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GUTE-NACHT/3131: Benjamina, die Leseratte (SB)


Gute Nacht Geschichten

Im Keller der alten Bücherei, da wo die Kinderbücher stehen, die Besucher die Zeitungen lesen und wo die Ausleihen zum Thema Sprachen untergebracht sind, dort unten wohnt Benjamina, die Leseratte. In der Zeit, während die Bücherei geöffnet ist, bleibt sie in ihrem Versteck. Wenn aber alle Besucher und auch das Personal gegangen sind, kommt sie hervor. Zuerst sucht sie die Papierkörbe und besonders den Mülleimer in der Kaffeeküche, die ebenfalls hier unten im Keller untergebracht ist, ab und hofft, etwas Gutes zu fressen zu finden.

Nicht jeden Abend ist ihre Aktion erfolgreich. Aber das macht ihr nichts aus. Mal einen Tag in der Woche fasten, bereitet dieser Ratte nicht gleich schlechte Laune. Denn Benjamina liebt neben leckeren Speisen besonders die geistigen Genüsse. Einst lebte sie bei einem älteren sehr belesenen Ehepaar. Diese liebten es, in ihrem Lehnstuhl zu sitzen und in andere Welten zu wandern, ohne sich dabei fortzubewegen. Oft lasen sie sich gegenseitig Geschichten laut vor. Sie merkten nicht, daß sich noch ein weiterer Mithörer zu ihnen gesellte. Das war Benjamina, die Ratte. Zu diesem Zeitpunkt allerdings hieß sie noch nicht so.

Eines Abends, als die Geschichte mal wieder besonders spannend war, die beiden Leutchen leider besonders leise vorlasen, wagte sich die Ratte ein bißchen zu weit vor, so daß sie entdeckt wurde. Aber anstatt aufzukreischen oder gar irgendeinen Gegenstand nach ihr zu werfen, waren die beiden älteren Leute zuerst verwundert, dann erfreut über diesen seltsamen Besucher, der einfach so dasaß und sich die Geschichten mit anhörte.

Der Mann und die Frau lockten nun die Ratte mit Keksen näher heran. Dann taten sie, als beachteten sie die Ratte nicht mehr, und lasen sich weiter vor. Die Ratte brauchte nicht vor diesen Menschen zu flüchten, sondern konnte es sich ganz entspannt gemütlich machen. So geschah es von da an jeden Abend. Zuerst lasen die beiden Alten ein bißchen. Dann, wenn sich die Ratte zeigte, gab es Futter und danach wurde weiter vorgelesen.

Das Ehepaar hatte keine Kinder. Darum waren sie wohl besonders erfreut über ihren neuen Mitbewohner, der sich bald auch am Tage zeigte. Allerdings immer nur in der kleinen Leseecke, die das Ehepaar ihre Bücherei nannte. "Ob sie versteht, was wir reden und vorlesen?", fragte eines Tages die Frau ihren Mann. Der Mann hatte sich auch schon solche Gedanken gemacht, hatte sich aber nicht getraut, sie laut auszusprechen. "Ich dachte, du würdest mich deswegen auslachen!", sagte er zu seiner Frau. "Ich glaube, sie kann uns wirklich verstehen. Wie können wir das nur herausfinden?", fragte die Frau. "Vielleicht wenn wir ihr einen Namen geben und sie rufen?", schlug der Mann vor.

Das fand seine Frau eine prächtige Idee. "Aber wie wollen wir die Ratte nennen. Wir wissen ja nicht einmal, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist!", stellte die Frau fest. "Nun, ich bin für Benjamin", schlug der Mann vor. "Benjamin ist ein schöner Name. Der kommt sogar in der Bibel, was ja das älteste Buch der Welt sein soll vor", entgegnete die Frau. "Nun, ich weiß nicht, ob es das älteste Buch der Welt ist. Der Name ist jedoch schon sehr alt. Aber ich habe ihn ausgewählt, weil ich ihn mag", erklärte der Mann. Da sagte die Frau plötzlich: "Wenn es aber ein Mädchen ist, dann müssen wir sie Benjamina rufen?" - "Warum nicht", bestärkte der Mann die Namenswahl. Von da an wurde die Ratte mal Benjamin und mal Benjamina gerufen. Auf beide Namen hörte sie, spitzte die Ohren und kam sogar manchmal näher heran.

Nun folgte eine schöne Zeit. Der Mann baute der Ratte ein richtiges kleines Haus und niemals versperrte er ihre Tür. Benjamin der Benjamina bekam Futter und Wasser und am Abend Geschichten vorgelesen. In dieser Zeit lasen der Mann und die Frau sich häufig Kindergeschichten vor. Sie fanden, daß dies für die Ratte doch wohl viel einfacher zu verstehen sei. Eine Zeitlang lasen sie sogar aus einem Buch vor, das nur aus Worten von A bis Z bestand. Dabei spitzte die Ratte besonders ihre Ohren. Sie kam sogar herbei gelaufen wie sie das inzwischen häufig unternahm und kuschelte sich auf den Schoß immer desjenigen, der gerade das Buch hielt. Mit seinem Finger fuhr der Mann die Worte entlang und sprach sie laut aus. So lernte die Ratte zu lesen. Von nun an vergaß sie manchmal sogar zu fressen, wenn nur vorgelesen wurde.

Viele Bücher wurden in der Bücherei vor Ort ausgeliehen. Einmal durfte die Ratte sogar mitkommen. Allerdings ganz heimlich. Denn sie sollte die heiligen Hallen einer Bücherei kennenlernen. Dabei wurde die Ratte in ihrem Korb allerdings entdeckt. Da der Mann erzählte, die Ratte sei eine besondere Ratte, die Bücher und Geschichten liebe, lachten alle nur über diesen Spaß und der Ärger blieb aus. Von da an durfte der Mann die Ratte sogar häufiger mitbringen.

Dann kam ein trauriger Tag, der alles verändern sollte. Das Ehepaar war schon sehr alt und so geschah es, daß die Frau starb. Der Mann war darüber so traurig, daß auch er immer schwächer wurde. Andere Menschen entschieden, daß er besser in einem Heim aufgehoben sein würde als allein in seiner Wohnung zu hocken. In dem Heim aber durften die Menschen keine Tiere halten und schon gar keine Ratte.

So ging der Mann schweren Herzens in die Bücherei und übergab der Büchereivorsteherin die Leseratte. "Benjamina fühlt sich nur wohl, wenn sie von Büchern umgeben ist und manchmal etwas vorgelesen bekommt." Dann verabschiedete sich der Mann von seinem über alles geliebten Tier.

Die Büchereivorsteherin fand den Gedanken, in der Bücherei eine Ratte zu halten zuerst abwegig. Dann aber dachte sie an die kleinsten Lesekunden, die Kinder. Sie besorgte sich einen geeigneten Käfig für die Ratte und stellte diesen im Keller bei den Kinderbüchern auf. Einige Zeit ging das gut. Die Kinder freuten sich auch jedesmal auf ihre Vorlesestunden, weil dann auch die Ratte so aussah, als ob sie den Geschichten lausche.

Dann kam wieder ein Tag der Entscheidung und Enttäuschung. Die Büchereivorsteherin wurde in Pension, also in Rente, geschickt. Sie wäre lieber noch bei ihren Büchern geblieben, die sie die ganzen Jahre wie eigene Kinder behandelt hatte. Doch das wurde ihr nicht gestattet. Von nun an herrschte ein anderer Ton. Ein Mann übernahm den Posten der Büchereivorsteherin. Seine erste Entscheidung war, den Rattenkäfig mitsamt der Ratte hinauswerfen zu lassen. Eine seiner Büchereihilfen bot sich an, dafür Sorge zu tragen.

Ein Kind hatte mit angehört, was geplant war. Er wollte aber nicht, daß die Ratte die Bücherei verlassen würde. Deshalb öffnete der Junge die Käfigtür und ließ die Ratte hinaus. Dann verschwand er schnell mit seinen Büchern, um keinen Ärger zu bekommen. Auch die Büchereihilfe wollte keinen Ärger. Als sie sah, daß die Käfigtür offen stand, tat sie so, als schliefe die Ratte in ihrem Häuschen und brachte den Käfig schnell außer Reichweite, damit nicht irgendeiner noch auf den Gedanken käme, sich von Benjamina zu verabschieden.

So kam es also, daß die Ratte Benjamina sich hier in der Bücherei versteckt hält.


4. Februar 2010

Gute Nacht