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FORSCHUNG/015: Wissen Sie, was Wissen ist? (uni'kon Uni Konstanz)


uni'kon 37|10 - Universität Konstanz

FORSCHUNG
Wissen Sie, was Wissen ist?

Im Forschungsprojekt "Die Topologie des Wissens" untersucht
Dr. Wolfgang Freitag, was es genau heißt, dass Wissen Zufälligkeit ausschließt

Von Alexandra Zinke


Sie schauen auf Ihre Armbanduhr. Beide Zeiger sind oben. "Schon fast zwölf!" Sie treten kräftiger in die Pedale, denn man soll den Studenten vor der mündlichen Prüfung ja nicht warten lassen. Chemieprüfung. Womit fangen Sie an? Lackmustest. Das kann jeder, selbst Paul. Sie nehmen eine Flasche Carbonsäure aus dem Schrank. Da Sie einmal mehr vergessen haben, die Flaschen mit den dafür vorgesehenen Etiketten zu versehen, wissen Sie das jedoch nicht. Egal, denn vorerst müssen Sie nur wissen, ob es sich um eine Säure oder eine Base handelt. Also führen Sie selbst den Lackmustest durch. Das Papier färbt sich rot. Säure.

Es klopft. Raus mit dem Lackmuspapier und rein mit dem Studenten. "Paul, ich tauche Lackmuspapier in diese Flüssigkeit, und es färbt sich rot. Ist diese Flüssigkeit eine Säure oder eine Base?" Erleichterung: "Bei dieser Flüssigkeit handelt es sich um eine Säure." Der erste Schritt ist damit beiderseits getan, und wenn auch das eine oder andere Stolpern nicht zu vermeiden ist, kommen wir doch 30 Minuten später am Ende der Prüfung an. Nun tritt Paul in die Pedale. "Hey Paul, erzähl, wie war's?" "Also, fing ganz gut an. Der Prof hat Lackmuspapier in eine Flüssigkeit getaucht, das hat sich rot gefärbt, und dann hat er mich gefragt, ob die Flüssigkeit eine Säure ist und ..." "Boahh, wie easy ist das denn? Das war natürlich 'ne Säure. Das weiß doch selbst meine Oma."

Weiß sie das? Und weiß Pauls Kumpel, dass die Flüssigkeit eine Säure ist? Und weiß es Paul? Und wissen Sie es? Und: Wissen Sie überhaupt, wie spät es ist? Ergänzen wir die Beschreibung des obigen Geschehens durch einige Hintergrundinformationen.

Die Zeiger Ihrer Uhr zeigten beide nach oben, aber das taten sie nun schon seit 24 Stunden. Ihre Uhr ist stehen geblieben. Es ist zwar tatsächlich zwölf Uhr, aber das hätten Sie auch geglaubt, wenn Sie um zehn oder elf auf die Uhr gesehen hätten. Da die Uhr stehen geblieben war, wussten Sie nicht, dass es zwölf Uhr ist.

Als Sie die Flüssigkeit auf ihren ph-Wert testen wollten, benutzten Sie ein Lackmuspapier, welches Ihr Kollege in einer seiner Launen derartig beschichtet hat, dass es sich in Kontakt mit jeder beliebigen Flüssigkeit rot färbt. Das Lackmuspapier hätte sich auch rot gefärbt, wenn die Flüssigkeit Natronlauge gewesen wäre. Sie wussten somit nicht, dass die Flüssigkeit eine Säure ist.

Doch handelt es sich um Pauls und nicht um Ihre Chemieprüfung. Wusste Paul, dass es sich bei der besagten Flüssigkeit um eine Säure handelt? Nun, zweifellos hat er die richtige Antwort auf die Frage gegeben. Die Flüssigkeit ist eine Säure. Allerdings hat Paul das nicht geäußert, weil ihm gesagt wurde, dass sich das Lackmuspapier rot gefärbt hat, sondern weil er gestern vor lauter Nervosität noch bei seinem Astro-Guru war. Der hat ihm für 'nen Zehner und 'ne Flasche Jacky vorausgesagt, dass die erste Flüssigkeit, mit der er in der Prüfung konfrontiert werden wird, eine Säure sei. Unter diesen Umständen wollen wir nicht sagen, dass Paul wusste, dass es sich bei der Flüssigkeit um eine Säure handelt. Und Pauls Kumpel? Nun, der hat einen nicht sehr viel verlässlicheren Berater. Denn seine Oma hat ihm zwar erzählt, dass man daraus, dass Lackmuspapier sich rot färbt, folgern kann, dass die Flüssigkeit eine Säure ist, allerdings hat sie ihm auch erzählt, dass Morgenrot mit Regen droht und dass man daraus, dass der Kuckuck nach Johanni nicht schweigt, folgern kann, dass sich im Jahre nicht viel Gutes zeigt. Selbst Pauls Kumpel scheint nicht zu wissen, dass die Flüssigkeit eine Säure ist. Doch kann er sich trösten, denn statt einen Zehner zu geben, hat er einen Fuffi bekommen. Und eine Tasse Tee dazu.

Wann sagen wir, dass jemand etwas weiß? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit etwas nicht nur bloßer Glaube, sondern wirklich Wissen ist? Dies ist eine der Kernfragen der Erkenntnistheorie, einem Teilgebiet der theoretischen Philosophie. Die Erkenntnistheorie behandelt alle Fragen rund ums Wissen: Wie können wir Wissen erlangen? Was können wir wissen? Wo sind die Grenzen unseres Wissens? Können wir überhaupt irgendetwas wissen? Können wir wissen, dass wir etwas wissen?

Im Alltag schreiben wir uns und anderen laufend Wissen zu. Natürlich wissen Sie, dass die Rotfärbung des Lackmuspapiers anzeigt, dass es sich um eine Säure handelt und, ja, wahrscheinlich wissen Sie auch, wie spät es ist. Im Alltag ist Wissen unser ständiger Begleiter, an der Universität Dreh- und Angelpunkt. Die Naturwissenschaften, die Geisteswissenschaften, die Rechts-, Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, sie untersuchen alle unterschiedliche Themen, doch immer geht es darum, Wissen über diese Themen zu erlangen. Aber was ist Wissen eigentlich?

Bedingung dafür, dass jemand etwas weiß, ist zumindest schon einmal, dass er es glaubt und dass das Geglaubte auch wahr ist. Um zehn Uhr war es noch gar nicht möglich zu wissen, dass es gerade zwölf ist. Doch selbst wenn das Geglaubte wahr ist, reicht das noch nicht aus für Wissen. Wenn Ihre Uhr auf zwölf stehen geblieben ist, sie zufälligerweise um zwölf auf Ihre Uhr schauen und deshalb richtigerweise glauben, es sei zwölf, dann wissen Sie trotzdem nicht, wie spät es ist. Wenn Ihr Glaube nur zufällig wahr ist, dann haben Sie kein Wissen.

In dem Forschungsprojekt "Die Topologie des Wissens", welches durch die Landesstiftung Baden-Württemberg und das Zukunftskollegs der Universität Konstanz gefördert wird, untersucht Dr. Wolfgang Freitag, was es genau heißt, dass Wissen Zufälligkeit ausschließt. In welchem Sinne darf kein Zufall im Spiel sein, damit etwas nicht nur bloß wahrer Glaube, sondern wirklich Wissen ist? "Damit Sie wissen, dass es zwölf Uhr ist, muss Ihr Glaube, dass es zwölf Uhr ist unter normalen Bedingungen, d.h. wenn die Welt so ist, wie wir es von ihr erwarten, garantieren, dass es auch tatsächlich zwölf Uhr ist. Zusätzlich muss die Welt auch wirklich so sein, wie wir es von ihr erwarten. Auf diese Weise wird Zufall ausgeschlossen", erklärt der Philosoph Freitag. Wenn Ihre Uhr stehen geblieben ist, dann ist die Welt nicht so, wie wir erwartet haben.

Gleich doppelt überrascht sind wir: Zum einen kommt es unerwartet, dass die Uhr stehen geblieben ist, und zum anderen, dass sie die Zeit trotzdem richtig angezeigt hat. Doch welche Erwartungen haben wir an die Welt? Was heißt es, dass die Welt "normal" sein muss? Wann ist die Welt "abnormal"? Dies sind einige der Fragen, mit denen sich das Forschungsprojekt auseinandersetzt. Ein zentrales Ergebnis des Forschungsprojektes bezieht sich auf so genanntes "begründetes" Wissen. Begründetes Wissen ist Wissen, welches sich auf eine andere Überzeugung gründet. Sie glauben, dass die Flüssigkeit eine Säure ist, weil Sie glauben, dass sich das Lackmuspapier rot gefärbt hat. Für das meiste, das wir wissen, haben wir Gründe. Wolfgang Freitag argumentiert, dass für begründetes Wissen zusätzlich garantiert sein muss, dass man seinen Glauben auf einen anderen Glauben stützt, welcher wiederum ein guter Grund für den ersten Glauben ist. Wenn Paul nur zufällig glaubt, dass die Flüssigkeit eine Säure ist - etwa weil ihm das sein Guru prophezeit hat -, dann hat Paul kein Wissen. Wenn Paul diesen Glauben allerdings auf seinen Glauben, dass sich das Papier rot gefärbt hat, gründet, dann hat er Wissen - zumindest dann, wenn der vermaledeite Kollege das Lackmuspapier nicht manipuliert hat. Denn dass das Papier rot ist, garantiert wiederum - wenn keine abnormalen Bedingungen vorliegen -, dass die Flüssigkeit eine Säure ist. Die Aussage des Astro-Gurus garantiert dies nicht.

Doch dies ist erst der Anfang. Überall lauert der Zufall. Auch auf anderen Ebenen muss diesem die Tür vor der Nase zugeschlagen werden. Nur so entsteht Wissen. Vielleicht lesen Sie das Eingangszenarium noch einmal mit geschärftem Blick und versuchen Sie herauszufinden, was alles nicht dem Zufall überlassen werden darf! - Wissen Sie nun, was Wissen ist?


Dr. Wolfgang Freitag ist seit 2005 Akademischer Rat (auf Zeit) am Fachbereich Philosophie. Er forscht zu den Themen Metaphysik und Erkenntnistheorie. Zu letzterem verfasst er gerade seine Habilitationsschrift. Seit 2006 ist er Mitglied des Zukunftskollegs Konstanz.


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Quelle:
uni'kon 37|10, S. 10-11
Herausgeber: Der Rektor der Universität Konstanz
Redaktion: Claudia Leitenstorfer, Dr. Maria Schorpp
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2010