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GUTE-NACHT/3046: Fliege pro Kilometer (SB)


Gute Nacht Geschichten


Während Vati startet, schaue ich aus dem Fenster der hinteren Wagentür. Da sitzt eine Fliege mitten auf der Glasscheibe und fliegt nicht fort. Ich kann durch die Scheibe die Unterseite der Fliege sehen. Wie sie sich mit ihren sechs Beinen festhält.

Vati wird schneller. "Na, gleich wird die Fliege weggeweht?", denke ich. Doch nichts tut sich. Bei 30 Stundenkilometer sitzt die Fliege noch genauso ruhig wie beim Anfahren. Sie scheint sogar noch immer an der Glasscheibe zu saugen, als wenn es da eine leckere Speise gäbe.

"Nun laß schon los und flieg deiner Wege!", flüstere ich der Fliege zu. Doch durch die Scheibe kann sie mich wohl nicht hören. Ich schaue nach vorn auf den Tacho. Schon wieder ist Vati zehn Stundenkilometer schneller geworden und jetzt noch weitere zehn Kilometer. Somit steht der Tacho schon bei 50. Aber noch immer sitzt die Fliege auf der äußeren Scheibenseite. Sie setzt sich sogar um und löst dazu ihre Beine, eins nach dem anderen, als ob sie auf einem gläsernen Wohnzimmertisch spazieren geht.

"Bis zu welcher Schnelligkeit des Autos sich die Fliege wohl festhalten kann?", frage ich mich und wünsche, daß Vati das Tempo weiter erhöht. Wirklich, er legt noch 10 Kilometer zu. Jetzt beginnen die Flügel der Fliege zu zittern. "Wie dumm von mir, mir zu wünschen, daß Vati schneller fahren soll", denke ich und schäme mich für meinen vorherigen Gedanken.

Nun kann ich es nicht lassen, Vati von meiner Entdeckung zu erzählen: "Schau mal, Vati, eine Fliege." Vati dreht sich kurz nach hinten um und blickt dann sofort wieder auf die Straße vor sich. Nun frage ich Vati, wie schnell er wohl fahren kann, bis die Fliege wegfliegt oder weggeweht wird? Vati weiß es nicht. Aber sein wissenschaftliches Interesse ist geweckt. Mein Vater, der niemals mehr wie 70 Stundenkilometer mit seinem alten Auto fährt, dreht plötzlich auf. Der Zeiger der Kilometeranzeige steigt von 60 auf 70 und schließlich auf 80 Stundenkilometer. Noch immer kann sich die Fliege festhalten.

"Wie schön wäre es, wenn die Fliege wieder mit uns nach Hause führe. Sie ist doch jetzt schon fast ein Familienmitglied", denke ich und weiß doch, daß sie bald dem Fahrtwind nicht mehr standhalten wird. Ob sie sich quält? Noch immer steigert Vati das Tempo. Und dann bei knapp 90 Stundenkilometer läßt die Fliege los, überschlägt sich und ist auf und davon. Tief in meinem Inneren kämpfe ich um das Wissen, ob sie sich freiwillig verabschiedet hat oder ob es der Wind war, der sie fortriß.

"Sie wird sicher keine Lust mehr gehabt haben, mit uns zu reisen!", beruhige ich mich. Aber insgeheim weiß ich doch, ich hätte meinen Vater nicht auf den Wettkampf mit einer Fliege schicken sollen.

7. Oktober 2009

Gute Nacht