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GUTE-NACHT/2750: Welt hinter Glas (SB)


Das kleine Wesen blickt aus dem Fenster und sieht einen Baum mit bunten Blättern am Wege stehen. Der Wind nimmt einige der Blätter mit sich fort. "Warum ist alles so bunt hier?", fragt das kleine Wesen den Zeichner, der bisher doch immer nur in Grautönen oder Schwarz-Weiß seine Bilder angefertigt hat.

"Das ist der Herbst", antwortet der Zeichner, "der färbt die Pflanzen bunt." - "Ist der Herbst ein Maler?", wundert sich das kleine Wesen. Der Zeichner weiß nicht recht, wie sein neuer Mitbewohner auf diese Schlußfolgerung kommt. Doch endlich versteht er, was sich im Kopf des kleinen Wesens abspielt.

Heute morgen, als das kleine Wesen noch fest schlief und sogar ein bißchen schnarchte, hatte der Zeichner auf seinem Arbeitstisch Platz benötigt für einen neuen Auftrag. Deshalb nahm er seinen Zeichenblock mit dem kleinen Wesen in seinem Haus vom Tisch. Wohin aber sollte er den Block legen? Seine Wohnung ist ziemlich chaotisch. Überall liegen angefangene Zeichnungen, Skizzen für Aufträge oder eigene Ideen auf Zetteln herum. Da ist kaum Platz zum Treten. Nur auf dem Fensterbrett fand der Zeichner eine schöne Stelle, dessen Ausblick auch das kleine Wesen nicht erschrecken würde, wenn es nach dem Aufstehen aus seinem Fenster blickt.

So war es dann auch. Hätte der Zeichner den Block unter sein Bett gelegt, wo ebenfalls noch ein wenig Platz war, hätte die Düsternis und die dicken großen Drahtfedern des Sprungfederrahmens das kleine Wesen sicher in Angst versetzt.

Der Zeichner erklärt: "Was du da siehst, befindet sich nicht in deiner Welt. Der große Baum und die wehenden Blätter stammen aus meiner Welt." - "Aber es sieht alles so flach aus?", wundert sich das kleine Wesen, das gelernt hat zwischen seiner Welt auf Papier und der Welt des Zeichners mit seinen Ecken, Kanten und Rundungen, mit Vordergrund und Horizont zu unterscheiden. Der Zeichner erklärt: "Der Baum in der Welt da draußen sieht ein bißchen flach aus wie auf Papier gemalt, weil du die Dinge durch eine Glasscheibe betrachtest. Du hast einen sehr guten Blick. Uns Menschen fällt das kaum mehr auf, daß die Dinge, die wir durch eine Scheibe wahrnehmen, flach erscheinen und gar nicht mehr räumlich sind. Wir sind es gewohnt, alles in einen Raum zu stellen, daß wir uns die Tiefen dieses Raumes gleich mit dazu denken."

Gebannt blickt das kleine Wesen den herabfallenden Blättern nach. "Ich könnte mich auf ein Blatt setzen und damit zu Boden segeln!", überlegt das kleine Wesen, "das wär bestimmt spaßig." - "Und wenn du in einer Pfütze landest?", fragt Raimund, der Zeichner. "Dann segelt das Blatt mit mir eben auf dem Wasser weiter." - "Aber wenn ein großer Hund kommt und nach dir schnappt?" - "Dann halte ich mich schnell an seinem Fell fest, klettere auf seinen Rücken und laufe mit ihm zu dir nach Hause." - "Aber wenn ein Hundefänger kommt und den Hund mitsamt seiner kleinen Fracht einfängt und in ein vergittertes Auto sperrt?" Da weiß das kleine Wesen nicht sofort einen Rat. Dann aber fällt ihm doch noch etwas ein. "Ich habe ja dich", sagt es, "du wirst mir schon helfen, denn du kannst alles zeichnen, was du willst." - "Das ist ein lobendes Argument, danke sehr", sagt der Zeichner, "aber wir wollen dich lieber erst gar nicht in Gefahr bringen." Darum nimmt der Zeichner seinen Block vom Fenster fort und legt ihn zurück auf den Arbeitstisch.

"Ich denke, du bekommst einen eigenen Baum", schlägt der Zeichner vor und beginnt mit der Feder den Stamm abzubilden. Anschließend sind die Äste und Zweige dran und zum Schluß die Blätter. Ausnahmsweise nimmt er etwas gelbe und rote Tusche und schraffiert die Blätter bunt." Das kleine Wesen mag seine neue Aussicht und macht sich sogleich bereit für einen langen Spaziergang, nach dem es sicher sehr gut schlafen kann.

1. Oktober 2008

Gute Nacht