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STRÖMUNGEN/028: Vom Lehnstuhl auf die Straße (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 61 - Ausgabe 2016
Das Forschungsmagazin - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Vom Lehnstuhl auf die Straße

Können empirische Methoden angewandt werden, um philosophische Fragen zu behandeln? Mark Siebel ist davon überzeugt. Er gleicht seine Gedankenexperimente mit dem Alltagsverständnis der Menschen ab

von Volker Sandmann


Der Philosoph im Lehnstuhl: Er gewinnt seine Einsichten bewusst und rational. Seine Schlüsse zieht er "a priori", also unabhängig von der Erfahrung - dabei befragt er sich selbst oder setzt sich mit Positionen anderer Philosophen auseinander. Auch Gedankenexperimente sind für ihn ein probates Mittel: "Der Philosoph alter Schule kreiert eine Situation, die real manchmal nur schwer herzustellen ist. Er überlegt dann, wie die Situation 'intuitiv' einzuschätzen ist und was passiert, wenn man die Theorie auf diese Situation anwendet. Das alles spielt sich nur in seinem Kopf ab", erklärt Dr. Mark Siebel. Der Professor am Institut für Philosophie weiß, wovon er spricht. Seine ganze Zeit verbringt der 52-Jährige aber nicht im Lehnstuhl. Ihn interessiert, was die Wirklichkeit von den Gedankenexperimenten hält: "Am Ende geht es in der Philosophie ja auch um Ideen für eine bessere Welt, die man vermitteln möchte. Wenn diese aber auf einem abgehobenen Level deduziert werden und nichts mehr mit dem normalen Menschen auf der Straße zu tun haben, kommt man nicht weiter."

Mark Siebels Leidenschaft ist Präzision. Als anerkanntem Vertreter der "Analytischen Philosophie" liegt ihm viel daran, philosophische Probleme möglichst eindeutig zu formulieren. "In unserer Disziplin kommt es sehr stark auf Begriffe an. Nur wenn die Sprache exakt ist, können wir klare Urteile fällen und neue Theorien entwickeln, die eine größere wissenschaftliche Kraft entfalten", so der Philosoph. Wenn es sein muss, enthält sein Methodenkoffer dafür auch Instrumente anderer Fachdisziplinen. "Die Mathematik hilft mir, theoretische Sachverhalte möglichst präzise zu beschreiben." Der "Faktencheck" erfolge dann auch durch die Empirie: "Ich strebe eine empirisch informierte Theorie an." Ziel sei, so Siebel, den praktischen Alltag der Menschen zu berücksichtigen - auch, um daraus Konsequenzen für philosophische Begriffe und Theorien abzuleiten.

Der Wissenschaftler Siebel bewegt sich damit zwischen zwei Welten - er selbst spricht von einem "Wechselspiel": Auf der einen Seite sitzt auch er im Lehnstuhl des Philosophen. Auf der anderen Seite verlässt er diesen regelmäßig, um sich mit den tatsächlichen Überzeugungen der Menschen zu konfrontieren. Eine Herangehensweise, die gemeinhin als "Experimentelle Philosophie" bekannt und nicht unumstritten ist. Das intuitive Alltagsverständnis von Personen, so die Kritiker, reiche vielleicht aus, lokale, bekannte Probleme zu bewältigen. Gehe es aber um grundlegende theoretische und gesellschaftliche Herausforderungen, würden die Intuitionen von Laien an enge Grenzen stoßen.

Dennoch: Die Ergebnisse der "Experimentellen Philosophie", die auch viel Zuspruch erhält, sind mitunter verblüffend. Siebel ist derzeit an zwei politikrelevanten Forschungsverbünden beteiligt, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). In beiden Forschungsdesigns werden Probanden im Rahmen von "Vignetten-Experimenten" befragt: Kernelement sind Kurzgeschichten, Situations- oder Personenbeschreibungen aus dem Alltag - die so genannten Vignetten. Die befragten Personen sollen auf Basis einer vorgegebenen Beurteilungsskala ihre Meinung zum Sachverhalt kundtun. Um das "reine Urteil" nicht zu stören, verzichten Siebel und seine Mitarbeiter auf finanzielle Anreize für die Versuchsteilnehmer. Die Vignetten-Meinungen werden dann einer genaueren statistischen Analyse unterzogen.

In einem der beiden Verbünde forscht Siebel gemeinsam mit Psychologen, Sozialwissenschaftlern und Ökonomen und widmet sich Fragestellungen rund um Bedarfsgerechtigkeit und Verteilungsprozeduren. Konkret geht es ihm um "Maße der Bedarfsgerechtigkeit, Expertise und Kohärenz". Siebel: "Einfach formuliert bedeutet Bedarfsgerechtigkeit ja, dass jeder das bekommt, was er benötigt. Da aber nicht immer alles ausreichend vorhanden ist, schauen wir uns an, was mit einem knappen Gut passieren sollte." Die Forscher gehen dabei der Frage nach, wie sich der Grad der Bedarfsgerechtigkeit einer Verteilung ermitteln lässt. "Nehmen wir als Beispiel die Zuweisung einer begrenzten Menge an Zitronen, um einen gegebenen Vitamin-C-Bedarf zu decken. Uns interessiert, als wie gerecht unterschiedliche Zitronen-Verteilungen am Ende beurteilt werden", so Siebel weiter.

Der Philosoph im Lehnstuhl hat schon Ideen zur Theorie: In den Gedankenexperimenten des Projektteams geht es vor allem um normative Axiome - also um die Frage, welche grundlegenden Eigenschaften ein Maß für Bedarfsgerechtigkeit haben sollte. Eine dieser Eigenschaften sei die Monotonie: "Wir gehen davon aus, dass unsere Versuchsteilnehmer die Situation als gerechter empfinden müssten, je näher die Zuteilungen, die in dem beschriebenen Bedarfsszenario stattfinden, an die tatsächlichen Bedarfe heranreichen", erklärt der Oldenburger Professor.

Auf die Theorie folgt die Praxis: Die Erhebung mit insgesamt rund 174 Probanden muss zwar noch im Detail analysiert werden - trotzdem gibt es bereits erste Befunde. So hätten die Befragungen ergeben, dass der Monotonie-Zusammenhang tatsächlich greift. Siebel nennt ein Beispiel: "Eine dreiköpfige Familie bekommt von staatlicher Seite 100 Quadratmeter Wohnraum zugewiesen, eine zweite dreiköpfige Familie 80 und eine dritte nur noch 40 Quadratmeter Fläche. Wie zu erwarten war, wächst das Unbehagen bei schlechterer Versorgung der Familie." Es gab aber auch Überraschungen. Die so genannte Monotonie-Sensitivität bestätigte sich beispielsweise nicht. Die Wissenschaftler waren davon ausgegangen, dass die wahrgenommene Ungerechtigkeit überproportional steigt, je weiter die Schere auseinanderklafft zwischen dem, was eine Person in dem Szenario benötigt, und dem, was sie tatsächlich bekommt. Das Gegenteil war der Fall. "Die daraus resultierende Politikempfehlung wäre: Nimm von den Ärmsten und gib denen, deren Bedarfe so gut wie erfüllt sind! Für uns ist das natürlich schwierig. Wir müssen jetzt sehen, wie dieser Befund zu erklären wäre. Vielleicht fehlen den Probanden wichtige Informationen", konstatiert der Philosoph.

Informationen - darum geht es auch bei der Grundannahme dieses Projekts. Die Forscher gehen der so genannten "Expertenhypothese" nach. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die Gerechtigkeitsurteile der Versuchsteilnehmer unter dem Einfluss von Expertise verhalten. "Unsere Erwartung ist, dass mehr Expertise zu mehr Kohärenz in den Gerechtigkeitsbeurteilungen führt", erklärt Siebel. Dabei würden zum einen die Probanden selbst durch bereitgestellte Informationen in den "Expertenstand" gehoben und zum anderen die Fürsprache von Experten in die Vignetten integriert. "Wir vermuten, dass das Meinungsbild in beiden Fällen insgesamt weniger streut, also konsistenter ist. Dabei macht es natürlich einen Unterschied, ob man im Szenario einen renommierten Experten sprechen oder eine Wahrsagerin in die Kristallkugel schauen lässt", schmunzelt Siebel.

Auch im zweiten Forschungsverbund, an dem Mark Siebel derzeit mit einem Team von zwei Mitarbeitern beteiligt ist, kommen Methoden der "Experimentellen Philosophie" zum Einsatz. Unter der Überschrift "New Frameworks of Rationality" gehen Psychologen, Philosophen und Informatiker der Frage nach, wie Menschen Entscheidungen treffen und was angesichts von Kriegen, Klimawandel und anderen Katastrophen eigentlich eine rationale Entscheidung ausmacht. In ihrem Teilprojekt widmen sich die Oldenburger wiederum dem Aspekt der Kohärenz. "Wir schauen uns dabei zum Beispiel an, inwiefern man den Aussagen verschiedener Zeugen, die sich ähneln und in diesem Sinne zueinander passen, stärker trauen kann."

Auch hier gehen die Philosophen zunächst wieder mathematisch-logisch und dann empirisch vor - "wenngleich hier der empirische Abgleich in einem weitaus kleineren Rahmen stattfindet", ergänzt Siebel. Im ersten Schritt werden so genannte probabilistische Kohärenzmaße entwickelt - also Maße, die auf der Basis der Wahrscheinlichkeiten für die jeweiligen Aussagen berechnen, wie gut sie zusammenpassen. Im zweiten Schritt "konfrontieren" die Forscher ihre und konkurrierende Maße wieder mit der Wirklichkeit, erneut im Rahmen von Vignetten-Befragungen. "Wir haben den Probanden beispielsweise Zeugenaussagen verschiedener Personen zu denselben Sachverhalten geschildert", so Siebel. Die Probanden sollten dann angeben, wie gut die Aussagen jeweils zusammenpassen. Das Ergebnis: "Die Empirie bestätigt unsere Theorie: Das Kohärenzmaß, das wir ins Rennen gebracht haben, stimmt mit den Befragungsergebnissen am stärksten überein. Die rationale Überlegung entspricht somit dem Urteil des Laien."

Mark Siebel ist ein Mann der Zahlen - die Mathematik liegt ihm. Nicht ohne Grund hat dem Philosophen die "Einführung in die Logik" zu Beginn seines eigenen Studiums besonders großen Spaß gemacht. "Ich fühlte mich gleich gut aufgehoben, weil ich merkte, dass ich hier die Präzision bekommen kann, die ich in meinen Aussagen anstrebe", so Siebel. Er würde aber nie behaupten, dass dies der einzige Weg sei, zu philosophieren: "Manchmal ist es gerade gut, unpräzise zu sein. Das fördert die Kreativität!"

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Quelle:
Einblicke Nr. 61, 31. Jahrgang, Seite 38-40
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2017

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