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KALENDERGESCHICHTEN/073: 01-2017   Der kleine Dschinn - Heimweh (SB)


Ein garstiges und ein schüchternes Eichhörnchen hocken auf einem scheebedecktem Ast - Buntstiftzeichnung © 2016 by Schattenblick

Es war einmal vor langer, langer Zeit ein kleiner Dschinn. Nun ja, klein war er schon, aber trotzdem schon viele hundert Jahre alt oder jung, wenn man es aus der Sicht der Dschinn betrachtet. Sie können nämlich ururalt werden - soweit kann kein Mensch zählen. Im Allgemeinen waren alle Dschinn sehr genügsam, so genügsam und bescheiden, dass sie nicht einmal Wert darauf legten, als einzelnes, besonderes Wesen in Erscheinung zu treten, obwohl sie das könnten. Sie hatten stets die freie Wahl, konnten wirklich jede Form oder Gestalt annehmen, gleich ob Mensch, Wildschwein oder Lampe. Aber wozu? Sie fühlten sich wohl in ihrer kalten, dunklen, schimmeligen, zugigen und modrigen Heimstatt. Kein Mensch hätte sich freiwillig an so einen Ort begeben, geschweige denn, dass er sich dort hätte wohl fühlen können. Die meisten der ganz Steinalten kannten sich in der Menschenwelt genauso gut aus wie unter den Tieren und Pflanzen. Alle hatten sie dort ihre Erfahrungen gemacht und ihr Wissen immer getreulich weitergegeben. Das und noch ein weiterer Grund, über den nicht gern gesprochen wurde, führte dazu, dass kaum noch einer für einen Ausflug in diese für Dschinn merkwürdigen, oft sogar gefährlichen Welten, zu begeistern war.

Nun trug es sich aber zu, dass unter ihnen dieser eben genannte Kleine völlig aus der Art geschlagen war. Das brachte Unruhe in das sonst so unauffällige, ruhige Dasein. Ständig sonderte er sich ab, nahm diese oder jene Gestalt an und erfreute sich an seiner eigenen Wandlungsfähigkeit. Er jauchzte vor Vergnügen, wenn er als Kochtopf herum hüpfte oder als Gans hinauf flog und als Löwe landete. Nie hatte er Lust, den Alten zuzuhören und wollte nichts wissen von ihren Abenteuern und den möglichen Fallen und Gefahren, die einem in den verschiedenen Welten schwer zu schaffen machen konnten. Ja, selbst die Dschinn sind nicht unverletzlich. Das heißt eigentlich schon, aber sobald sie in eine Gestalt wechseln und es nicht schaffen, sich rechtzeitig zurückzuverwandeln ..., tja, das hat schon manches mal zum Ende eines Dschinndaseins geführt. Von alledem aber wusste der Kleine nichts.

Irgendwann beschloss er in die Welt hinaus zu ziehen, um sein Können zu erproben. Die Behausung, die er sein Heim nannte, befand sich auf einem Friedhof. Hinter einem riesigen Grabstein unter einem alten Eichenbaum führte ein langer Gang entlang, dessen Erdwände von Wurzelwerk durchzogen, einen lebendigen Eindruck erweckten. Dort hindurch wuselte der kleine Dschinn als Maulwurf bis er oben anlangte und ihn die ersten Sonnenstrahlen kitzelten. Er blinzelte mit seinen kleinen Maulwurfsaugen und überlegte, in welcher Gestalt er am besten diese Welt erkunden konnte. Neugierig blickte er sich um. Die Grabsteine, die Bäume und Büsche, die Häuser und die Kirche mit dem hohen Kirchturm, alles war mit einer weißen, dicken Schneedecke bedeckt. Da erblickte er ein Eichhörnchen, das oben im Baum munter an einer Nuss knabberte. Nur wenig später hockte er neben ihm. Das erschrockene Eichhörnchen starrte seinen neuen, so plötzlich aufgetauchten Artgenossen, an und pöbelte sogleich in sehr unfeinem Eichenhörnchendialekt: "Sach ma, wat willscht denn hier, bischt blöd oder was?"

Der kleine Dschinn, unerfahren und unwissend wie er war, wusste nicht, ob er auch Eichhörnisch sprach, ob das so automatisch bei der Verwandlung dazugehörte. Erst sagte er gar nichts, weil er noch überlegen musste. Das andere Eichhörnchen brummte: "Bischt taub, wa?" Wenn er die Sprache verstehen konnte, vielleicht klappte es dann ja auch mit dem Reden. Also antwortete er vorsichtig: "Bitte um Entschuldigung, falls ich Sie erschrocken habe!" - "Pah, bischt wohl 'n ganz Vornehmer einer, was, so 'n edler Nussdieb, pah, verzieh' dich!"

"Oh, verzeih, aber stehlen wollte ich bestimmt nichts", brachte der kleine Dschinn so freundlich wir möglich hervor. "Ja, ja, du kannscht viel quatschen, dein Magen, der brüllt doch vor Hunger und du willscht mir weismachen, dass du nichts klauen willscht?" Das Eichörnchen war wirklich sehr unhöflich und übellaunig. Aber es hatte recht, stellte er fest. Seine Eichhörnchengestalt war ganz begierig auf Nüsse oder Körner - irgendetwas, Hauptsache er konnte essen und satt werden. Aber wie und wo fand man jetzt Nüsse? Der kleine Dschinn versuchte sein Glück: "Würden Sie mir bitte eine oder vielleicht auch drei Nüsse spendieren, ich habe furchtbaren Hunger?" - "Oh nein, haschte eben 'bitte' g'sagt? Verflucht, da kann ich nich nee sagen. Na, denn komm ma mit!", forderte das unverschämte Eichhörnchen ihn genervt auf, drehte sich um und kletterte in unglaublicher Geschwindigkeit den steilen Baumstamm hinauf, sprang in großer Höhe hinüber auf einen dünnen Tannenzweig und weiter auf eine Buche, dort eilte es kopfüber den Stamm hinunter. Was blieb ihm da anderes übrig.

Er vertraute auf seine neue Eichhörnchengestalt und folgte seinem Artgenossen - zu seiner Verwunderung genau so schnell und leichtfüßig. Der Schnee stob zu allen Seiten wie feiner Puderzucker hinab. Unten wartete das grantige Eichhörnchen und drei Nüsse lagen vor ihm. "Da, kannschte haben! Und nu lass' mich in Ruh", maulte es und wollte gerade kehrt machen, als ein lautes Knacken im Geäst dafür sorgte, dass es erstarrte - vor Angst! "Hilfe, Hilfe, wohin nur", schrie es laut und drehte sich im verzweifelt im Kreis. Ein riesiger Vogel mit einem kräftigen, gebogenen Schnabel und gewaltigen Krallen setzte gerade zum Sturzflug an, um seine Beute zu schlagen. Oh je, was nun, er wusste nicht, was er so schnell tun sollte. Eine Verwandlung braucht Zeit, das geht nicht in Sekundenschnelle. Also packte er das angsterfüllte Eichhörnchen am Ohr, zog es mit sich, bis dieses endlich begriff, das dies seine Rettung war. Nun folgte es dem kleinen Dschinn, der schnurstracks hinter den großen Grabstein an der alten Eiche verschwand. Der große Vogel ging leer aus. Sein Abendbrot war verschwunden. Erleichtert verschnauften die beiden und das vor Schrecken immer noch zitternde Eichhörnchen bedankte sich: "Mann, das haschte toll g'macht." Ihm kam sogar ein aufrichtiges "Danke" über die Lippen. Aber dann war es auch schon verschwunden.

Der kleine Dschinn wunderte sich und eigentlich hatte er jetzt genug vom Verwandeln. Er würde es sicher noch einmal ausprobieren - irgendwann. Jetzt aber wollte er nur zurück zu den anderen, an den Ort, an den er gehörte. Er drehte sich zum Eingang um und tat die ersten Rückverwandlungssprüche, um hineingehen zu können. Es funktionierte prächtig und er war sehr stolz und sehr zufrieden mit sich. Doch was dann geschah, konnte er kaum fassen. Der Eingang blieb verschlossen. Was hatte er falsch gemacht? Wieso verwehrte man ihm den Einlass? Völlig verwirrt hockte er sich hin, er verstand gar nichts mehr.

Hätte er nur einmal aufgepasst, wenn die Alten über ihre Abenteuer in anderen Welten berichteten, dann hätte er gewusst, dass er nur dann wieder zurückkehren konnte, wenn er, in welcher Gestalt auch immer, jemanden traf, der ihn von ganzem Herzen lieb hatte - und zwar auch dann noch, nachdem er ihm offenbart hatte, dass er eigentlich ein Dschinn war. Und hätte er wirklich ganz genau hingehört, dann wüsste er auch, dass dies in all den vielen vergangenen Jahrhunderten nur sehr selten geschehen war ...

Weitere Abenteuer des kleinen Dschinn folgen.


zum 1. Januar 2017


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