen den verurteilten Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim und GlaxoSmithKline, die sich nun (erst) bereit erklärten, mehr Lizenzen für die Herstellung sowie den Import der Generika zu erteilen.

Diese Teilerfolge waren nicht vom regierenden ANC, sondern durch den Druck der Öffentlichkeit und die Aktivitäten von Basisorganisationen wie TAC erstritten worden; womöglich sogar gegen den mehr oder minder klammheimlichen Widerstand der Regierung. So hatte Präsident Mbeki seit seinem Amtsantritt im Juni 1999 immer wieder die Wirksamkeit antiretroviraler Medikamente sowie der Aids-Tests in Zweifel gezogen und war darin von der von ihm selbst neu eingesetzten Gesundheitsministerin Dr. "Manto" Tshabalala-Msimang nach Kräften unterstützt worden. Mbeki und Tshabalala-Msimang sollten in Südafrika die einflußreichsten Protagonisten einer "Aids-kritischen" Position werden, die ihren Ursprung in einem Wissenschaftler-Streit hatte, der keiner war.


Der Wissenschaftlerstreit und seine Nutzanwendung in Südafrika

So machten einige der "Aids-Kritiker" geltend, daß nicht einmal die Existenz des HI-Virus bewiesen sei. Bis zu 60 Ursachen für falsch-positive Ergebnisse bei den gängigen HIV-Tests wurden angeführt, um zu unterstreichen, daß diese Tests wie auch die Behandlung fehlerhaft seien. Der Fehldiagnose "Aids" würde sich eine Fehlbehandlung "Aids" anschließen, so die These der Kritiker, die für die vielen Toten neben einer ganzen Reihe klassischer Krankheiten auch spezifische Ursachen pharmakologischer, toxikologischer, immunologischer und sogar psychologischer Art anführten. Der sogenannte Wissenschaftlerstreit wurde auf die Spitze getrieben durch die These, bestimmte Mittel wie etwa AZT (Azidothymidin/Retrovir), das älteste Aids-Medikament überhaupt, aber auch einige, seit 1996 in Kombinationspräparaten enthaltene Proteasehemmer, seien die wichtigsten pharmakologischen Ursachen. Nicht der Aids-Virus, sondern bestimmte Aids-Medikamente hätten demnach eine tödliche Wirkung, und so hätte leicht der Eindruck entstehen können, überaus engagierte Ärzte, Forscher und Politiker würden auf der Basis ihrer tiefen Sorge um die betroffenen Menschen in einer Frage auf Leben und Tod miteinander im Streit liegen.

So berechtigt eine Medizin- und Wissenschaftskritik im allgemeinen wie im besonderen auch immer sein mag, muß es doch nachdenklich stimmen, daß in den westlichen Staaten durchaus Erfolge in der Aids-Behandlung zu verzeichnen waren und sind, während sich gerade in Afrika, dem ohnehin in Armut gehaltenen und von den ehemaligen Kolonialherren einst in eine nicht minder knebelnde Schuldknechtschaft entlassenen Kontinent, Aids-Medikamente wie AZT als tödliche Fallen erwiesen haben sollen. Demnach wäre es geradezu eine Verpflichtung einer Regierung wie der im Südafrika Mbekis, ihre Bevölkerung vor solchen Todesfallen zu beschützen... Die Frage nach dem Motiv und besser noch dem Nutzen der jeweiligen, in dem vermeintlichen Wissenschaftlerstreit einander scheinbar so unversöhnlich gegenüberstehenden Positionen ist an dieser Stelle dringend geboten.

Gelingt es, die Ansicht durchzusetzen, die vorhandenen Aids-Tests sowie die Behandlungsmittel seien nicht nur nutzlos, sondern ihrerseits sogar gesundheitsgefährdend, wäre die Schlußfolgerung, die von den Aktivistengruppen so vehement geforderte und in jedem Fall kostenintensive Behandlung Millionen Aids-Infizierter und -Kranker zu verweigern, geradezu zwingend - mit der wohl absehbaren Folge, daß diese und weitere Menschen an wie auch immer zu bezeichnenden Krankheiten und Mangelerscheinungen sterben werden. Wer nicht einzusehen vermag, warum ein Virus, ob er nun nach klassischen virulogischen Gesichtspunkten in seiner Existenz nachgewiesen werden kann oder nicht, der aber eine tödliche Erkrankung auszulösen scheint, in afrikanischen Staaten nicht mit denselben Medikamenten behandelt werden soll, mit denen Betroffenen in den reichen Industriestaaten das Leben zumindest verlängert werden kann, wird weiterhin eine solche Versorgung fordern und diejenigen, die sie verweigern wollen, für die Toten verantwortlich machen.

Das Argument der "Aids-Kritiker", der HI-Virus sei in Afrika "ein anderer", ist zudem nicht eben überzeugend, zumal im übrigen damit argumentiert wird, daß eine Verursacherrolle des Virus oder gar seine Existenz gar nicht bewiesen seien. So begründet es auch immer sein mag, wissenschaftliche Erkenntnisse, Axiome und Anwendungsverfahren unter Berücksichtigung der ihnen zugrundeliegenden Denkstrukturen und Absichten in Frage zu stellen, liegt der Verdacht in diesem Fall doch nahe, daß diejenigen, für die die lautlose "Entsorgung" der Menschenmassen auf dem afrikanischen Kontinent, an denen kein wie auch immer geartetes Verwertungsinteresse besteht, weshalb ihre noch dazu kostenintensive Lebenserhaltung besonders negativ ins Kalkül schlägt, sich jedes nur erdenklichen "kritischen" Arguments gegen eine allgemeine medizinische Versorgung der Aids-Infizierten und -Kranken bedienen.

Daß westliche Pharmaunternehmen ein spezifisches Profitinteresse an diesem aus der großen Not von Millionen Menschen geborenen Geschäft haben, trifft sicherlich zu. Infizierten die verfügbaren Medikamente vorzuenthalten, nur um zu verhindern, daß in einem solchen Weltwirtschaftssystem internationale Konzerne als "unmoralisch" erachtete Umsätze und Gewinne machen, stellt jedoch einen blanken Zynismus bzw. ein leicht zu durchschauendes Täuschungsmanöver dar, ließe sich doch wesentlich plausibler daraus die Schlußfolgerung ableiten, daß dies kein Einzelfall, sondern die Regel in einer kapitalistischen Gesellschaft ist, in der nicht nur lebenswichtige Medikamente, sondern auch Grundnahrungsmittel unter das Diktat eines vermeintlich existierenden "Marktes" gestellt wurden, dessen Kernfunktion darin besteht, den Mangel zu Lasten derer zu verwalten, denen auf diese Weise der Zugang zum Lebensnotwendigsten verwehrt werden kann.

In Südafrika hätte sich der ANC, der sich seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte im Jahre 1994 innerhalb seiner eigenen Organisation konsequent darum bemüht hat, sich seiner sozialistischen Anteile zu entledigen, spätestens an dieser Stelle besinnen und die Systemfrage stellen können. Da sich herausgestellt hat, daß weder die Aids-Katastrophe noch die elenden Lebensverhältnisse sehr vieler Menschen unter den gesellschaftspolitischen Grundsatzbedingungen im Interesse der Bevölkerung gelöst oder auch nur wirksam in Angriff genommen werden konnten, hätten diese - in bester demokratischer Tradition - zur Disposition gestellt und dem Souverän zur Entscheidung vorgelegt werden können.


Armut und/oder Aids?

Im Juli 2000 wurde in Durban mit 10.000 Teilnehmern ein sogenannter Welt-Aids-Kongreß abgehalten, in dessen Vorfeld in Folge der als "eigenwillig" bezeichneten Aids-Politik der Regierung Südafrikas von "konventionellen" Wissenschaftlern Boykottdrohungen laut geworden waren. Präsident Mbeki blieb seiner eingeschlagenen Richtung treu und erklärte in seiner Eröffnungsrede, daß "extreme Armut" die weltweite Hauptursache für Krankheit und Tod sei und daß "wir nicht alles einem einzigen Virus anlasten könnten." Dieser Standpunkt rief auf dem Kongreß heftige Gegenreaktionen hervor, wurde jedoch, namentlich in Kreisen westlicher Nichtregierungsorganisationen und ihres politischen Umfeldes, auch positiv aufgenommen. Dabei liegt ihm ein fundamentaler und absichtlich eingesetzter Zirkelschluß im Denken zugrunde, wird mit ihm all denjenigen, die eine Versorgung HIV-infizierter und erkrankter Menschen in Südafrika und anderen Staaten fordern, unterstellt, an der Bekämpfung von Armut und Hunger nicht interessiert zu sein oder diese Menschheitsprobleme zu ignorieren.

Eine solche, durch Mbekis Äußerungen nahegelegte Schlußfolgerung entbehrt jeder Grundlage. Im Jahre 2003 besuchte Zackie Achmat, der Vorsitzende der größten Aids-Nichtregierungsorganisation Südafrikas, "Treatment Action Campaign" (TAC), den Ökumenischen Kirchentag in Berlin. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Haltung der Regierung Südafrikas, nämlich eine medikamentöse Versorgung HIV-Infizierter und -Erkrankter so weit wie möglich zu verweigern, nicht geändert. In einem Interview mit der Monatszeitschrift "afrika süd" (Nr. 4, Juli/August 2003) beschrieb Achmat die Erfahrungen, die seine Organisation in den zurückliegenden Jahren mit der Regierung Südafrikas gemacht hatte, folgendermaßen:

Wir mussten feststellen, dass wir nach viereinhalb Jahren der Verhandlungen mit der Regierung immer noch in der Situation sind, dass jeden Tag 600 Menschen an Aids und Aids-Begleitkrankheiten sterben. Sie haben keine Zeit gefunden, sich mit uns zusammen zu setzen und das Problem zu lösen oder auch nur ernsthaft anzugehen. Vor allem aber: Die zahlreichen Gelegenheiten, die es dazu gegeben hätte, wurden von der Regierung alle verschwendet.

Die wichtigste war wohl im Juni 2002. Wir haben einen Kongress zum Thema der Aids-Behandlung organisiert und die Regierung eingeladen, sich unsere Vorschläge anzuhören. Es kamen dann zwar ein paar Vertreter der Provinzregierung und auch ein Vertreter eines nationalen Ministeriums, aber die Regierung insgesamt hat diesen Kongress völlig ignoriert.

Anschließend haben wir unser Anliegen im Rahmen des Nationalen Arbeitsrates für Wirtschaft und Entwicklung (Nedlac) vorgebracht, der aus Regierung, Gewerkschaften und Privatwirtschaft besteht. Mit Vertretern von Gewerkschaften und der Wirtschaft haben wir ein Taskteam gebildet, das einen Rahmenplan für Behandlung und Prävention entwickelt hat, der wirklich sehr gut war. Dabei haben wir uns vor allem auf eine gerechte Verteilung der Kosten für die notwendigen Maßnahmen geeinigt. Und dann weigerte sich die Regierung in letzter Minute, diesen Plan zu unterzeichnen, nachdem er bereits von allen anderen Seiten gebilligt worden war. Von Seiten der Regierung passierte gar nichts. Das größte Problem Südafrikas wird völlig verdrängt.

Achmat stellte klar, daß es TAC ungeachtet dieser Feststellungen nach wie vor nicht darum gehe, die Regierung Mbeki in Mißkredit zu bringen. Der TAC-Vorsitzende erwähnte eine von der Regierung selbst in Auftrag gegebene Wirtschaftlichkeitsstudie, derzufolge die medikamentöse Versorgung aller HIV-Infizierten notwendig, realisierbar und bezahlbar sei. Daß die Regierung ihre Aids-Politik gleichwohl nicht änderte, veranlaßte den TAC-Vorsitzenden mitnichten zu der sich aufdrängenden, wenn auch ungeheuerlich anmutenden Frage, ob die ANC-Regierung womöglich gar nicht beabsichtige, alle Möglichkeiten zu nutzen, um das Leben der Infizierten längstmöglich zu erhalten. Widerspräche es nicht der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin, der sich der ANC in seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik unterworfen hat, das Leben "unproduktiver" HIV-Infizierter und Aids-Kranker, noch dazu unter hohen Kosten, "unnötig" zu verlängern?

Der Regierung Mbeki war es durch ihre Rhetorik, Armut und nicht der HI-Virus sei weltweit der Killer Nr. 1, gelungen, ihre Kritiker in die politische Defensive zu drängen. Dabei steht die Frage nach der weltweit häufigsten Todesursache in gar keinem Zusammenhang zu den drängenden und ungelösten Problemen der medikamentösen und sonstigen Versorgung der in Südafrika im Jahr 2003 bereits auf vier bis fünf Millionen geschätzten HIV-Infizierten. So glaubte schließlich auch der TAC-Vorsitzende Achmat, sich gegen den Vorwurf, Armut und Armutsbekämpfung nicht ernst zu nehmen, verteidigen zu müssen, indem er erklärte:

Für jeden, der sich ernsthaft mit der HIV-Problematik in Südafrika beschäftigt hat, ist klar, dass Armut das Risiko der Übertragung von HIV und das Risiko, tatsächlich an Aids zu sterben, entscheidend verstärkt. Wer arm ist, steckt sich eher an, und wer dann zusätzlich noch an Aids erkrankt, der wird noch ärmer. Dann müssen Familien Geld für Medikamente ausgeben, das sie eigentlich für die Ausbildung ihrer Kinder ausgeben sollten.

Mbekis flammender Appell gegen die weltweite Armut weist im Zusammenhang mit Aids eine nicht zufällige Ähnlichkeit mit der von Weltbankpräsident James Wolfensohn im Januar 2000 vor dem Weltsicherheitsrat gehaltenen Rede auf, in der dieser die künftige Afrika-Politik internationaler Institutionen wie UN, IWF und Weltbank unter die Devise "Frei von Armut, frei von Aids" gestellt sehen wollte. Es gehört zur Programmatik dieser Agenturen weltweiter Verfügungsverhältnisse, die von Armut, Arbeitslosigkeit und Aids betroffenen und bedrohten Menschen über ihre Absichten zu täuschen und diese glauben zu machen, sie seien an der Behebung und zumindest Minderung ihrer Misere in besonderem Maße interessiert. Die Fakten sprechen unterdessen eine eigene, unmißverständliche Sprache. Die Armut hat sich nicht nur weltweit, sondern auch in Südafrika qualifiziert, und zwar auch in der Regierungszeit des ANC. Es steht Thabo Mbeki deshalb denkbar schlecht zu Gesicht, sich als Fürsprecher der Armen dieser Welt zu geben, in Südafrika wird ihm dies ohnehin kaum jemand abnehmen.

Im Jahre 2000 wurde die Arbeitslosigkeit in Südafrika auf 40 Prozent geschätzt, woran sich bis heute nichts geändert hat. Der ANC hatte sich durchaus darum verdient gemacht, die aus Kolonial- und Apartheid-Zeiten stammenden Besitzverhältnisse in ihrem Kern unangetastet zu lassen, und so wies Südafrika im Jahre 2000 nach Brasilien das größte "Wohlstandsgefälle" auf, wie die Tatsache umschrieben wird, daß der nationale Reichtum - das Land wies ein Bruttosozialprodukt von 3160 US-Dollar pro Kopf auf - nur 15 Prozent der Bevölkerung zur Verfügung steht, während die Hälfte der Menschen von weniger als 70 US-Dollar pro Monat leben muß. Hätte der seit 1994 regierende ANC die Axt an diesen höchst ungleichen Verhältnissen anlegen wollen, hätte er dazu in den ersten sechs Jahren seiner Regierungszeit genug Gelegenheit gehabt. In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, daß im Dezember 1999, ein halbes Jahr nach dem Amtsantritt Mbekis als Staatspräsident, Südafrika das größte Waffengeschäft seiner Geschichte tätigte und 44 Milliarden Rand (etwa 14 Milliarden DM oder 5,3 Milliarden US-Dollar) für hochmodernes und zur Armuts- oder Aidsbekämpfung vollkommen untaugliches Kriegsgerät aufwendete.

Hätte die ANC-Regierung, wie sie durch Mbekis Erklärung, "Armut" sei weltweit der Killer Nr. 1, suggeriert, die extremen Lebensbedingungen armer Menschen in Südafrika, von denen viele auch Jahre nach dem Ende der Apartheid noch immer nicht über genügend Nahrung, sauberes Trinkwasser, ausreichenden Wohnraum und Strom verfügten, verbessern wollen, hätte die Situation im Lande im Jahre 2000 schon eine andere sein müssen. Nicht von ungefähr sprach Mbeki in seiner Eröffnungsrede auf dem Welt-Aids-Kongreß im Juli 2000 im weltweiten Maßstab von der "Armut", für die der ANC-Staat im eigenen Land von Basisorganisationen schon seit langem verantwortlich gemacht wurde. Seiner eigenen Argumentation zufolge hätte spätestens nach 2000 eine verstärkte Armutsbekämpfung erfolgen müssen, um das seiner Meinung nach fälschlicherweise unter Aids subsumierte Massensterben zu stoppen oder zumindest zu verringern. Das Gegenteil traf jedoch ein, die Durchschnittsrate täglicher Aids-Toter ist in Südafrika von 600 sogar noch auf 800 angestiegen, Armut und Arbeitslosigkeit wuchsen ebenfalls an.


Aids-Medikamente nur für wenige - eine Selektion auf Leben und Tod

Ohnehin hat die ANC-Regierung ihren in einem bestimmten Zusammenhang in Anspruch genommenen "Aids-kritischen" Standpunkt nicht stringent durchgehalten. So veröffentlichte das Kabinett im April 2002 eine Stellungnahme, in der ungeachtet der Äußerungen Mbekis und seiner Gesundheitsministerin antiretrovirale Medikamente in der Aids-Bekämpfung als wirksam anerkannt wurden. Dieser Beschluß bildete den Startschuß für ein staatliches Programm zu einer allerdings nur sehr begrenzten medizinischen Versorgung HIV-Infizierter. In demselben Jahr hatte das Verfassungsgericht die Regierung dazu verurteilt, schwangeren HIV-Infizierten ein Medikament zur Verfügung zu stellen, das die Übertragung des Virus auf den Fötus in den meisten Fällen verhindert. Während in den europäischen Staaten die Mutter-Kind-Übertragung auf unter 1 Prozent gesenkt werden konnte, werden in Südafrika wie im gesamten südlichen Afrika noch heute sehr viele Kinder schon bei der Geburt infiziert - was nach Ansicht vieler Aids-Aktivisten vermeidbar wäre. Noch im November 2007 gab ein Staatssekretär des südafrikanischen Gesundheitsministeriums die Zusage, innerhalb von zwei Wochen Maßnahmen zur Verhinderung der Mutter-Kind-Übertragung in die Wege zu leiten, doch geschehen ist bis heute nichts.

Im Jahre 2003 hatte sich die Regierung in Reaktion auf den öffentlichen Druck zu einem Programm zur Verteilung antiretroviraler Medikamente veranlaßt gesehen. TAC-Aktivisten waren inzwischen zu Protestformen zivilen Ungehorsams übergegangen. Am 14. Februar 2003 hatten sie einen Protestmarsch gegen die Aids-Politik der Regierung organisiert, bei dem sich wütende Arbeiter nur auf Zureden von Gewerkschaftern (!) davon abhalten ließen, einen unbefristeten Streik anzufangen. Im Jahre 2002 hatte TAC das deutsche Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim und das britische GlaxoSmithKline verklagt, um diese zu zwingen, die lebensverlängernde Behandlung von HIV-Aids-Patienten durch kostengünstigere Generika zu ermöglichen. Am 16. Oktober 2003 erklärte die Wettbewerbskommission Südafrikas beide Unternehmen für schuldig, unter Ausnutzung ihrer Patentrechte den Betroffenen den Zugang zu den lebensverlängernden Medikamenten durch überhöhte Preise zu verhindern. Dr. Eric Goemaere, Leiter des HIV/Aids-Projektes von "Ärzte ohne Grenzen", glaubte daraufhin, daß die Regierung nun keinen Grund mehr hätte, die medikamentöse Versorgung der 500.000 behandlungsbedürftigen Infizierten noch länger hinauszuzögern.

Ein Jahr später wurde ein Programm aufgenommen, durch das allerdings nur 175.000 Infizierte kostenlos Medikamente erhielten. Laut TAC benötigten zu diesem Zeitpunkt - jeden Tag starben inzwischen 800 Menschen an Aids - 700.000 Infizierte antiretrovirale Medikamente. Der Weltspiegel stellte am 20. November 2004 fest, daß die antiretrovirale Therapie derzeit in den reichen Ländern fast allen HIV-Infizierten zugute käme, wodurch die Todesrate dort um bis zu 80 Prozent gesenkt werden konnte. In Afrika hingegen werde sie "wegen ihrer hohen Kosten" nicht "auf breiter Ebene" eingesetzt. Präsident Mbeki hatte sich im Oktober 2000 aus der öffentlichen Aids-Diskussion bereits wieder zurückgezogen und die prekäre Aufgabe, vor der eigenen Bevölkerung diese Aids-Politik zu vertreten, an Jacob Zuma, den damaligen Vizepräsidenten und Leiter des Nationalen Aids-Rates und heutigen ANC-Präsidenten, übergeben. Dies war eine kluge Entscheidung, da der Unmut gegen Mbekis Aids-Thesen angewachsen war, nachdem im Februar 2001 bekannt geworden war, daß der Präsident mit David Rasnick, einem Vorstandsmitglied der international besetzten "Group for the Scientific Reappraisal of the HIV/AIDS Hypothesis" mit Sitz in den USA aufgenommen hatte. Rasnick war mit der Behauptung in Erscheinung getreten, durch AZT, das erste Aids-Medikament, seien "mindestens Zehntausende" Menschen umgebracht worden.

Dieser Zusammenschluß von "Aids-Kritikern", Wissenschaftlern, Ärzten, Journalisten und Aktivisten hatte es sich, wie es hieß, zum Ziel gesetzt, eklatante Fehler in der HIV-Aids-Theorie zu benennen. Diese Gruppe vertrat den Standpunkt, es gäbe keine Beweise für die Verursacherrolle des HI-Virus und behauptete, das vermeintliche Aids-Syndrom bestünde aus einer Reihe bekannter Krankheiten. Die Gruppe machte zudem pharmakologische, toxikologische, immunologische und psychologische Ursachen für das ihrer Meinung nach fälschlich als Aids katalogisierte Massensterben verantwortlich. Hier eine womöglich sogar fundamentale Medizin- oder Gesellschaftskritik zu vermuten, stellt jedoch eine eklatante Fehleinschätzung dar.


Der Wahrheitsstreit und seine ordnungspolitische Funktion

Der vermeintliche Streit unter Wissenschaftlern - den "Aids-Kritikern" standen unter anderem rund fünftausend Forscher gegenüber, die kurz vor dem Welt-Aids-Kongreß von 2000 die Durban-Erklärung unterschrieben, um ihre Auffassung, daß sehr wohl der HI-Virus Aids auslöse, zu bekräftigen - erfüllt eine ordnungspolitische Funktion und steht mit Sicherheit nicht im Interesse der Betroffenen, von denen allein in Südafrika nach wie vor durchschnittlich achthundert pro Tag ihr Leben verlieren. Angesichts dieser Lage ist der Wahrheitsstreit darüber, ob nun HIV eine Immunschwächekrankheit Aids auslöst oder die Betroffenen als Aids-Tote und -Kranke fehldiagnostiziert wurden und tatsächlich in Folge konventioneller Krankheiten und/oder des Mangels an Nahrungsmitteln und Trinkwasser ums Leben gekommen sind, nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv, da er davon ablenkt, daß es vielen Menschen schlicht an allem mangelt und ihnen auch keine ausreichende medizinische Behandlung konventioneller Krankheiten zur Verfügung steht.

Das insbesondere von Thabo Mbeki in die öffentliche Aids-Debatte geworfene Argument, Armut sei das viel größere Problem, wirft ein schlechtes Licht auf ihn und seine Regierung, müßte er sich doch im Gegenzug fragen lassen, warum er die Grundversorgung aller Menschen mit sauberem Trinkwasser, Nahrungsmitteln, Wohnraum und Elektrizität überhaupt mit Aids in Verbindung bringt. Will er den Infizierten damit sagen, sie sollten froh sein, so sie denn (noch) genug zu essen und zu trinken haben, daß ihr Leben "nur" durch Aids gefährdet ist? Durch seine Aussage, an Armut und nicht an Aids würden weltweit die meisten Menschen sterben, stellt er einen Zusammenhang her, wo überhaupt keiner besteht - so als wäre es vermessen, nicht nur die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen wie eben sauberem Trinkwasser und Nahrung sowie genügend Wohnraum zu erschwinglichen Preisen, sondern im Falle welcher Krankheiten auch immer eine ausreichende medizinische Versorgung zu fordern.


Die Regierung Mbeki nimmt Anleihen bei den "Aids-Kritikern"

Die Regierung Mbeki hat sich durch das Manöver des Präsidenten und seiner Gesundheitsministerin, Fragen und Forderungen im Zusammenhang mit der vollkommen ungelösten Aids-Katastrophe im Lande mit dem Hinweis, "Armut" sei weltweit der größte Killer, abzuwehren, in eine Lage gebracht, in der ihr das massenhafte Sterben in allen Teilen des Landes und, wie man inzwischen weiß, auch allen Bevölkerungsgruppen, nicht unbedingt angelastet wird. Und obwohl die Regierung Mbeki ihren Aids-kritischen und vor allem Aids-Medikamente-kritischen Standpunkt keineswegs konsequent einnimmt, da sie in einem wenn auch begrenzten Rahmen gleichwohl ein Programm zur Versorgung Infizierter mit antiretroviralen Mitteln unterhält, und obwohl Aktivisten und Organisationen wie TAC nach wie vor eine (bessere) Versorgung der Kranken und Infizierten fordern, wurde die politische Stabilität, die es dem ANC erlaubte, seine Regentschaft und seine Aids-Politik fortzusetzen, nicht erschüttert.

Und so ist in Südafrika - und in dieser Hinsicht nimmt der Kapstaat in Afrika keineswegs eine Sonderrolle ein - eine für viele Menschen tödliche und potentiell tödliche Situation entstanden. Es mag dahingestellt bleiben, ob gegen eine Apartheid-Regierung, wären zu ihrer Zeit in einem ähnlichen Ausmaß Menschen an einer tödlichen Krankheit gestorben, ohne daß die medizinischen Möglichkeiten, ihr Leben zu verlängern, vollständig genutzt worden wären, nicht der Vorwurf des Völkermords hätte gemacht werden können. Der "Wissenschaftlerstreit" trug dazu bei, hier alle Fronten zu verwischen, noch bevor sie einen politischen Wechsel hätten erzwingen können, etwa durch den Wahlerfolg einer durch eine landesweite, außerparlamentarische Protestbewegung gestützten Partei, die sich einen grundlegenden Wandel in Aidspolitik und Armutsbekämpfung auf die Fahnen geschrieben hätte.

Während in den führenden Industriestaaten durch antiretrovirale Medikamente nicht nur die Aids-Sterblichkeit um bis zu 80 Prozent gesenkt werden konnte und inzwischen sogar Medikamente entwickelt wurden, von denen eine von der Europäischen Kommission geförderte Studie behauptet, sie könnten das Immunsystem so weit wiederherstellen, daß es dem Immunstatus gesunder Menschen nahekäme, werden antiretrovirale Medikamente in Südafrika noch immer nicht allen Betroffenen zur Verfügung gestellt. Die ANC-Regierung, deren Kabinett antiretrovirale Medikamente im April 2002 anerkannt und 2004 mit der Versorgung von 175.000 Menschen begonnen hatte, vertrat wiederum zwei Jahre später, im August 2006 auf einer internationalen Aids-Konferenz in Toronto, abermals den Standpunkt, es sei zweifelhaft, ob HIV Aids auslöse, weshalb sie es ablehne, die teuren HIV-Medikamente an alle Betroffenen zu verteilen.

Zu diesem Zeitpunkt forderten sechs südafrikanische Oppositionsorganisationen den Rücktritt von Gesundheitsministerin Tshabalala-Msimang - wegen des "unnötigen Verlustes an Menschenleben". Zu einer Regierungskrise wuchsen sich diese Proteste jedoch nicht aus, der ANC profitierte abermals von seinem Gutmenschen-Bonus und wußte diesen gerade auch in der Aids-Politik einzusetzen. So kamen beispielsweise am 1. Dezember 2007, dem Welt-Aids-Tag, in Johannesburg 50.000 Menschen zu einem Popkonzert für den Kampf gegen die Krankheit zusammen. Nelson Mandela rief bei dieser Gelegenheit keineswegs dazu auf, endlich die Versorgung aller Kranken und Infizierten mit antiretroviralen Medikamenten sicherzustellen, sondern lediglich dazu, den Zyklus neuer Infektionen durch den HI-Virus zu durchbrechen - so als habe man sich mit dem drohenden Tod des auf über fünf Millionen Menschen angewachsenen Heeres Infizierter längst abgefunden. Mandelas Organisation "46664", benannt nach der Häftlingsnummer, die er in 18 seiner insgesamt 27 Gefängnisjahren auf Robben Island getragen hatte, veranstaltete bereits zum 5. Mal ein solches Wohltätigkeitskonzert.


Das Sterben erfaßt den "produktiven Teil" der Gesellschaft Südafrikas

Wer wollte da schon auf den bitterbösen Gedanken kommen, daß die ANC-Regierung die Gesundheitsversorgung in Sachen Aids stets nur so weit betreibt, wie es zur Stabilisierung ihrer Herrschaft erforderlich zu sein scheint, im übrigen jedoch die "Krankheit" Aids ihr tödliches Werk fortsetzen läßt? Im Februar 2007 wurde von der Universität von Südafrika und dem Meinungsforschungsinstitut Markinor eine zwischen 2002 und 2005 erstellte Studie veröffentlicht, derzufolge die Immunschwächekrankheit eben nicht nur die uninformierte und medizinisch schlecht versorgte Landbevölkerung betrifft, sondern auch in zunehmendem Maße Wohlhabende, die eigentlich über die Aids-Gefahren hätten aufgeklärt sein müssen. Die beteiligten Forscher sahen in der Ausbreitung der Krankheit nun eine Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung Südafrikas, da die besonders "produktive" Altersgruppe der 30- bis 34jährigen die höchsten Zuwachsraten aufwiese. Elf Prozent der Bevölkerung oder 5,5 von etwa 45 Millionen Einwohnern wurden in dieser Studie als HIV-positiv genannt.

Inzwischen erhalten in Südafrika 300.000 Menschen durch staatliche Programme antiretrovirale Medikamente und weitere 100.000 durch private Organisationen. Der tatsächliche Bedarf wird allerdings noch immer auf das Doppelte geschätzt. Da nach wie vor nicht alle Menschen, die solcher Medikamente bedürfen, diese auch erhalten, muß von einer Selektion auf Leben und Tod ausgegangen werden. Sollte in das Vorgehen der Regierung die von Wissenschaftlern vorgebrachte Überlegung eingeflossen sein, die wirtschaftliche Entwicklung Südafrikas könne durch Aids beeinträchtigt werden, da auch der "produktive" Teil der Bevölkerung, also gutausgebildete, berufstätige, eher wohlhabende und vermutlich überproportional häufig auch weiße Menschen, bedroht sei, wäre eine Gesundheitspolitik, die diesen Teil im Gegensatz zu dem Gros "unproduktiver" und in Armut lebender Menschen begünstigt, die logische Folge.

Im Januar 2007, so war der südafrikanischen Presse zu entnehmen, schlugen die Unternehmen, die den Zuschlag für die auf Gesamtkosten von 30 Milliarden Euro kalkulierten Bauvorhaben für die Fußball-Weltmeisterschaft 2010 bekommen hatten, Alarm. Kurz zuvor, im Dezember 2006, hatte Südafrika den Kampf um die Ausrichtung dieses sportlichen Großereignisses, das zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent ausgetragen werden sollte, für sich entscheiden und damit seine Vormachtstellung als führende Regionalmacht Afrikas unterstreichen können. Die Bauunternehmen schlugen Alarm, weil eine ganze Nachwuchsgeneration von Ingenieuren und Technikern durch Aids eliminiert werde. Es fehle an Fachkräften, um die WM-Vorhaben wie geplant realisieren zu können, hieß es. In derselben Logik, die Gefährdung des Lebens "produktiver" Menschen und keineswegs aller zu monieren, bemängelte eine Ingenieurszeitung, daß nur 15 Prozent der Bauunternehmen Südafrikas HIV-Programme unterhielten, was zu dem "Fachkräftemangel" geführt habe.

Die südafrikanische Regierung stellte 2005 einen Fünf-Jahres-Plan in Sachen Aids auf, durch den die Inangriffnahme dieses nach wie vor extremen Problems abermals in die Zukunft verlagert wurde. Der Plan enthält im wesentlichen Zielvorgaben, die auf einen Zeitraum bis zum Jahre 2011 - und damit nach der Fußball-Weltmeisterschaft - terminiert wurden. Bis dahin, so ist dem vielfach als "ehrgeizig" gelobten Plan zu entnehmen, solle die Zahl der Neuinfektionen auf die Hälfte reduziert und 80 Prozent der Bedürftigen mit Aids-Medikamenten versorgt werden. Die Politik, durch Versprechen und Perspektiven die eigene Bevölkerung ruhigzustellen und ihren Hoffnungen immer wieder neue Nahrung zu geben, obwohl nach über eineinhalb Jahrzehnten ANC-Regierung und einer Katastrophe namens Aids mehr Menschen ums Leben gekommen sind als zu Zeiten der Apartheid, hat sich in Südafrika im Interesse der herrschenden Eliten und ihrer westlichen Partner aufs beste bewährt. Und so steht zu befürchten, daß die aus neoliberaler Sicht "unproduktive" Bevölkerung des Kapstaates in ungebremster Geschwindigkeit auch weiterhin dezimiert werden wird.


(Fortsetzung folgt)

16. April 2008