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MELDUNG/035: Dr. Leopold Lucas-Preis 2013 geht an den italienischen Philosophen Giorgio Agamben (idw)


Eberhard Karls Universität Tübingen - 10.04.2013

Der Dr. Leopold Lucas-Preis 2013 geht an den italienischen Philosophen Giorgio Agamben

Die Universität Tübingen zeichnet einen vielseitigen Gelehrten aus, der sich einem breiten Spektrum von sprachphilosophischen bis zu theologischen und politischen Fragen widmet



Den diesjährigen Dr. Leopold Lucas-Preis verleiht die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen im Namen der Universität Tübingen am 14. Mai 2013 dem italienischen Philosophen und Staatstheoretiker Giorgio Agamben. Agamben lehrt als Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti della IUAV in Venedig und gilt als einer der meistdiskutierten Philosophen der Gegenwart. Der Dr. Leopold Lucas-Preis ist mit 50 000 Euro dotiert. Mit der Auszeichnung werden Persönlichkeiten gewürdigt, die sich auf den Gebieten der Theologie, der historischen Geisteswissenschaften und Philosophie durch hervorragende Leistungen in besonderer Weise um die Verständigung zwischen Menschen und Völkern sowie um die Verbreitung des Toleranzgedankens verdient gemacht haben.

Dem internationalen Publikum wurde Giorgio Agamben vor allem durch sein Hauptwerk Homo sacer bekannt, in dem er die Nachtseite, das Gewalt- und Herrschaftsförmige der Moderne mit einer Eindringlichkeit zur Sprache brachte, wie es seit Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung nicht mehr geschah. In seinen Schriften befasst sich Agamben mit einem breiten Spektrum von sprachphilosophischen, erkenntnistheoretischen, ästhetischen, ethischen, theologischen und politischen Fragen. Dabei haben insbesondere seine Schriften zur politischen Philosophie internationale Aufmerksamkeit erregt, weil sie eine kritische Diagnose der Gegenwart mit einer großen geschichtsphilosophischen Erzählung verbinden.

Agambens Hauptwerk ist das auf vier Bände angelegte Homo-Sacer-Projekt, dessen erster Band 1995 auf Italienisch und 2002 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben erschien. Es folgten die Bände Ausnahmezustand (Homo sacer II.1), Herrschaft und Herrlichkeit (Homo sacer II.2), Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eides (Homo sacer II.3), Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III) und Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform (Homo sacer IV.1).

Die dem römischen Recht entstammende Figur des Homo sacer, der aus dem Bereich des religiösen und des weltlichen Rechts ausgeschlossen wird, der den Göttern nicht geopfert, wohl aber straffrei getötet werden darf, steht bei Agamben für die von der Antike bis in die Gegenwart zunehmende Tendenz, rechtsfreie Räume zu schaffen und den Menschen auf das "nackte Leben" zu reduzieren. Diese souveräne Aufhebung des Rechts, der Ausnahmezustand, ist nach Agamben kein Unfall und Zufall, sondern eine Struktur, die der Beziehung zwischen Recht und Leben deshalb eingeschrieben ist, weil das Recht dem Leben, auf das es angewendet wird, nie völlig gerecht werden kann. In Anlehnung an Foucault spricht Agamben von "Biopolitik", die auch im Herzen der westlichen Demokratien haust, wie etwa die Flüchtlingscamps in der Europäischen Union oder das Gefangenenlager in der Guantánamo-Bucht auf Kuba zeigen.

Giorgio Agamben wurde 1942 in Rom geboren, studierte dort Rechtswissenschaft und knüpfte während seines Studiums freundschaftliche Beziehungen zur italienischen Literatenszene. In den Jahren 1966 und 1968 besuchte er in Südfrankreich Seminare von Martin Heidegger, die ihn nachhaltig prägten und auf die Bahn der Philosophie brachten. Innerhalb der Philosophie machte er zuerst durch seine Tätigkeit als Herausgeber (1978-1986) der italienischen Ausgabe der Schriften von Walter Benjamin von sich reden. Von 1986-1992 war Agamben Directeur de Programme am Pariser Collège international de philosophie, wo er sich intensiv mit dem Werk von Michel Foucault befasste und Jacques Derrida kennenlernte. 1988 erhielt er eine Professur für Ästhetik an der Universität Macerata, wechselte 1993 auf eine Philosophieprofessur an die Universität in Verona und nahm 2003 den Ruf auf die Professur für Ästhetik in Venedig an, die er seither innehat. Seit Mitte der 1990er Jahre übernahm Agamben zudem regelmäßig Gastprofessuren in den USA. In Deutschland lehrte er 2005/06 als Gastprofessor an der Universität Düsseldorf, hatte 2007 die Albertus-Magnus-Professur an der Universität zu Köln inne und war 2008 Fellow des Kollegs Friedrich Nietzsche. Im Jahr 2006 erhielt er den Prix Européen de l'Essai Charles Veillon und im vergangenen Jahr das Ehrendoktorat der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Schweiz.

Der Dr. Leopold Lucas-Preis wurde 1972 von dem im Juli 1998 verstorbenen Generalkonsul Franz D. Lucas, ehemals Ehrensenator der Eberhard Karls Universität Tübingen, zum 100. Geburtstag seines in Theresienstadt umgekommenen Vaters, des jüdischen Gelehrten und Rabbiners Dr. Leopold Lucas aus Marburg, zu dessen Gedenken gestiftet und wird von der Evangelisch-Theologischen Fakultät im Namen der Universität Tübingen verliehen.

Zu den bisherigen Preisträgern gehörten prominente Gelehrte wie Schalom Ben-Chorin (1974), Karl Raimund Popper (1981), Karl Rahner (1982), Fritz Stern und Hans Jonas (1984), Paul Ricoeur (1989), Michael Walzer (1998), André Chouraqui (1993), Moshe Zimmermann (2002), Yosef Hayim Yerushalmi (2005), Dieter Henrich (2008) und Avishai Margalit (2011), Repräsentanten des religiösen und kirchlichen Lebens wie der 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso (1988), der polnische Erzbischof Henryk Muszynski (1997) und der evangelische Bischof Eduard Lohse (2007) oder Vertreter aus Kultur und Politik wie der frühere senegalesische Staatspräsident und Dichter Léopold Sédor Senghor (1983) und der Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (2000). Die Preisträgerin des vergangenen Jahres war die amerikanische Professorin für politische Philosophie Seyla Benhabib.

Die diesjährige Preisverleihung findet am 14. Mai 2013, um 18 Uhr s.t. im Beisein des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, im Festsaal der Tübinger Eberhard Karls Universität statt.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution81

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Myriam Hönig, Antje Karbe, 10.04.2013
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E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2013