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GUTE-NACHT/3432: Knopf und Knöpfchen lauschen dem roten Schwan (SB)




K N O P F   &   K N Ö P F C H E N

lauschen dem roten Schwan


Etwas Aufmunterndes für Knopf, danach hatte Knöpfchen gesucht, und er schien es gefunden zu haben. Ganz aufgeregt rollte Knöpfchen in der Knopfkiste herum. Von Knopf zu Knopf ging er und lud jeden einzelnen ein, beim großen "Geschichten-Knöpfen" dabei zu sein. Jeder Knopf würde seine eigene Geschichte erzählen können. Es sollte etwas Leben in die Bude also in die Kiste kommen. Außerdem wünschte sich Knöpfchen, daß sein Freund Knopf dadurch auf andere Gedanken käme. Schien Knopf doch in den letzten Tagen immer so traurig und sehr nachdenklich. Jetzt sollte er nicht mehr grübeln, sondern in die große Welt der Knopfgeschichten eintauchen.

Alle Knöpfe, die Lust hatten ihre Geschichte vorzutragen oder diejenigen, die ab sofort nicht nur ihre eigene im "Knopf" haben wollten, versammelten sich in der Mitte der Kiste. Denn dort saß auch Knöpfchens großer Freund. Knopf war nicht eingeladen worden, er sollte einfach in die Geschichten mit hineingezogen werden. Auf seiner Einladungstour hatte Knöpfchen die anderen gefragt, wer denn mit seiner Geschichte beginnen wolle. Der rote Schwan hatte gleich zugesagt. Es war ihm nicht leicht anzusehen, daß er ein Knopf war. Das kleine Loch zum Durchziehen des Fadens war genau an seiner Rückseite. Schwäne sind ja eigentlich von weißer Farbe. Warum dieser hier rot war, hatte er bisher noch keinem anvertraut. Doch jetzt wollte er das Geheimnis um sein farbiges Gefieder preisgeben.


*


Hört zu, hört alle gut zu. Ich werde euch jetzt meine Geschichte erzählen. Sie stammt aus der Zeit, als ich noch weiß und jung war. An einem schönen, weißen Hemd war ich angenäht. Es war ein Kinderhemd, dessen beide Kragenhälften ich verband. Das kleine Mädchen, das dieses Nachthemd trug, lag in einem großen Saal mit anderen Kindern. Irgendetwas fehlte dem kleinen Ding. Deshalb war es hier in das Krankenhaus eingeliefert worden. Es war ein großer Saal, in dem das Mädchen lag. Sechs Betten standen darin, in denen ebenfalls Kinder lagen. Die Betten standen so weit auseinander, da mußten die Kinder sehr laut werden, um miteinander sprechen zu können. Wenn einer etwas sagte, hallte es nur so durch den Raum, denn die Krankenzimmer waren äußerst spärlich möbeliert und sehr hoch. Außer den sechs Betten und den sechs Nachtschränkchen stand nichts darin. Auch die Wände waren kahl. Nur ein Kreuz hing neben der Tür. Die Kinder, die keine Schmerzen hatten, tobten in ihren Betten herum. Auch mein kleines Mädchen schlug Purzelbäume auf dem Bett. Eine große Krankenschwester im weißen Kittel war schon einige Male hereingekommen und hatte zur Ruhe gemahnt. Sie kam nicht nur wegen der tobenden Kinder. Sie kam auch wegen eines ganz besonderen Falles.

Um eines der sechs Betten war ein hohes Gitter gezogen. Es war bestimmt zwei Meter hoch und sah aus wie ein Käfig. In diesem Käfig saß ein kleiner Junge. Er mochte vier oder fünf Jahre alt sein. Er war traurig. Keiner war da, der mit ihm spielte, auch die Kinder im Saal sahen über ihn hinweg. Er war eingesperrt, eingesperrt in diesen Gitterkäfig, wie ein Affe im Zoo. Der kleine Junge weinte, weinte immer heftiger und lauter. Das Schimpfen der Schwester konnte nichts daran ändern. War sie gegangen, fing er gleich wieder an zu weinen, zu schluchzen, zu schreien. Er schrie so jämmerlich, daß es die anderen Kinder nicht aushalten konnten. Mir ging es auch durch und durch. Aber ich konnte nichts machen, ich war ja nur ein Knopf, ein weißer Schwan an dem weißen Nachthemd des kleinen Mädchens.

Normalerweise war das kleine Mädchen recht lieb, vertrug sich auch mit den anderen Kindern. Doch jetzt, ich war erstaunt, das kleine Mädchen ärgerte sich. Es mochte die Schreie des kleinen Jungen nicht mehr hören. "Er soll aufhören zu schreien, ich kann es nicht mehr haben." Das Mädchen zog sich die Bettdecke über den Kopf. Doch noch immer hörte es die Schreie des Jungen. "Hör auf zu schreien!", rief es dem Jungen hinüber. Doch er weinte immer noch. Langsam hielt es mein kleines Mädchen nicht mehr aus. Es mußte etwas geschehen. So hatte ich die Kleine noch nie erlebt. Sie stieg aus ihrem Bett, zog ihre Schlappen an und ging zielstrebig durch den großen Saal auf das Gitterbett zu, und ich am Nachthemd kam mit. Immer näher kam das Gitterbett. Der kleine Junge hatte uns bemerkt. Es wurde still im Saal. Die Augen des Kleinen begannen zu leuchten. Jetzt waren wir angekommen. Ganz dicht standen wir vor dem vergitterten Bett. Der Junge war noch immer still. Ob er seine kleinen Finger zur Begrüßung durch die Gitterstäbe schob oder ob er sagen wollte, danke, daß du gekommen bist oder einfach spielen wollte, das werde ich nie erfahren.

Es ging alles blitzschnell. Das Schreien des Jungen war abgestellt, doch der Ärger und die Wut des kleinen Mädchens durchfluteten sie noch immer. Sie sah den winzigen Finger, nahm ihn und biß hinein. Ihr könnt euch vorstellen, was nun geschah. Der kleine Junge schrie lauter als zuvor, Tränen rannen ihm die Wangen hinunter. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich schämte mich so sehr, daß ich rot anlief. Und ich wünschte mir, daß ich immer so rot bliebe, wenn nur der kleine Junge nicht so enttäuscht sei, wenn das seinen Schmerz, seine Einsamkeit lindern würde.

Es war klar, daß jetzt wieder eine der Schwestern hereinkam. Sie fragte, was passiert sei, und das kleine Mädchen antwortete: "Er hat die ganze Zeit so geschrien, da habe ich ihn in den Finger gebissen." Die Schwester war entsetzt und schimpfte mein Mädchen aus, das sich sogleich unter ihre Bettdecke verzog.


*


In der Kiste war es still, keiner der Knöpfe wollte etwas zu dieser traurigen Geschichte sagen. Deshalb ergriff der rote Schwan noch einmal das Wort: "Ihr seht, ich bin noch immer rot. Das war auch der Grund, warum ich vom Nachthemd abgeschnitten wurde. Keiner konnte sich erklären, warum ich plötzlich rot geworden war. Ein roter Schwan, das gibt es ja nicht. Deshalb entfernte mich die Mutter des Mädchens und wollte mich sogar in die Abfalltonne werfen. Aber das kleine Mädchen bat ihre Mutter, mich doch aufzuheben, eines Tages würde ich vielleicht wieder weiß werden.

Seid nicht mehr traurig. Seht doch, ich bin ja noch immer rot. Dann wird mein Wunsch in Erfüllung gegangen sein, daß der kleine Junge seinen großen Schmerz und seine Einsamkeit überwunden hat."

Und nach einer kleinen Weile fügte der rote Schwan seinen letzten Worten noch etwas hinzu: "Es ist gut, mein Geheimnis mit euch zu teilen."

Gute Nacht

Knopf und Knöpfchen - Buntstiftzeichnung: © 2011 by Schattenblick

zum 19. Juli 2011