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PROFIL/018: Habermas - Parteilichkeit für Vernunft (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 50/Herbst 2009

Habermas: Parteilichkeit für Vernunft

Von Stefan Müller-Doohm


Jürgen Habermas, der in diesem Jahr 80 Jahre alt wurde, ist ein Soziologe und Philosoph von Rang, dessen Diskursethik und kommunikative Vernunft weltweit diskutiert werden. Als öffentlicher Intellektueller hat er die Geschichte der Bundesrepublik kritisch begleitet und bei allen relevanten gesellschaftspolitischen Kontroversen energisch Stellung bezogen. Der Essay fragt nach dem Grundmotiv seiner theoretischen Anstrengungen und der spezifischen Vermittlung von Theoriekonstruktion und Engagement.


Jürgen Habermas hat bekannt, er sei "ein polemisches Talent", und erläuternd hinzugefügt, die Auseinandersetzungen über das demokratische Selbstverständnis seien "unter unfriedlichen Prämissen geführt worden". Als opponierender Geist hat er sowenig Samthandschuhe angezogen, wie seine Gegner ihn schonten. Ein Beispiel für die Anfeindungen war jüngst der Aufmacher der Zeitschrift "Cicero": "Vergesst Habermas!" Das Heft enthält einen Artikel, in dem darüber phantasiert wird, ob der zehnjährige Habermas als Mitglied der Hitler-Jugend sich von den Nazi-Parolen verführen ließ. Unterstellungen dieser Art machen augenfällig, welchen Preis der linksorientierte Intellektuelle hierzulande für sein politisches Engagement zu entrichten hat. Dieser Erfahrung, der Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Position des kritischen Intellektuellen aus dem Weg zu gehen, um ihn als Person zu diskreditieren, steht die - in vielen ehrenvollen Auszeichnungen und renommierten Preisen bekundete - öffentliche Anerkennung gegenüber, die Habermas international genießt.

Habermas ist der Gegenwartphilosoph, dem es gelungen ist, zwei bedeutsame Leben in einem zu führen: Das eine ist das des produktiven Wissenschaftlers von Rang, der als Philosoph die Diskursethik kreiert und als Sozialtheoretiker die kommunikative Vernunft expliziert hat. Das andere ist das des öffentlichen Intellektuellen, der seit Jahrzehnten opponierend das Wort ergreift, um mit seismographischem Gespür die Gesellschaft auf ihre eigenen normativen Vorgaben und deren Verletzung aufmerksam zu machen.


Engagement im Nebenberuf

Mit seiner Kritik an Heidegger tritt Habermas 1953 auf der Bühne des öffentlich ausgetragenen Disputs erstmals in Erscheinung. Sich auf "die Wächterschaft der öffentlichen Kritik" berufend, hält er dem Fundamentalontologen vor, seine Vorlesungen aus den dreißiger Jahren unkommentiert wieder veröffentlicht zu haben, in denen von der "inneren Wahrheit und Größe" der nationalsozialistischen Bewegung die Rede ist.

Die folgende Intervention ist seine Forderung einer Hochschulreform in den sechziger Jahren; es sind dezidierte Beiträge, mit denen er sich am Kampf um die Demokratisierung der Universitäten und für die Chancengleichheit im Bildungssystem beteiligt. Während der weltweiten Studentenproteste exponiert sich Habermas in der doppelten Rolle des Interpreten der politischen, kulturellen und sozialen Ursachen der Oppositionsbewegung, ihrer Motive und Ziele sowie als Kritiker eines zum Selbstzweck gewordenen Aktionismus. Im Jahr des deutschen Herbstes 1977, als man einen Kausalzusammenhang zwischen Terrorismus und kritischer Theorie herzustellen versucht, ist Habermas einer der wenigen Intellektuellen, die sich öffentlich wehren.

Anfang der 80er Jahre erwägt die Regierung unter Helmut Schmidt, in der BRD Pershing-II-Raketen zu stationieren; den massenhaften Widerstand deutet Habermas als legitimen Ausdruck "zivilen Ungehorsams". Wenig später entfacht er mit einer vehementen Kritik an der "Entsorgung der deutschen Vergangenheit" den Historikerstreit, 1999gefolgt von seiner nachdrücklichen Befürwortung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas: Er verteidigt es als symbolischen Ausdruck für den Zivilisationsbruch. In der Euphorie der Wiedervereinigung warnt er vor einem "DM-Nationalismus" und plädiert für einen Volksentscheid über eine neue Verfassung. In der Asyldebatte bezieht er Stellung gegen den neuen Nationalismus und rechte Gewalt. Mit Analysen zu den beiden Irak-Kriegen sowie zum Kosovo-Krieg tritt er eine Lawine von Auseinandersetzungen bezüglich der Legitimität regional begrenzter Kriege los.

Die Interventionen der letzten Jahre, die mit seinem Namen verbunden sind, stehen bis heute im Zentrum öffentlichen Interesses: Zum einen die Debatte über die Zukunft Europas und seine politische Ordnung, zum anderen die Debatte über die moralischen Dimensionen von Gentechnik und Embryonenforschung bzw. über Determinismus und Willensfreiheit, schließlich die Debatte über die Rolle der Religion in der "postsäkularen Gesellschaft".


Merkmale des intellektuellen Denkstils

Für Habermas sind seine Eingriffe als öffentlicher Intellektueller eine Kritik an politischen Zuständen und Entwicklungen, die im Lichte von moralischen Grundsätzen und demokratischen Normen beurteilt werden. Dabei wendet er sich nicht von der Position des distanzierten Beobachters, sondern aus der Perspektive eines Teilnehmers am Geschehen gegen ungerechtfertigte Formen von Macht. Seine intellektuelle Praxis ist vom subjektiven Impuls der Entrüstung getragen. Sie speist sich aus dem Vertrauen in das emanzipatorische Potential demokratischer Institutionen und zielt auf intersubjektives Argumentieren. Das Infragestellen beruht darauf, argumentierend gute Gründe vorzutragen, die an die Sensibilität von Teilnehmern der öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozesse gerichtet sind. Sinn und Zweck des öffentlichen Streits, den Habermas vom Zaun bricht, besteht nicht zuletzt darin, ein Modell für den öffentlichen Gebrauch der Vernunft vorzuführen. Seinen Interpretationen, die danach fragen, was im allgemeinen Interesse aller liegt, ist der Impuls zumindest langfristiger praktischer Veränderung eigen: die Erwartung, dass Machtstrukturen, deren Illegitimität aufgezeigt wird, auch gebrochen werden können. Habermas gibt keine letzten Antworten, weil die intellektuelle Praxis für ihn ein offener, fehlbarer, stets aufs Neue durchzuführender Prozess des Argumentierens ist. Er vertraut auf die Produktivkraft der Kommunikation, indem er auf diskursiver Rechtfertigung besteht.


Weltinnenpolitik ohne Weltregierung

Habermas hat darauf hingewiesen, dass die Schwächung der Demokratie, die daraus resultiert, dass die Öffentlichkeit auf Plebiszite eingeschränkt ist und ansonsten für private und politische Partikularinteressen in Dienst genommen wird, stets die Gefahr einer Expansion des Kapitalismus bzw. seiner Funktionsmechanismen in sich trägt. Das ohnehin prekäre Spannungsverhältnis verschiebt sich dann zu Gunsten einer Ökonomie, die gemäß der Wachstumslogik einer eigendynamischen Kapitalakkumulation zur Hegemoniebildung drängt. Nur eine dauerhaft stabile Demokratie mit dem Kontrollorgan einer politischen Öffentlichkeit garantiert die Gegengewichte zu einem Kapitalismus, auf dessen Produktivität allerdings entwickelte Gesellschaften für ihre materielle Reproduktion angewiesen sind. Die über die Öffentlichkeit gebildete kommunikative Macht ist nicht nur ein Grant dagegen, dass sich die Interessen des politischen Systems nicht gegenüber der Zivilgesellschaft verselbständigen. Vielmehr haben die konsensuellen Entscheidungen auch die Funktion einer Richtgröße für das ökonomische System. Zwar hat sich Habermas von dem Gedanken verabschiedet, dass die Ökonomie durch Partizipation gesteuert werden könne. Aber er besteht darauf, durch öffentliche Meinungs- und Willensbildungsprozesse die systemischen Imperative eines interventionistischen Staatsapparates ebenso wie die des Wirtschaftssystems in Schach zu halten.

Das Postulat der Demokratisierung erhält für Habermas angesichts der epochalen Dynamik einer Globalisierung und Deregulierung des Kapitalismus umso mehr Gewicht. Parallel zur Expansion der Ökonomie droht Demokratie erneut in die Defensive zu geraten, bedingt durch die Konsequenzen dessen, was Habermas die "postnationale Konstellation" nennt. Nur eine offensive Programmatik im Sinne einer kosmopolitischen Demokratie auf der Grundlage einer globalen Rechtsordnung kann Habermas zufolge aus dem Dilemma heraushelfen. Das ist die Idee einer "Weltinnenpolitik ohne Weltregierung" bzw. einer "Weltgesellschaft ohne Weltregierung". Die Aufgaben einer supranationalen Weltorganisation bestünden in erster Linie in einer global orientierten Politik, die sich auf Friedenssicherung, Menschenrechte und Umwelt konzentriert.


Kritik und Gegenkritik

Im expliziten Dialog mit Strömungen, die er weiter denkt und neuartig miteinander kombiniert wie dem Marxismus und der philosophischen Hermeneutik, den kognitiven und moralischen Entwicklungstheorien, der Sprachphilosophie und dem Pragmatismus hat Habermas ein eigenes Paradigma von Sprache und Vernunft, von Ethik und Moral, von Handlung und Verständigung, von Rechtsstaat und Demokratie, von Wissen und Glauben entfaltet.

Theoriekonstruktion versteht er als Lernprozess: als Arbeit an einem offenen und fehlbaren Projekt, das im Lichte neuer geschichtlicher und wissenschaftlicher Erfahrungen stets weiter zu schreiben ist. Gesellschaftstheorie verhält sich kritisch zu ihrem Gegenstand. Sie ist damit verpflichtet, ihren kritischen Maßstab auszuweisen und zu begründen. Der Maßstab, den Habermas in Anspruch nimmt, ist ein Begriff kommunikativer Vernunft, den er gegenüber dem der instrumentellen Nützlichkeit abgrenzt. Mit der Entdeckung der Rede als Ort der Vernunft leitete er den "linguistic turn" der kritischen Gesellschaftstheorie ein. Seitdem gilt kommunikative Freiheit als die entscheidende Voraussetzung für demokratische Selbstbestimmung in einer pluralen, multikulturellen Gesellschaft, in der die vielfältigen Interessen und Lebensformen zumindest annäherungsweise einen Ausgleich finden können. Weil sich Gesellschaft durch Kommunikation konstituiert, ist ihr die Idee einer vernünftigen und das heißt auf Argumente gestützten Begründung ihrer Ordnung immer schon eingeschrieben. Ohne Zweifel muss der Theoretiker, dessen Reflexionsgegenstand die Gesellschaft dieser Epoche ist, zum unnachsichtigen Sozialkritiker werden, sobald er nachzuweisen vermag, dass die Gestaltung des Sozialen hinter ihre eigenen kommunikativen Möglichkeiten, hinter ihre eigenen Gerechtigkeitsansprüche zurückfällt.

Zur Aufklärung jener Moderne beizutragen, die nicht zwangsläufig den Menschen entgleiten muss, sondern ein unabgeschlossenes, offenes Projekt ist, dessen Schicksal in ihren Händen liegt: dies ist der intuitive Grundzug und das Hauptmotiv der theoretischen Anstrengungen von Jürgen Habermas.


Der Autor

Prof. em. Dr. Stefan Müller-Doohm studierte in Frankfurt/M., Marburg und Gießen Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie. Nach der Promotion wurde er 1974 an die Universität Oldenburg berufen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorie, Interaktions- und Kommunikationstheorie sowie Kultursoziologie. Er ist Leiter der Forschungsstelle Intellektuellensoziologie, wo er sich nach seiner viel beachteten Adorno-Biographie mit der öffentlichen Rolle bedeutender Intellektueller sowie mit dem Leben und Werk von Jürgen Habermas befasst. Eine Kurzbiographie ist bereits im Dezember 2008 erschienen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Frankfurter Ursprünge: Jürgen Habermas 1956 als
Forschungsassistent am Institut für Sozialforschung.

Kommunikative Vernunft in Aktion: Jürgen Habermas 1998 bei der Podiumsdiskussion im Rahmen der Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit mit dem Oldenburger Philosophen und Initiator der Vorlesungen Rudolf zur Lippe.


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Quelle:
Einblicke Nr. 50, 24. Jahrgang, Herbst 2009, Seite 8-11
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2009