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FRAGEN/008: Prof. Christan Niemeyer, Herausgeber des Nietzsche-Lexikons (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 18 vom 10. November 2009

Man muss erläutern, was gemeint ist
Prof. Christian Niemeyer gibt das erfolgreiche Nietzsche-Lexikon heraus

Interview von Martin Morgenstern


Prof. Christian Niemeyer hat ein umfangreiches Nachschlagewerk zu Friedrich Nietzsche (1844-1900) herausgegeben. Das Werk bietet Erklärungen zu allen zentralen Begriffen der Philosophie Nietzsches, zu allen Nietzsche-Werken, aber auch zu Menschen des Umfelds, Inspirationsquellen und anderem. Ausgewiesene Experten des In- und Auslands führen in die Biografie und die Lebensumstände ein und erläutern die Literaturlage und die vielfältigen Resonanzen. Für das UJ sprach Martin Morgenstern mit Christian Niemeyer.


UNIJOURNAL: Herr Prof. Christian Niemeyer, einer der Forschungsschwerpunkte Ihrer Professur für Sozialpädagogik ist die "Pädagogische Nietzsche-Rezeption". Merkt man denn dem Themenspektrum des Nietzsche-Lexikons an, dass es von einem Sozialpädagogen herausgegeben ist?

PROF. CHRISTIAN NIEMEYER: Wenn ich von meinem eigenen Herkunftsgebiet, der Erziehungswissenschaft, aber auch der Psychologie, ausgehe, dann stimmt es schon: psychologische Aspekte treten tatsächlich etwas hervor. Das Stichwort Psychologie hat eine große Würdigung erfahren, auch die "Psychologie der Philosophen". Ein anderer Gesichtspunkt ist der der Rezeptionsgeschichte. Wir hatten ein vierjähriges DFG-Projekt zur Nietzsche-Rezeption im 20. Jahrhundert. Da haben wir wichtige Fragestellungen anhand der Sekundärliteratur aufgeworfen, etwa: in welchem Ausmaß kann denn wirklich davon gesprochen werden, dass Nietzsche als Vordenker und Vorläufer Hitlers zu lesen ist? Diese Ansicht dominierte in der DDR; obgleich Nietzsche ja ein "Ossi" ist, wurde er als Unperson behandelt.


UNIJOURNAL: Vielen galt Nietzsche damals vorrangig als Wegbereiter des Faschismus, als "Nazi-Philosoph".

PROF. CHRISTIAN NIEMEYER: In diesem Lexikon wird deswegen auch ein besonderes Gewicht auf die Aspekte des Antisemitismus und vor allem des Anti-Antisemitismus gelegt. Der frühe Nietzsche stand unter dem starken Einfluss Richard Wagners. Im Nachhinein löste er sich von Wagner. Wir haben uns da eine polare Stellung der Bayreuther Wagneriana-Szene mit Cosima Wagner gegen die Weimarer Szene und dort vor allem Nietzsches Schwester vorzustellen, die beide im Dritten Reich versucht haben, den Führer auf ihre Seite zu ziehen. Dabei wurde zu allen Mitteln gegriffen. Andere fragwürdige Aspekte der Rezeptionsgeschichte sind etwa unter den Stichworten "Krieg", "deutsch", oder "guter Europäer" zu finden, auch fragwürdige Personen wie der völkische Hitler-Vorläufer Paul de Lagarde oder der antisemitische Verleger Theodor Fritsch finden Erwähnung. Ein sehr interessanter Aspekt: Nietzsche wurde von Fritsch angeschrieben, ob er nicht an dessen Zeitschrift "Antisemitische Correspondenz" mitwirken wolle. Nietzsche lehnte damals brieflich ab, seine Schwester brachte diese Antwort in Vergessenheit.


UNIJOURNAL: Insofern dürfen wir auch ein sehr politisches Nachschlagewerk erwarten?

PROF. CHRISTIAN NIEMEYER: In der Tat, ja. Ich habe als verantwortlicher Herausgeber versucht, dafür Sorge zu tragen, dass auch die irritierenden Aspekte seiner Biografie behandelt werden. Ich bin da sehr stolz, dass es mir "kleinem Sozialpädagogen" gelungen ist, dafür namhafte Kollegen einzuladen. Von 170 eingeladenen Autoren haben wir 142 Zusagen bekommen. Alle Artikel sind dabei auf dem neuesten Stand des Wissens, und Sie können davon ausgehen, dass dabei keine Rücksicht auf Namen genommen wurde; allein die Qualität interessierte. Ich will nur ein Beispiel nennen: den "Esel"! Dafür gibt es eigentlich nur eine Autorin: die Amerikanerin Kathleen Marie Higgins, die dieses Stichwort als ihr Leib- und Magenthema jahrzehntelang verwaltet hat. Mein Ehrgeiz war, sie für das Lexikon zu gewinnen. Es war sehr schwierig, aber sie hat sich breitschlagen lassen. Insgesamt haben wir eine bunte Mischung an Autoren: sehr viele legendäre emeritierte Figuren, aber auch junge Leute.


UNIJOURNAL: Das "liebevolle Zuwinken einer alten Welt" nannte der Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler kürzlich die ambitionierte Neuausgabe eines bekannten Literaturlexikons. Gedruckte Lexika schlage ich persönlich kaum noch auf, stattdessen nutze ich digitale Lexika im Internet. Und da kommen Sie und bringen so ein Buch heraus!

PROF. CHRISTIAN NIEMEYER: Lexika im Internet haben oft das Problem der Tiefe. Aber Sie haben schon recht: jeder, der ein solches Lexikon macht, sieht sich vom Verlag erst einmal Fragen der medialen Revolution ausgesetzt. Es ist ja keine ausreichende Antwort, wenn man besser als Wikipedia sein will. Es hat mit einer neuen Suchhaltung des Publikums zu tun, die sich im Googeln und in Wikipedia dokumentiert. Sie lässt erkennen, dass man vor allem komprimierte Information wünscht. Jeder, der Wikipedia nutzt, wird feststellen, dass sich wirkliche Experten dort mit Beiträgen zurückhalten. Ich persönlich sehe aber gerade durch die Wikipedia-Orientierung auf Komprimierung auch eine Zukunft für Handbücher. Die Verkaufszahlen haben den Verlag jedenfalls überrascht: 700 Stück sind bereits verkauft. Das Lexikon gehörte außerdem zu den meistgestohlenen auf der Frankfurter Buchmesse! Und jetzt steht sogar die Übersetzung ins Spanische an. Sie wird durch einen Verlag realisiert, der auf enzyklopädische Werke fokussiert ist.


UNIJOURNAL: Wollen Sie dennoch irgendwann auch die digitale Bohème mit einer DVD-Ausgabe bedienen?

PROF. CHRISTIAN NIEMEYER: Da bin ich momentan überfragt, ich würde es aber nicht ausschließen. Momentan gibt es eher Überlegungen für eine zweite Auflage. Wir haben Hinweise bekommen, dass wir uns Gedanken über Erweiterungen machen müssen. Es gibt tatsächlich Leerstellen bei eigentlich wichtigen Stichworten; "der Traum" müsste zum Beispiel untergebracht werden. Und dann ist da noch das große Thema der Brieffälschungen und Werkfälschungen durch Nietzsches Schwester Elisabeth. Hier konnten wir im Detail nachweisen, dass sich die größten Fälschungen nicht wie bisher vermutet auf das vermeintliche Hauptwerk "Wille zur Macht" beschränken. Man kann sogar nachweisen, dass die von Nietzsche zum Druck gegebenen Werke (zum Beispiel ein Kapitel aus "Jenseits von Gut und Böse") im Nachhinein von seiner Schwester sinnentstellend verändert wurden. Elisabeth Förster-Nietzsche hat sogar Briefe erfunden, die von ihrem Bruder an sie gerichtet sein sollten; etwa zu der Fragestellung, ob sie berufene Herausgeberin seiner Werke ist, oder zur Rechtfertigung, warum bestimmte Werke nicht ediert wurden. Unter anderem hat sie einen Brief erfunden, in welchem er sie angeblich auffordert, "Ecce homo" nicht zu veröffentlichen. Die von ihr erfundenen Anekdoten sind zudem höchst problematisch: so hat sie Nietzsche mittels einer Anekdote als Kriegsphilosoph aufbereitet und, mittels einer anderen, mit Rassenhygiene in Verbindung gebracht. Sie erfand eine Anekdote, in der ihr Bruder ihr bei einem Spaziergang gesagt haben soll, dass er so einsam sei, und jetzt gern mit Arthur de Gobineau, dem Rassentheoretiker, zusammen sei... Das wäre ein feiner Kerl!


UNIJOURNAL: Stimmt denn die oft gehörte Anekdote, Nietzsche habe einmal, von Mitgefühl überwältigt, ein geschundenes Pferd umarmt?

PROF. CHRISTIAN NIEMEYER: Von der Pferde-Anekdote gibt es ganz verschiedene Varianten. Wichtig ist eine Spur, die auf Dostojewski hinweist. In einem Brief schreibt Nietzsche, er habe sich da eine fiktive Szene ausgedacht: von einem alten Fuhrmann, "der sein Wasser an seinem eigenen Pferde abschlägt". Über die spätere Szene selbst gibt es mehr oder weniger beglaubigte Berichte. Sie wird wohl wahr sein, hat aber in meinen Augen nicht die große Bedeutung, die ihr immer zugeschrieben wird. Ähnlich wie das Bild der "Peitsche", die nicht vergessen soll, wer "zu Frauen geht"!


UNIJOURNAL: Sollte man Nietzsche denn viel biografischer lesen als bisher?

PROF. CHRISTIAN NIEMEYER: Wir haben im Lexikon jedenfalls die biografisch relevanten Aspekte untergebracht: zum Beispiel im Stichwort "Vaterübertragung". Es gab ja diese Auffälligkeit: Nietzsches Vater war früh gestorben, er hatte dann in seiner intellektuellen Entwicklung drei "Heroen": den Philologieprofessor Friedrich Ritschel, Arthur Schopenhauer und Richard Wagner. Die Abhängigkeit des frühen Nietzsche von diesen Vaterfiguren ist schon sehr auffällig, ebenso wie der dann jeweils nachfolgende Vatermord. Mit psychoanalytischen Zugängen kann man da weiterkommen. Geht man sein Werk durch, stößt man auf viele Einträge zu Prostitution, zur Syphilis. Es gibt sogar Hinweise, dass er die Krankheit seinem Vater zugetraut und bei sich selbst eine "Erbsyphilis" vermutet hat. Sodann sind viele Passagen aus "Zarathustra" eine Abrechnung mit einer großen Liebesenttäuschung. Solche Dinge werden in lexikonadäquater Form verhandelt. Deshalb war es nicht abträglich, dass der Herausgeber ein Sozialpädagoge und Psychologe war... Viele Philosophen machen ja um biografische Details einen großen Bogen, sie seien "für die Sache selbst irrelevant". Meines Erachtens ist das gerade bei Nietzsche nicht zu machen. Sein Nachdenken über die eigene Krankheit und den Tod, seine Selbstverachtung; das ist sehr wichtig für das Verständnis seiner Werke. Wir haben vor allem nicht vor, einen Nietzsche zu präsentieren, der angenehm ist. Auch fragwürdige Aspekte werden in Stichworten behandelt.


UNIJOURNAL: Auch heute noch hört man ein von den Nazis missdeutetes Nietzsche-Wort aus "Götzen-Dämmerung", "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker". Können Sie die Geschichte dieses Zitats kurz andeuten?

PROF. CHRISTIAN NIEMEYER: Zitate wie dieses sind unbedingt im Kontext zu lesen, der in diesem Fall durch die Metapher "Krieg" im Sinne der durch das Leben aufgenötigten Selbstbehauptung gesetzt ist. Ein ähnliches Stichwort aus dem Nachlass der Achtzigerjahre sei hinzugefügt: "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt." Das wird häufig so gelesen, als sei Nietzsche ein anarchistischer Freigeist. Natürlich muss man auch hier erläutern, was gemeint ist: nichts weiter als das Lob auf eine heroische Form der Erkenntnis. Das habe ich in dem entsprechenden Stichwort im Nietzsche-Lexikon erläutert. Oder ein anderes Zitat: "Das Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter." Nietzsche hat da eine orientalische Quelle zitiert. Dieses Wort ist jedenfalls berühmt geworden durch die Kriegsausgabe des "Zarathustra". Man kann aber den Nachweis führen, dass Nietzsche es nur benutzt, um eine bestimmte Szene des "Zarathustra" zu kommentieren. Es ist ziemlich empörend, dass seine Schwester diese Worte in jener Kriegsausgabe des "Zarathustra" martialisch umdeutete und Nietzsches Gegenwort unterschlug: "Unter dem Baum der Erkenntnis ist immer noch das Paradies."


Christian Niemeyer (Hrsg.): NIETZSCHE-LEXIKON
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2009, 472 Seiten, ISBN-13: 978-3534208449


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 20. Jg., Nr. 18 vom 10.11.2009, S. 6
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2009