Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

ABENTEUER/001: Die lange Reise eines Steins (SB)

Diamant Eureka, © 2011 by Schattenblick

Die Geschichte von Erasmus Jakobs und Eureka


Vor langer Zeit - um genau zu sein im Jahr 1867 - lebte ein Junge namens Erasmus Jacobs mit seinen Eltern im südlichen Afrika. Sie hatten eine Farm in der Nähe eines Flusses, den die holländischen Einwanderer Oranje genannt hatten. Von klein auf war es Erasmus gewohnt, in der weiten südafrikanischen Landschaft herumzustreunen, die Tiere zu beobachten oder einfach am Fluß zu sitzen.

Als er fünfzehn Jahre alt war, entdeckte er am Ufer des Oranje einen besonders schönen Kieselstein. Er hob ihn auf, steckte ihn in seine Hosentasche und nahm ihn mit nach Hause. Doch jedesmal, wenn Erasmus den Kiesel in der darauffolgenden Zeit betrachtete, war er so von seinem Funkeln fasziniert, daß er ihn nicht nur seinen Eltern, sondern auch anderen Leuten zeigte, die manchmal zu Besuch auf die Farm kamen. Mitunter wurde er deswegen etwas belächelt, denn mit seinen fünfzehn Jahren galt er damals schon fast als erwachsen - und welcher Erwachsene kümmerte sich schon ernsthaft um Kieselsteine?

Dann gab er seinen Kiesel eines Tages für einen kleinen Geldbetrag an einen Bekannten seiner Eltern ab. Nur aus Spaß ritzte dieser mit dem Stein in die Fensterscheibe des Farmhauses, die davon bleibende Kratzer erhielt. Ob er ahnte, was das bedeutete, ist nicht sicher. Wahrscheinlich fand er den Stein einfach auch besonders hübsch oder aber er wollte dem jungen Erasmus eine kleine Freude mbereiten, indem er ihm den Stein abkaufte. Wer kann das heute schon noch genau wissen? Die Folgen allerdings, die dieser kleine Personenwechsel nach sich zog, sollten sich auf die Geschichte des ganzen Landes auswirken. Noch heute kann man sich ein ziemlich genaues Bild machen, wie die Reise des Steins nun verlief. Davon soll hier berichtet werden.

Raute

Auch der neue Besitzer war von dem Funkeln des Steins so angetan, daß er sich schließlich nicht verkneifen konnte, ihn seinerseits einem Bekannten zu zeigen. Der sagte prompt: "Das ist ein Diamant!" Wirklich sicher konnte er sich dabei allerdings nicht sein, denn wenn er überhaupt schon einmal einen Diamanten gesehen hatte, dann ganz bestimmt nicht einen so großen wie diesen Kiesel.

Nachdem nun aber der Begriff "Diamant" einmal gefallen war, wich er nicht mehr aus den Köpfen der beteiligten Menschen. Die beiden Männer wollten sich ja nicht lächerlich machen - aber es wäre doch zu phantastisch, wenn dieser große Kiesel tatsächlich ein Diamant wäre ...

Wie aber sollten sie das herausfinden? In der ganzen Kapkolonie, wie Südafrika damals noch hieß, hatte noch niemand auch nur den kleinsten Diamanten gefunden. Wenn das nämlich der Fall gewesen wäre, hätte sich diese Nachricht sofort wie ein Lauffeuer verbreitet, da es auf der ganzen Welt fast nichts gab, das an Wert diesen kleinen, kostbaren Edelsteinen gleich kam. Wurden sie irgendwo entdeckt, zog dies sofort eine ganze Flut von Abenteurern, Glücksrittern und Geschäftsleuten nach sich. Denn jeder, der schnell genug vor Ort war, hatte die Chance, zu Reichtum und Ansehen zu gelangen.

In der Hoffnung, etwas Klarheit in diese Angelegenheit zu bringen, zeigten die beiden Männer den Stein zwei deutschen Händlern. Doch auch die waren sich in ihrem Urteil nicht sicher. Sie spekulierten genauso wie sämtliche Leute, die den Stein danach zu sehen bekamen. Ja, es konnte schon ein Diamant sein. Vielleicht aber auch nicht. Die Möglichkeit eines Irrtums war viel zu groß und so blieben die Zweifel bestehen.

Als nächstes wurde der Stein einem Engländer präsentiert, der immerhin der Bezirkskommisar der nächstgrößeren Stadt Colesberg war. Dieser zeigte ihn wiederum dem ortsansässigen Apotheker und der wettete mit dem Beamten um einen neuen Hut, daß es sich bei dem schönen Kiesel in Wahrheit tatsächlich um einen Diamanten handelte. Das Problem war nur, daß auch der Apotheker es nicht ganz sicher zu sagen wußte. Um ihrer Wette auf den Grund zu gehen, steckten sie den Stein kurzerhand in einen Briefumschlag und sandten ihn mit der Post ihrerseits in die nächstgrößere Stadt, nach Grahamstown. Die Post, das war damals eine Kutsche, wie man sie auch aus Western im Fernsehen kennt.

Der Stein kam sicher in Grahamstown an. Dort nahm er seinen Weg von einem Doktor zu einem Professor, der immerhin über ein Labor verfügte, wo er ein paar Untersuchungen anstellen konnte. Wahrscheinlich waren seine Tests zu ungenau, denn im Anschluß begaben sich der Doktor und der Professor gemeinsam auf den Weg zu einem Priester, der zwar kein Labor hatte, doch über so viel praktische Erfahrung verfügte, daß er wußte, daß Diamanten extrem hart sind. Heutzutage weiß ja fast jedes Kind, daß Diamanten Glas schneiden können und auch damals, im Jahr 1867, hatte der Priester die Idee, mit dem Stein eine Fensterscheibe zu bearbeiten. Er versuchte, seine Initialen in das Glas zu gravieren - und siehe da: es funktionierte. Er wußte natürlich nicht, daß dies vor ihm auf der Farm auch schon jemand gemacht hatte.

Trotz dieses - seiner Meinung nach beweiskräftigen - Tests, wagten die Männer noch immer nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, daß sie es tatsächlich mit einem echten Diamanten zu tun hatten. Sie waren jedoch mittlerweile so optimistisch, daß sie sich schließlich einigten, einen Juwelier zu Rate zu ziehen. Der versuchte nun mit seinen hervorragenden Spezialfeilen dem Stein beizukommen. Er wollte ein wenig Staub abschleifen oder auch eine kleine Gravur anbringen. Alle seine Bemühungen hatten jedoch nur das niederschmetternde Ergebnis, daß er sein kostbares Handwerkszeug beschädigte, während der Stein hinterher nicht die Spur eines Makels aufwies.

Der Schaden des Juweliers führte jedoch zur Freude der anderen Herren, die ihn mit dem Stein aufgesucht hatten. Denn wer hatte je gehört, daß ein normaler Kiesel den harten Feilen eines Juweliers standhalten konnte? Diese Unzerstörbarkeit sprach eindeutig für einen Diamanten.

Der Juwelier wollte nach seinem Test den Stein zu einem wirklichen Experten nach Kapstadt schicken. Kapstadt war zu dieser Zeit die Hauptstadt der Kolonie. Hier sorgte der Stein für Aufsehen bis in die höchsten Regierungskreise. Der Gouverneur persönlich, also der höchste Verwaltungsbeamte der Kolonie, wurde davon unterrichtet, daß es im entfernten Landesinneren einen Fund gegeben hatte, bei dem es sich vielleicht um einen Diamanten handelte. Mittlerweile hatte der Stein eine Reise von über tausend Kilometern hinter sich. Der Gouverneur beriet sich mit dem französischen Konsul, der sich zufällig gut mit Diamanten auskannte. Doch auch dieser Kenner war sich noch nicht wirklich hundertprozentig sicher. Da ein Diamant aber nur mit hundertprozentiger Sicherheit auch allseits als Diamant anerkannt - und bezahlt - wird, war die Reise des Steins noch immer nicht beendet.

Zu guter letzt wurde ein Diamantenspezialist zu Rate gezogen, ein Holländer, der gerade in Kapstadt zu Besuch war. Dieser kam wider Erwarten sehr schnell zu einem eindeutigen Ergebnis und erklärte, daß es sich bei dem vermeintlichen Kiesel um einen Diamanten bester Qualität handelte, der über 21 Karat habe. Das entsprach damals einem Wert von circa 500 englischen Pfund. Dieses Ergebnis wurde sozusagen als krönender Abschluß von keinem geringeren als dem Hofjuwelier des englischen Königshauses bestätigt. Damit war die lange Reise des Steins beendet, der in der Folge einen Rang unter den größten Diamanten erhielt, die jemals auf der Erde gefunden wurden.

Raute

Steine von dieser Größe und Schönheit erhielten Namen. Den Kiesel des Erasmus Jakobs nannte man "Eureka". Das ist ein griechisches Wort, das übersetzt so viel heißt wie "ich habe gefunden" - "Findling" würde man vielleicht um der Kürze willen sagen. Dieser Findling war der erste Diamant, der in der Kapkolonie entdeckt wurde und er prägte die Geschichte des Landes wie kaum ein anderes Ereignis, seit die weißen Einwanderer aus Europa sich dort niedergelassen hatten. Zuerst bevölkerte eine unendliche Flut von Abenteurern das Land. Sie schürften nach Diamanten, ähnlich wie am anderen Ende der Welt beim Goldrausch in Alaska nach Gold gegraben wurde. Doch schon rückten Gesellschaften nach, die den Abbau gezielt betrieben und bald auch kontrollierten. Der Diamantenabbau entwickelte sich zu einem der bis dahin größten Wirtschaftszweige des Landes.

Da die Vorkommen sich alle auf einen relativ kleinen Flecken Land konzentrierten, entstand rund um die Abbaufelder schnell eine eigene Stadt: Kimberley. Kimberley hätte es ohne die Diamantenfunde niemals gegeben.

Raute

Die Reise des Steins war zu Ende, der Kiesel hatte sich als kostbarer Diamant entpuppt. Eigentlich ist die Geschichte damit beendet. Allerdings soll sie nicht enden, bevor wir nicht noch einen letzten Blick auf einige der beteiligten Menschen geworfen haben:

Da war der Bekannte der Familie Jakobs, der den Stein ganz am Anfang auf die Reise geschickt hatte: Er erhielt aus dem erzielten Verkaufspreis so viel Geld, daß er mit einem Schlag ein wohlhabender Mann wurde. Für den Betrag, den er erhalten hatte, hätte er normalerweise mehrere Jahre lang arbeiten müssen. Er dachte natürlich an den jungen Erasmus Jakobs und seine Eltern und bot ihnen einen Anteil von dem Gewinn an. Die Mutter von Erasmus lehnte das freundliche Angebot jedoch ab. Angeblich begründete sie diese Entscheidung damit, daß sie für einen 'Kiesel', den ihr Junge aus reinem Zufall mit nach Hause gebracht hatte, kein Geld haben wollte. Aber vielleicht hat der Mann dem jungen Erasmus doch etwas abgegeben ...

Der Apotheker, der darum gewettet hatte, daß der Kiesel ein Diamant sei, gewann einen neuen Hut und widmete sich nach diesem Erlebnis weiterhin sehr erfolgreich dem Diamantengeschäft.

Die Fensterscheibe aus dem Farmhaus der Familie Jacobs, mit den allerersten Kratzern darauf, ist nie durch eine neue ersetzt worden und kann noch heute im Museum von Colesberg besichtigt werden. Auch das andere Fenster, das die Initialen des Geistlichen trägt, ist bis heute erhalten geblieben und zeugt von einer Etappe der langen Reise eines Steins - dem Diamanten Eureka.



Erstveröffentlichung im Schattenblick 11. November 1997

25. Januar 2011