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GUTE-NACHT/2642: Ein Pfennig auf Reisen - Prägung (SB)


Ein Pfennig auf Reisen

Sich mit Gepäck fortzurollen ist für den kleinen Pfennig eine ganz neue Erfahrung. Noch dazu ist es eine wackelige Angelegenheit. Denn das Gewicht, wenn auch ein kleines, das den festgeklebten und durch Staub vergrauten Kaugummi ausmacht, ist vom Pfennig durch eine schräge Haltung beim Fortrollen wieder wett zu machen. Genau einen Meter rollt der Pfennig von der schwarzen Mülltonne fort, bevor er sich ins Gras fallen läßt. Selbstverständlich, wie könnte es auch anders sein, vergräbt er dabei den Kaugummi unter sich. Das ist eine ganz neue Fallerfahrung.

Der Kaugummi hingegen ärgert sich. Schließlich will auch er einen Ausblick haben. Deshalb schimpft er herum und droht dem Pfennig einiges an, wenn er sich nicht sogleich auf die andere Seite umlegt. Dem leistet der kleine Pfennig nicht Folge. Doch er sieht ein, daß auch der Kaugummi sehen möchte, wo sich beide befinden. So stellt er sich aufrecht auf seine Kante und bewegte sich leicht vor und zurück, um das Gleichgewicht halten zu können und nicht gleich wieder umzufallen.

Schon wieder schimpft der Kaugummi los. Vor lauter Gras kann er nicht sehen, wo sie gelandet sind. "Was willst du eigentlich?" fragt ihn der kleine Pfennig, "ich habe uns davor bewahrt, in die schwarze Mülltonne geworfen zu werden. Wenn ich auch zu gern gewußt hätte, wie es darin aussieht." Etwas freundlicher sagt der Kaugummi: "Sei froh, daß dir diese Erfahrung erspart geblieben ist. In so einer Mülltonne kommt auch ein kleiner, stabiler Pfennig unter die Räder." - "Unter die Räder? Das ist doch ein scheußlicher Gedanke", findet der Pfennig und er denkt daran, was ihm einmal ein völlig plattgewalzter Goschen erzählt hat. Der arme Groschen war von einem Jungen auf die Straßenbahnschienen gelegt worden und dann von den Rädern der passierenden Straßenbahn zerquetscht worden. Aus war es da mit der Rollerei.

"Da bist du wohl sprachlos", schaltet sich der Kaugummi wieder ein und etwas schroffer sagt er: "Kannst du mich nicht endlich loslassen? Deine Prägung unter mir drückt sich ganz negativ in mich hinein." Das, was der Kaugummi da sagt, ist im wahrsten Sinne des Wortes so. Würde jemand den Kaugummi und den Pfennig trennen, wäre die vorgewölbte Eins nun als Vertiefung im Kaugummi sichtbar. Der Abdruck in dem Kaugummi ist somit das Negativ des Positivs auf dem Pfennig.

"Wie kann ich dich loslassen?" fragt da der Pfennig, "ich halte dich doch gar nicht fest!" Der Kaugummi muß zugeben, daß die Verbindung zwischen den beiden einzig und allein seiner Fähigkeit entspringt - wenn er denn zuvor gut durchgekaut wurde, was der Fall war -, sich an allem und jedem festzukleben. Doch es liegt nicht in seiner Macht, sich wieder von den Dingen, die er nun einmal vereinnahmt hat, zu trennen. Er kann sich ohne fremde Hilfe nicht wieder von diesen Dingen lösen. "Was sollen wir tun?" fragt da der Pfennig hilflos. Plötzlich wird der aufrechtstehende Pfennig mit dem an ihm klebenden Kaugummi glatt umgeworfen und Dunkelheit legte sich überauf sie beide.


Erstveröffentlichung am 16. September 2003

29. Mai 2008

Gute Nacht