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STANDPUNKT/002: Die Kreuzfahrer und die Zionisten (Uri Avnery)


Die Kreuzfahrer und die Zionisten

von Uri Avnery, 2. September 2017


VOR EIN paar Tagen war ich in Cäsarea, saß in einem Restaurant und schaute hinaus aufs Meer. Die Sonnenstrahlen tanzten auf den kleinen Wellen, die geheimnisvollen Ruinen der alten Stadt standen hinter mir. Es war heiß, aber nicht zu heiß, und ich dachte über die Kreuzfahrer nach.

Cäsarea wurde vor etwa 2000 Jahren von König Herodes erbaut und er nannte die Stadt nach seinem Gebieter Augustus Cäsar. Unter den Kreuzfahrern wurde sie wieder eine bedeutende Stadt und von ihnen befestigt. Diese Befestigungen machen den Ort jetzt zu einer Touristenattraktion.

Ein paar Jahre meines Lebens war ich von den Kreuzfahrern besessen. Es begann während des Unabhängigkeitskrieges von 1948, als ich zufällig ein Buch über die Kreuzfahrer las und entdeckte, dass sie dieselben Orte gegenüber dem Gazastreifen besetzten, die mein Bataillon besetzt hielt. Die Kreuzfahrer brauchten mehrere Jahrzehnte, um den Streifen zu erobern, der sich damals bis Ashkalon erstreckte. Heute ist er noch immer in muslimischer Hand.

Nach dem Krieg las ich alles, was ich über die Kreuzfahrer bekommen konnte. Je mehr ich las, umso mehr fesselte es mich. So sehr, dass ich etwas tat, das ich weder vorher noch nachher jemals getan habe: Ich schrieb einen Brief an den Autor des maßgeblichsten Buches über die Zeit, den britischen Historiker Steven Runciman.

Zu meiner Überraschung erhielt ich umgehend eine handgeschriebene Antwort, in der er mich einlud, ihn zu besuchen, wenn ich wieder einmal in London sein würde. Zufällig war ich ein paar Wochen später in London und rief ihn an. Er bestand darauf, dass ich sofort zu ihm komme.

Wie fast jeder, der gegen die Briten in Palästina gekämpft hatte, war ich ein Anglophiler. Runciman war ein typischer britischer Aristokrat mit allen wunderlichen Eigenarten, die dazugehören, und er war sehr sympathisch.

Wir sprachen stundenlang miteinander und setzten das Gespräch fort, als meine Frau und ich ihn später in einer alten schottischen Festung an der Grenze zu England besuchten. Rachel, die noch anglophiler als ich war, verliebte sich beinahe in ihn.


WORÜBER WIR redeten, war ein Thema, das ich gleich zu Beginn unserer ersten Zusammenkunft zur Sprache gebracht hatte: "Als Sie Ihr Buch schrieben, haben Sie da jemals an die Ähnlichkeiten zwischen den Kreuzfahrern und den modernen Zionisten gedacht?"

Runciman antwortete: "Tatsächlich hatte ich kaum an etwas anderes gedacht. Ich wollte dem Buch den Untertitel geben: 'Ein Wegweiser für die Zionisten, wie man es nicht tun sollte'". Und nach einem kurzen Lachen, "aber meine jüdischen Freunde rieten mir davon ab."

In der Tat ist es in Israel fast ein Tabu, über die Kreuzfahrer zu reden. Wir haben ein paar Experten, aber im Allgemeinen wird das Thema vermieden. Ich kann mich nicht erinnern, während der paar Jahre, die ich (hier) in die Schule ging, etwas über die Kreuzfahrer gehört zu haben.

Das ist nicht so erstaunlich, wie es klingen mag. Die jüdische Geschichte ist ethnozentrisch, nicht geographisch. Sie beginnt mit unserem (legendären) Vorfahren Abraham und seinen Gesprächen mit Gott und fährt fort bis zur Niederlage der Bar Kochba-Rebellion gegen die Römer im Jahre 136 A.D.

Von da an verlässt unsere Geschichte Palästina, tanzt um die Welt und konzentriert sich auf jüdische Ereignisse bis zum Jahr 1882 als die ersten Vor-Zionisten einige Siedlungen im osmanischen Palästina aufbauten. In der ganzen Zeit dazwischen war Palästina leer - nichts ereignete sich dort.

Das ist es, was israelische Kinder heute in der Schule lernen.


TATSÄCHLICH GESCHAHEN aber während jener 1746 Jahre eine Menge Dinge, mehr als in vielen anderen Ländern. Bis 1948 folgten das byzantinische, arabische, osmanische und britische Reich auf einander. Die Königreiche der Kreuzfahrer waren selbst ein bedeutendes Kapitel.

Die meisten Israelis würden überrascht sein, zu erfahren, dass der Aufenthalt der Kreuzfahrer in Palästina fast 200 Jahre dauerte - viel länger als die zionistische Geschichte bis heute. Es war keine kurze, vorübergehende Episode.

Die Ähnlichkeit zwischen den Kreuzfahrern und den Zionisten fällt einem sofort auf. Beide Bewegungen brachten eine große Anzahl von Leuten aus Europa ins Heilige Land. (Während des ersten halben Jahrhunderts seiner Existenz brachten die Zionisten fast nur europäische Juden nach Palästina.) Da beide aus dem Westen kamen, wurden beide von den ortsansässigen Muslimen als westliche Eindringlinge bezeichnet.

Weder die Kreuzfahrer noch die Zionisten hatten während ihrer ganzen Existenz einen einzigen Tag des Friedens. Das ständige Gefühl der militärischen Gefahr gestaltete ihre ganze Geschichte, ihre Kultur und ihren Charakter.

Die Kreuzfahrer hatten einige kurzzeitige Waffenpausen, besonders mit Syrien; aber auch wir haben jetzt zwei "Friedensabkommen" - mit Jordanien und Ägypten. Ohne ein wirkliches Gefühl von Frieden und Freundschaft diesen Völkern gegenüber, ähneln unsere Abkommen jedoch eher einem Waffenstillstand als einem Frieden.

Damals wurde den Kreuzfahrern ihr Los durch die Tatsache erleichtert, dass die Araber ständig untereinander zerstritten waren, genau wie heute. Bis der große Salah-a-Din (Saladin), ein Kurde, auf der Bildfläche erschien, die Araber einigte und die Kreuzfahrer in der Schlacht bei den Hörnern von Hattin, nahe Tiberias, besiegte. Danach gruppierten sich die Kreuzfahrer neu und blieben für weitere vier Generationen in Palästina.

Die Kreuzfahrer wie die Zionisten sahen sich selbst - ganz bewusst - als Brückenköpfe des Westens in einer fremden und ihnen feindlichen Region. Natürlich waren die Kreuzfahrer als Armee des Westens gekommen, um den Tempelberg und die Grabeskirche in Jerusalem zurückzuerobern. Theodor Herzl, der Gründer des modernen Zionismus schrieb in seinem Buch "Der Judenstaat", die Bibel des Zionismus, dass wir in Palästina als Außenposten der (westlichen) Kultur gegen die (muslimische) Barbarei dienen.

Der Tempelberg ist übrigens Brennpunkt der täglichen Schlacht geblieben. Erst in dieser Woche wurde es zwei extrem rechten Knesset-Mitgliedern von den israelischen Behörden erlaubt, den Bereich des Tempelberges zu betreten - zum Glück ohne jüdisch-muslimische Aufstände in Gang zu setzen, wie bei früheren Gelegenheiten.

Ebenfalls letzte Woche beschuldigte unsere Justizministerin (die ich "den Teufel in der Verkleidung einer schönen Frau" genannt habe) das Oberste Gericht, es habe die Menschenrechte über die "Werte des Zionismus" - welche auch immer das sein mögen - gestellt. Sie hat bereits einen Gesetzentwurf eingebracht, der verdeutlicht, dass die "zionistischen Werte" durch dieses Gesetz den "demokratischen Werten" übergeordnet werden und zuerst kommen.


DIE ÄHNLICHKEIT - der Kreuzfahrer und der Zionisten - ist am größten, wenn es um Frieden geht.

Für die Kreuzfahrer war Frieden natürlich undenkbar. Ihr ganzes Unternehmen gründete sich auf das Ziel, Jerusalem und das ganze Heilige Land ("Gott will es!") vom Islam, dem Todfeind, zu befreien. Dies schließt - a priori - jeden Frieden mit Gottes Feinden aus.

Die Zionisten reden endlos über Frieden. Es vergeht keine Woche, ohne dass Benjamin Netanjahu eine rührende Erklärung über seine Sehnsucht nach Frieden abgibt. Aber jetzt ist absolut klar, dass er nicht im Traum einen Zoll Land westlich des Jordan aufgeben wird. Vor nur wenigen Tagen bestätigte er noch einmal öffentlich, dass er keine einzige jüdische Siedlung auf der Westbank "entwurzeln" lassen wird. Nach internationalem Gesetz ist jede dieser Siedlungen illegal.


NATÜRLICH GIBT es riesige Unterschiede zwischen den beiden historischen Bewegungen - so riesige Unterschiede wie zwischen dem 11. und dem 21. Jahrhundert.

Kann man sich die Kreuzritter mit Atombomben vorstellen? Saladin mit Panzern? Die Reise der Johanniter aus Clairmont nach Jaffa per Flugzeug?

In den Zeiten der Kreuzfahrer war die Idee der modernen "Nation" noch nicht geboren. Die Ritter waren Franzosen, Engländer oder Deutsche, aber vor allem waren sie Christen. Der Zionismus entstand aus dem Willen, die Juden der Welt in eine Nation im modernen Sinne des Wortes zu verwandeln.

Wer waren diese Juden? Im Europa des 19. Jahrhunderts, einem Kontinent neuer Nationen, waren sie eine unnatürliche Ausnahme und deshalb gehasst und gefürchtet. Aber sie waren in Wirklichkeit ein unverändertes Relikt des byzantinischen Reiches, in dem sich die reine Identität aller Gemeinschaften auf die Religion gründete. Diese ethnisch-religiösen Gemeinschaften waren autonom und standen unter der Jurisdiktion ihrer religiösen Führer.

Ein Jude in Alexandria konnte eine Jüdin aus Antiochien heiraten aber nicht die christliche Frau aus der Nachbarschaft. Eine römisch-katholische Frau in Damaskus konnte einen römisch-katholischen Mann aus Konstantinopel heiraten, aber nicht einen griechisch-orthodoxen Mann aus derselben Straße. Diese Rechts-Strukturen bestehen in vielen ehemals byzantinischen Ländern auch heute noch, darunter - man würde es nie glauben - in Israel.

Aber nach allen zeitlichen Unterschieden ist der Vergleich noch gültig und gibt viel Stoff zum Nachdenken - besonders, wenn man an der Küste von Cäsarea sitzt, mit der imposanten Kreuzfahrer-Mauer hinter sich, nur wenige Kilometer vom Hafen von Atlit entfernt, wo die letzten Kreuzfahrer buchstäblich ins Meer geworfen wurden, als alles vor genau 726 Jahren zu einem Ende kam.

Um auf Runciman zurückzukommen: Ich hoffe ich, dass wir rechtzeitig lernen, nicht wie sie zu sein.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 02.09.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2017

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