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TIERGESCHICHTEN/005: Ein "Großfuß" am Goldfischteich (SB)



Ein "Großfuß" am Goldfischteich


Es war an einem Januarmorgen. Ich blickte aus dem Fenster und sah, daß über Nacht die Landschaft mit einer weiße Decke zugedeckt worden war. Bei diesem Anblick überfiel mich sofort große Lust, in den Garten zu gehen und dem Treiben der Tiere zuzusehen.

Im frisch gefallenen Schnee konnte ich überall Spuren erkennen, die die Amseln, Drosseln, Sperlinge und auch eine Katze hinterlassen hatten. Doch als ich zum Teich ganz hinten im Garten gegangen war, glaubte ich im ersten Moment, meinen Augen nicht trauen zu können. Im Gegensatz zu all den vertrauten Abdrücken kleiner Füße gaben mir die Spuren, die ich nun rund um den Teich entdeckte, echte Rätsel auf. Es muß ein riesiger Vogel gewesen sein. Seine drei kräftigen, weit auseinander gespreizten, langen Zehen zeichneten sich deutlich im Schnee ab. Über die Absicht, mit der das Tier hier gewesen war, bestand für mich kein Zweifel. Es hatte es auf die Goldfische abgesehen und dabei sicherlich ein leichtes Spiel gehabt, denn die Sauerstoffanlage hielt die Wasseroberfläche auch bei Minustemperaturen zum größten Teil eisfrei.

Wer immer dieser Großfuß war, das Leben der noch im Teich verbliebenen Fische sollte vor dem gefiederten Fänger geschützt werden. Aus diesem Grund wurde nun über die gesamte Wasseroberfläche ein großes, feinmaschiges Netz gespannt.

Am Nachmittag desselben Tages erzählte ich einigen Freunden von meiner Entdeckung. Eine Freundin vermutete, daß "Großfuß" ein Graureiher gewesen sein könnte. Sie erzählte mir, daß diese Vögel bekannt dafür seien, bei ihren ausgedehnten Tagesflügen in Gärten zu landen, um dort Fische aus den Teichen zu erbeuten. Dabei würden sie mit ihren langen stelzenartigen Beinen am Ufer oder im Wasser stehen und geduldig warten, bis sich Fische zeigten. Ein mögliches Opfer gesichtet, würden sie dann unverzögert mit ihrem sehr langen Hals nach vorn schnellen und eilig das Tier mit ihrem spitzen Schnabel harpunieren. Allerdings, so wunderte sich meine Freundin, sei es ungewöhnlich, daß der Reiher - sofern es einer war - nicht wie seine Artgenossen im Herbst in eines der süd- oder südwestlich gelegenen Mittelmeerländer oder nach Nordafrika gezogen sei, sondern hiergeblieben war.

Zwei Tage später dann sah ich Großfuß. Tatsächlich, es war ein Graureiher. Da stand er nun, nicht weit von mir entfernt in der Nähe des Teiches. Sicherlich war er zurückgekommen, weil er großen Hunger hatte. Denn die Wasserflächen in der Umgebung waren größtenteils vereist und der Boden dicht mit Schnee bedeckt, so daß er kaum Nahrung finden konnte. Dieser fast storchengroße Vogel sah wirklich prächtig und wunderschön aus. Kein Wunder, daß der Reiher ein beliebtes Motiv in der chinesischen Malerei ist. Ich konnte seine graue Oberseite, die schwarzen breiten Streifen von den Augen bis in die herabhängenden Schmuckfedern, seinen weißen Kopf und Hals sowie den langen spitzen Schnabel jetzt gut erkennen.

Als ich noch etwas näher an ihn heranging, trat ich versehentlich auf ein kleines Stöckchen, das mit einem lauten Knack unter meiner Schuhsohle zerbrach. Der Reiher war auf mich aufmerksam geworden. Er nahm einen kurzen Anlauf und flog mit langsamen Flügelschlägen empor. Es sah beeindruckend aus, wie ihn seine riesigen, fast einen halben Meter langen Flügel in die Höhe trugen.

In diesem Augenblick tat er mir ein wenig leid. Jetzt im Winter muß das Überleben für ihn sehr schwierig sein. Wo flog er bloß hin? Mit Erleichterung dachte ich an den Wetterbericht für die kommenden Tage: Es sollte wieder etwas wärmer werden.

Drei Tage später war der Schnee dann auch tatsächlich geschmolzen. Der Graureiher würde wieder auf Mäusejagd gehen können. Denn, wie ich gelesen habe, ist der Vogel nicht nur an fischreichen Gewässern anzutreffen, sondern ebenso häufig begibt er sich zur Mäusejagd auf die Wiesen und Felder. Seinen täglichen Nahrungsbedarf von rund 500 Gramm soll er außerhalb der Brutzeit zu einem erheblichen Teil durch den Fang von Wühlmäusen decken. Deshalb heißt dieser Schreitvogel inzwischen nicht mehr "Fisch- oder Graureiher", sondern nur noch "Graureiher".

Ein paar Wochen nach dieser Begegnung erzählte mir eine Freundin, daß sie ein Graureiherpärchen auf einem Feld ganz in der Nähe gesehen hätte. Vielleicht war es "Großfuß". Ich hoffe, daß er die kalten Tage gut überstanden hat. Die Netze sind inzwischen nicht mehr über den Teich gespannt - in der Hoffnung, daß der Reiher die Goldfische aus diesem Gartenteich von seiner Speisekarte gestrichen hat.

In einigen großen Privatwäldern war und ist es übrigens bis in die heutige Zeit hinein Familientradition, die Graureiher zu schützen. Unter anderem aus diesem Grund und weil inzwischen eine ganzjährige Schonzeit für ihn gilt, begegnen wir diesen wunderschönen Tieren immer noch recht häufig.

Zeichnung: Reiher - © 2010 by Schattenblick

Erstveröffentlichung am 14. Februar 2006


15. August 2010