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STANDPUNKT/026: Demokratiegedenken - Steinmeier redet 1848er Nationalversammlung in der Paulskirche schön (Gerhard Feldbauer)


Vor 175 Jahren, am 18. Mai 1848, wurde in der Paulskirche in Frankfurt am Main die deutsche Nationalversammlung eröffnet

Bundespräsident Steinmeier nahm das zum Anlass einer Geschichtsklitterung ohnegleichen

von Gerhard Feldbauer, 22. Mai 2023



Abbildung: [Public domain], via Wikimedia Commons

1848/49 - Die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche
Abbildung: Zeitgenössische Lithographie nach einer Zeichnung von Ludwig von Elliot [Public domain], via Wikimedia Commons

In blumigen Worten hat Bundespräsident Walter Steinmeier in einem Festakt in Frankfurt am Main die Rolle der vor 175 Jahren, am 18. Mai 1848, in der Frankfurter Paulskirche zusammengetretenen Deutschen Nationalversammlung für die angebliche Demokratie-Entwicklung in Deutschland herausgestellt. Was sich damals tatsächlich abspielte, hat er in einer Geschichtsklitterung ohnegleichen verschwiegen.

In den revolutionären Kämpfen in Europa um den Sturz der Feudalordnung und die Errichtung einer bürgerlichen Gesellschaft spielte die deutsche Revolution vom März 1848 bis Juli 1949 eine herausragende Rolle. Auf der in der Paulskirche tagenden Nationalversammlung ruhten große Hoffnungen. Als verfassungsgebendes Gremium der deutschen Revolution und vorläufiges Parlament des zu schaffenden Deutschen Reiches errichtete sie am 28. Juni mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Zentralgewalt eine vorläufige provisorische deutsche Regierung.

In heftigen und kontrovers geführten Debatten erarbeiteten die Abgeordneten eine Reichsverfassung, auch Paulskirchenverfassung genannt. In einem Grundrechtekatalog wurden Forderungen der seit 1815 in Opposition zu dem vom Wiener Kongress errichteten System der Feudalreaktion Metternichs stehenden liberal-nationalen Bewegung des Vormärz verkündet. Zustande kam eine sehr gemäßigte liberale Verfassung, die auf der Grundlage eines Kompromisses mit der herrschenden Feudalklasse die Interessen der Großbourgeoisie sichern sollte. Sie enthielt als bescheidenes Ergebnis der vorangegangenen revolutionären Kämpfe eine Reihe fortschrittlicher Artikel, sah eine politische Zentralgewalt vor und konnte der Bourgeoisie und ihren Produktivkräften Raum zur Entfaltung, damit aber auch der Arbeiterklasse günstigere Entwicklungsbedingungen verschaffen.

Die Bourgeoisie, Träger der auf der Tagesordnung der Geschichte stehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wich jedoch vor dem Druck der feudalen Reaktion zurück. Das zeigte sich vor allem im Verzicht auf die Proklamation einer Demokratischen Republik, an deren Stelle eine konstitutionelle Monarchie mit einem Erbkaiser verkündet wurde. Trotz ihres Kompromisscharakters zugunsten der Feudalherrschaft stieß die Reichsverfassung auf entschiedenen Widerstand. Zwar erkannten 29 kleine und mittlere Staaten sie an, nicht aber Preußen, Sachsen, Bayern und Hannover, die sie kategorisch ablehnten. Preußens König Wilhelm IV. wies die ihm von einer Delegation der Nationalversammlung unterwürfig angetragene Kaiserwürde zurück, da ihr "der Ludergeruch der Revolution" anhafte. Sollte die tausendjährige Krone deutscher Nation "wieder einmal vergeben werden, so bin ich es und meines Gleichen, die sie vergeben werden. Und wehe dem, der sich anmaßt, was ihm nicht zukommt!" [1] Den drohenden Worten folgten nur zu bald blutige Taten.

Der radikaldemokratische Flügel der Revolution mit Volks- und Arbeitervereinen an der Spitze forderte daraufhin, die Reichsverfassung mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Dafür bestanden im Frühjahr 1849 günstige nationale als auch internationale Bedingungen. Die deutsche Revolution hatte zu dieser Zeit nach der im März 1848 erlittenen Niederlage noch einmal eine Erfolgschance. Während bewaffnete Erhebungen in Dresden, Breslau und im Rheinland niedergeschlagen werden konnten, waren sie in der zu Bayern gehörenden Pfalz und in Baden erfolgreich. Fast die gesamte badische Armee und die pfälzischen Soldaten folgten dem Aufstand, der sich auf eine große Mehrheit der Bevölkerung stützten konnte. Zum ersten Mal entstand eine deutsche Revolutionsarmee. Da die Volksmassen in allen mitteldeutschen Staaten noch eindeutig auf die Seite des Aufstandes neigten, bestand die Möglichkeit, den Erfolg über die Landesgrenzen zu tragen.

In Budapest hatte Lajos Kossuth den ungarischen Thron der Habsburger gestürzt und die kaiserlichen Truppen über Waag und Leitha gejagt. In Rom war die Republik ausgerufen und der Papst vertrieben worden. Garibaldis Truppen schlugen sich erfolgreich gegen die französische Interventionsarmee. Sardinien-Piemont führte Krieg gegen Österreich. In Paris schlug das Proletariat seine erste Schlacht. Obwohl sich im Juni die günstigen internationalen Ausgangsbedingungen durch die Niederlage der demokratischen Partei in Paris, den Stillstand der Revolution in Ungarn und die italienischen Rückschläge in Rom und Piemont verschlechterten, war die folgende Niederlage - zumindest im dann eintretenden Ausmaß - keineswegs unausweichlich. Um die Revolution voranzutreiben, hätte es vor allem der militärischen Offensive bedurft.

Am 19. Mai 1849 verbot die preußische Regierung das Organ der revolutionären Kräfte, die von Karl Marx geleitete "Neue Rheinische Zeitung". Als ihre letzte Ausgabe erschien, befanden sich Karl Marx und Friedrich Engels bereits auf dem Weg nach Südwestdeutschland, um die Forderungen der revolutionären Demokraten nach Durchsetzung der Reichsverfassung mittels bewaffneter Kräfte entschieden zu vertreten. Am 20. und 21. Mai verhandelten sie mit den demokratischen Abgeordneten der Nationalversammlung und appellierten, dass es für das Parlament nur einen Weg zur Verteidigung der Revolution und der eigenen Existenz geben konnte: die badisch-pfälzische Revolutionsarmee nach Frankfurt zu rufen und an die Spitze des bewaffneten Aufstandes zu treten. Sie fanden kein Gehör. Durch Hessen, wo Preußen bereits ein Armeekorps zur Niederschlagung des Aufstandes zusammenzog, setzten Marx und Engels ihre gefährliche Reise fort und führten in Mannheim, Karlsruhe und Ludwigshafen mit demselben Ziel Gespräche mit den Vertretern der kleinbürgerlichen Demokraten. Auch hier ergebnislos, denn diese befanden sich bereits im Schlepptau der liberalen Bourgeoisie, die zur Konterrevolution überlief. Zum "Dank" wurde das Frankfurter "Rumpfparlament" von preußischen Husaren auseinandergejagt, das Mobilar des Sitzungssaales zerschlagen und die Abgeordneten mit Lanzen und Säbeln durch die Straßen gehetzt.

Nach den ergebnislosen Verhandlungen mit den Demokraten begab sich Friedrich Engels zur badisch-pfälzischen Revolutionsarmee, während Marx nach Paris reiste, um dort die Situation zu analysieren. Engels lehnte einen Posten in der provisorischen Regierung ebenso wie im Oberkommando der Revolutionsarmee ab und nahm den Vorschlag von Oberst August Willich an, Stabschef und zugleich Adjutant seines Freiwilligenkorps zu werden. Zusammen mit Engels kämpften in der Revolutionsarmee Mitglieder des Bundes der Kommunisten, unter ihnen Wilhelm Liebknecht, Johann Philipp Becker, der die badische Volkswehr kommandierte, Joseph Moll, der als Kanonier der Besançoner Arbeiterkompanie in der Schlacht an der Murg fiel, Fritz Anneke sowie die Setzer und Arbeiter der verbotenen "Neuen Rheinischen Zeitung".

Fußnote:

[1] Friedrich Wilhelm IV. an den preußischen Gesandten in London Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen in: Leopold v. Ranke: Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen, Leipzig 1873, S. 235.

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Quelle:
© 2023 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 23. Mai 2023

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