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FORSCHUNG/012: Das Erleben erklären (RUB)


RUB - Ruhr-Universität Bochum - 19. Dezember 2008

Das Erleben erklären

- Philosophen der RUB sind dem Bewusstsein auf der Spur
- Untersuchung erscheint in renommierter Fachzeitschrift


Wie unser Bewusstsein funktioniert, wie wir Dinge erleben - das sind zwei spannende Fragen der Philosophie. Bewusste Erlebnisse fühlen sich irgendwie an - wir sehen den blauen Himmel oder genießen die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut. Warum das so ist, beantworten viele Philosophen so: Jedes Erleben hat einen bestimmten Inhalt - wenn wir also das Blau des Himmels erleben, erleben wir den Inhalt "Der Himmel ist blau". Hinzu kommt ein phänomenaler Inhalt, der die subjektive Dimension der Wahrnehmung, also wie sich das Blau-Erlebnis für jeden einzelnen anfühlt, bestimmt. Dieser gängigen These widersprechen die Bochumer Philosophen Dr. Gottfried Vosgerau, Dr. Tobias Schlicht und Prof. Dr. Albert Newen (Institut für Philosophie) entschieden - in ihrer eigenen, dynamischen Theorie stellen sie stattdessen die Verarbeitung des Inhalts in den Mittelpunkt des bewussten Erlebens. Ihr Aufsatz ist nun in dem renommierten Fachblatt American Philosophical Quarterly erschienen.

Die gängige These

Die bevorzugte philosophische These schließt den Gedanken mit ein, dass jeder Mensch ein bewusstes Erlebnis im Grunde unterschiedlich erleben kann. In einem extremen Beispiel ausgedrückt könnte das bedeuten: Wenn zwei Menschen die Farbe Blau sehen, dann erlebt der eine Mensch tatsächlich die Farbe Blau, der andere Mensch aber erlebt die Farbe Grün - er fühlt sich beim Anblick des Blaus so, als würde er gerade auf Grün schauen. Das, was betrachtet wird, hat den gleichen Inhalt, doch der phänomenale Inhalt, der die subjektive Qualität des Blau-Sehens ausmacht, ist für beide Personen in diesem Beispiel verschieden. Somit sind für viele Philosophen diese zwei Inhalte verantwortlich für das bewusste und zugleich unterschiedliche Erleben der Menschen.

Nicht die Inhalte bestimmen das bewusste Erleben

Vosgerau, Schlicht und Newen haben für ihre Arbeit verschiedene Ansätze zum Thema Bewusstsein aus der Psychologie, den Neurowissenschaften und der Philosophie untersucht. Als Ergebnis ihrer Überlegungen weisen sie die gängige Annahme als falsch zurück. Ihre Theorie stellt die Inhalte zurück; zeigen lässt sich das anhand eines Beispiels aus der Medizin: Patienten, die unter Blindsicht leiden, haben die Fähigkeit verloren, etwas bewusst zu sehen und wahrzunehmen. Es werden zwar Bildinformationen vom Auge aufgenommen, aber nicht mehr ins Bewusstsein geleitet. Steht vor dem Blindsicht-Patienten also zum Beispiel ein Glas Wasser, so verfügt er zwar über die Information, ist sich aber nicht bewusst darüber, dass es dort steht. Dennoch: Bittet man den Patienten, nach dem Glas zu greifen, dann wird er es tun, da die unbewusste Informationen über das Glas seine Bewegung richtig leiten kann, auch wenn er dieses Glas vor sich nicht bewusst wahrnehmen kann. Die Information über den Gegenstand, das Glas, ist also sehr wohl im Gehirn des Patienten vorhanden, es ist ihm nur nicht bewusst. Das zeigt, so Vosgerau, Schlicht und Newen, dass kein Inhalt - weder sachlicher noch phänomenaler Natur - für das bewusste Erleben verantwortlich sein kann. Denn Inhalte liegen ja auch bei unbewussten Erlebnissen vor, wie das Beispiel des Blindsicht-Patienten zeigt. Wenn die Inhalte nicht entscheidend sind für das Bewusstsein, bedeutet das außerdem, dass die subjektive Qualität des Erlebnisses bei unterschiedlichen Menschen nicht radikal verschieden sein kann; dass die bewusste Wahrnehmung also streng genommen bei allen Menschen sehr ähnlich ist.

Eine dynamische Theorie muss her

Statt der Inhalte spielt in der Gegen-These der Bochumer Philosophen die Verarbeitung, die Integration der wahrgenommen Inhalte die entscheidende Rolle. Sie unterscheiden das bewusste vom unbewussten Erleben. Ein Inhalt wird erst dann bewusst, wenn er in einen größeren Zusammenhang integriert wird, wenn man zum Beispiel darüber reden oder nachdenken kann. Die drei Bochumer Philosophen folgern, dass die bisher vorherrschende Theorie das Phänomen des bewussten Erlebens nicht erklären kann - und liefern in ihrem Aufsatz zudem eine streng philosophische Argumentation dafür, dass eine solche Erklärung auch prinzipiell nicht gelingen kann. Sie fordern, stattdessen eine dynamische Theorie einzuführen, die die Verarbeitungsweise und Integration von Inhalten als ausschlaggebenden Faktor für ein bewusstes Erleben ansieht.

Titelaufnahme
Vosgerau, Gottfried; Schlicht, Tobias; Newen, Albert: Orthogonality of Phenomenality and Content, Aufsatz in der Fachzeitschrift American Philosophical Quarterly, Ausgabe 45, 2008, Seite 329-348


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Quelle:
Pressemitteilung Nr. 426 vom 19. Dezember 2008
RUB - Ruhr-Universität Bochum
Dr. Josef König - Pressestelle - 44780 Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2008