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GUTE-NACHT/2614: Felix im Marzipangeschäft (SB)


Wenn der Tiger eine Reise macht

Mit seinem Kahn, wie Vater Gustav sein Auto nannte, fuhren wir nun wieder in die Innenstadt. Dort hielt er Ausschau nach einem Süßigkeitenladen, vor dem er parken konnte. Es dauerte nicht lange, da war auch schon ein Laden in Sicht. Beinahe hätte uns noch ein anderer Wagen unseren Parkplatz weggeschnappt. Doch der Fahrer entschied sich in letzter Sekunde um und bog wieder auf die Straße zurück.

Diesmal wollte ich aber mitkommen und nicht wieder im Auto bleiben. Schließlich wäre es doch möglich, eine kleine Kostprobe des Marzipans schon im Laden zu erhaschen. Ich setzte mein allerniedlichstes Gesicht auf, so daß Vater Gustav gar nicht anders konnte, als mich in den Laden mitzunehmen. Zwar müssen Hunde und bestimmt auch lebendige Tiger vor den Läden warten. Aber da mich ja alle nur für ein Stofftier halten, konnte Vater Gustav mich ohne Ärger mit in den Laden nehmen.

Mhm, wie es hier roch. Vater Gustav setze mich in den Einkaufskorb. Das schaukelte ganz schön hin und her, und ich erblickte zuerst nur die untersten Regale und was darin lag. Doch etwas später stellte mich Vater Gustav weiter oben ab. Von dort konnte ich den ganzen Laden überblicken und dem Gespräch zwischen der Verkäuferin und ihm lauschen. Dabei verspeiste ich heimlich, still und leise das erste Marzipanbrot meines Lebens. Vater Gustav hatte es gleich beim Eintreten in den Laden neben den Einkaufskörben im Regal gefunden. Es war nicht schwierig das Brot mit meinen Krallen auszuwickeln. In kurzer Zeit lag das Brot mit seinem schwarzen Schokoladenüberzug vor mir und ich biß herzhaft hinein. Das Papier schmiß ich vorsorglich aus dem Einkaufskorb heraus. Vater Gustav sollte annehmen, er habe vergessen, sich so ein Marzipanbrot in den Korb gepackt zu haben.

"Sie haben aber schon mächtig viel Weihnachtsdekoration und weihnachtliche Süßigkeiten hier im Laden aufgebaut", staunte Vater Gustav. Die Verkäuferin nickte: "Ja, aber denken sie bloß nicht, das würde noch nicht gekauft. Die erste Palette Weihnachtsmänner ist schon über den Ladentisch gegangen. Wenn sie zu Weihnachten ganz bestimmte Vorstellungen von einem Weihnachtsteller haben, dann sollten sie jetzt schon zugreifen, sonst finden sie das Gewünschte bald nicht mehr vorrätig." Vater Gustav sah sich um: "Ich bin eigentlich nicht wegen der Weihnachtseinkäufe hier. Mein Wunsch ist ein besonders leckeres Marzipanbrot, das Beste das sie haben. Es ist für meine Tochter, eine kleine Entschädigung. Ich habe nämlich heute morgen ihren Tiger entführt. Sehen sie." Vater Gustav zeigte auf mich. Ich konnte gerade noch mein Maul schließen, in dem der letzte Rest des Marzipanbrotes verschwand.

"Ist der aber niedlich und so kuschelig. Darf ich mal?" fragte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten strich sie über mein weiches Fell. Gerne hätte ich geknurrt oder die Zähne gefletscht. Schließlich lasse ich mich nicht von jedem anfassen und schon gar nicht von einem Fremden. Doch mir wäre womöglich das Marzipan aus dem Maul gefallen. Da hielt ich es für schlauer, lieber auf ganz brav zu mimen. Langsam wurde Vater Gustav etwas ungeduldig. Er wollte nicht den ganzen Nachmittag hier in diesem Laden verbringen. "Nun, welches Marzipan ist das Beste?" fragte er noch einmal. "Nehmen sie das Niederegger Marzipan, das mit dem Lübecker Wahrzeichen, dem Holstentor." Vater Gustav blickte auf das in Plastik eingepackte und ihm gereichte Marzipanstück ohne Schokoladenumhüllung. "Ohne Schokolade?" fragte er. "Nur ohne Schokolade entfaltet Marzipan seinen einzigartigen Geschmack. Versuchen sie es ruhig mal." Gut, Vater Gustav legte das besondere Marzipanstück auf die Ladentheke. Nun griff er zu mir in den Korb und suchte nach dem Marzipan mit Schokoladenumhüllung. Doch er fand es nicht, auch nicht unter mir. Er verzog sein Gesicht, als wollte er sagen: "Aber da habe ich doch schon ein Stück hineingelegt." Er sagte es aber nicht. Stattdessen blickte er zur Verkäuferin und bestellte noch ein zweites nacktes Marzipanbrot von der besten Sorte. Das eine ließ er sich als Geschenk verpacken. Das andere wollte er gleich auf der Rückfahrt selber essen. Denn Marzipan mochte auch er für sein Leben gern. Doch warum Vater Gustav nicht in den ganzen Genuß des Marzipabrotes kam und ich spät am Abend mächtig Bauchzwicken hatte, erzähle ich euch morgen.


Erstveröffentlichung am 15. Oktober 2001

25. April 2008

Gute Nacht